Der philosophische Begriff des Gebrauchs

DER PHILOSOPHISCHE. BEGRIFF DES GEBRAUCHS. Mathias Schlicht von Rabenau. Platon, Kant, Wittgenstein. D. ER. P. H. ILO. S. O. P. H. IS. C. H. E BEG.
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DER PHILOSOPHISCHE BEGRIFF DES GEBRAUCHS Mathias Schlicht von Rabenau ·

Der Begriff des Gebrauchs fand in der Philosophiegeschichte vielfach Verwendung. Dieses Buch untersucht seine Bedeutung und Entwicklung und knüpft dabei Diskussionen um pragmatische Literaturkritiker führen nicht nur an ästhetische Argumente an, um und performative Ansätze der gegenwärtigen Philosophie an. Exemzu begründen, warum sie einen literarischen Text positiv oder negativ plarisch werden Philosophien KantsAspekte, und Wittgensteins bewerten. Häufig die verweisen sie aufPlatons, moralische um ihr in den Blick genommen. Platon fragte nicht nur nach der Urteil über die literarische Qualität eines Textes zu fundieren.Wahrheit Dies des Wissens, sondern auch nach Formen des Wissens, von denen zeigen unter anderem die heftigen Kontroversen um Bücher wie χρῆσις ) gemacht werde. Nach Kant unterschiedlicher Gebrauch ( Jonathan Littells »Die Wohlgesinnten« oder Maxim Billers »Esra«. hat in derBuch »allgemeinen Menschenvernunft […] ein jeder Stimme«, Dieses erarbeitet daher als Grundlagenstudie dasseine Spektrum die,moralischen wie jede Stimme, unverwechselbar individuell ist. So kann man der Kriterien, die deutschsprachige Literaturkritiker von der Vernunft, was immer sie sei, nur individuellen an literarische Texte anlegen. Dabei zeigt sich, dass MoralGebrauch und machen. Wittgenstein wiederum fand die Bedeutung eines Wortes Ästhetik in den Wertungen deutscher Kritiker oftmals in einem in dessen Gebrauch. Die Untersuchung zeigt schließlich, dass ambivalenten Verhältnis zueinander stehen: Einerseits wird indem Begriff des Gebrauchs denkbar unterschiedlichen philosophievielen Debatten der Kritikin ein Gegensatz zwischen moralischer historischen Kontexten eine vergleichbare systematische Funktion und ästhetischer Betrachtung behauptet und eine moralische zukommt, womit ihm ein philosophischer Sinn im Ganzen zugemesAuseinandersetzung mit Literatur explizit abgelehnt. Anderersen stehen werdenmoralische kann: Er und bringt die pragmatischen seits ästhetische WertungenBedingungen, von Literatur die philosophische Theorien zunächst ausblenden, um sich überhaupt in vielen Rezensionen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis, als Theorien konstituieren zu können,Qualität wieder ins Spiel. wenn beispielsweise die ästhetische eines literarischen Textes durch moralische Argumente begründet wird.

ISBN 978-3-89785-071-2

Mathias Schlicht von Rabenau

DER PHILOSOPHISCHE BEGRIFF DES GEBRAUCHS

Platon, Kant, Wittgenstein

Schlicht von Rabenau · Der philosophische Begriff des Gebrauchs

Mathias Schlicht von Rabenau

Der philosophische Begriff des Gebrauchs Platon, Kant, Wittgenstein

mentis MÜNSTER

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufriss der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 9 11 12 13

Der Begriff des Gebrauchs bei Platon . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stand der Forschung und Aufgaben der Interpretation . . . . Aufriss der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff und die Vorführung des Gebrauchs in den Dialogen Charmides und Lysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Problemaufriss und Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Der Begriff des Gebrauchs im Charmides . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Der Begriff des Gebrauchs im Lysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Theorie und Gebrauch im Charmides und Lysis . . . . . . . . . 1.2.4.1 Theoretisches Wissen im Charmides und Lysis . . . . . . . . . . 1.2.4.2 Sicherheit im untheoretischen Gebrauch im Charmides und Lysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5 Der Gebrauch der Theorie in der dialogischen Situation . . . 1.3 Platons Gebrauch der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Problemaufriss und Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Möglichkeiten und Grenzen des Gebrauchs der Schrift . . . . 1.3.3 Platons Gebrauch der Dialogform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Der Gebrauch der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Problemaufriss und Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Unthematische Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Der funktionale Sinn der Ideenannahme . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Der Gebrauch der Idee des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Zusammenführung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 17 17 26

0 0.1 0.2 0.3 0.4 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2

2 2.1 2.1.1

Der Gebrauch der Vernunft nach Kant . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 26 32 39 46 48 51 60 64 64 66 76 79 79 82 87 92 98 103 103 103

6

Inhaltsverzeichnis

2.1.2

Statistischer Textbefund: Kants Gebrauch des Begriffs des Gebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Stand der Forschung und Aufgaben der Interpretation . . . . 2.1.4 Aufriss der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Notwendigkeit der Rede vom Gebrauch der Vernunft auf dem Kampfplatz der Metaphysik . . . . . . . . . . 2.3 Der Selbstentwurf der Vernunft in ihrem entwerfenden Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Der Gebrauch der Begriffe in der Philosophie . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Unterscheidungen Sinnlichkeit-Denken und FormInhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Verstandesgebrauch als Entwurf von Ordnungen . . . . . . . . 2.3.4 Die Brauchbarkeit der Erkenntnisse des Verstandes . . . . . . 2.3.4.1 Die Widerspruchsfreiheit als formal-einschränkende Bedingung des Verstandesgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.2 Die Zweckmäßigkeit als pragmatisch-erweiternde Bedingung des Verstandesgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.3 Zwischenergebnis (Kapitel 2.3.4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Der Gebrauch der Ideen der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Der Selbstentwurf der Vernunft in ihrem selbstbezüglichen Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Selbsterhaltung der Vernunft in ihrem selbstkritischen Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Praxis des Gebrauchs der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zusammenführung der Ergebnisse (Kapitel 2) . . . . . . . . . . . 3 3.1 3.2

Der Gebrauch der Sprache nach Wittgenstein . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logik und Gebrauch der Sprache im Tractatus logicophilosophicus – Die Einheit des Gebrauchs der Sprache in der Einheit ihrer Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Der Textbefund: Wittgensteins Gebrauch des Begriffs des Gebrauchs im Tractatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Problemaufriss und Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Der Gebrauch von Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Einheit von Logik und Gebrauch der Sprache . . . . . . . . 3.2.4 Der Gebrauch als »Subjekt« der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Zwischenergebnis (Kapitel 3.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Von der Einheit der Logik der Sprache zur Vielfalt ihres Gebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Problemaufriss und Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . .

104 106 112 113 118 120 123 128 132 136 137 145 147 154 161 170 180 187 187

193 193 193 194 199 202 205 210 211 211

Inhaltsverzeichnis

3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.5 4

Logik und Gebrauch der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfalt des Gebrauchs statt logischer Einheit von Regeln der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vielfalt des Gebrauchs der Sprache und die Methode(n) der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis (Kapitel 3.3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vielfalt des Gebrauchs der Sprache – Wörter, Sprachspiele, Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemaufriss und Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . Die Vervielfältigung und Verzeitlichung der Bedeutung von Wörtern durch ihren Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gebrauch von Wörtern in Sprachspielen . . . . . . . . . . . Das Spielen des Sprachspiels in Lebensformen . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis (Kapitel 3.4.2 bis 3.4.4) . . . . . . . . . . . . . . Wittgensteins eigener Gebrauch der Sprache in den Philosophischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenführung der Ergebnisse (Kapitel 3) . . . . . . . . . . .

7

215 221 230 239 240 240 245 253 262 265 266 269

Schluss: Gebrauch als Bedingung von Theorie – drei herausragende historische Beispiele für die philosophische Bedeutsamkeit des Begriffs des Gebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

292

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandelte Platon-Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

314 318

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im März 2014 von der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald als Dissertation angenommen. Ihre leitende Fragestellung entstammt einem im Jahre 2006 gehaltenen Hauptseminar meines Doktorvaters Herrn Prof. Dr. Werner Stegmaier, dem mein erster Dank gilt. Nachdem er mich bereits während meines Studiums gefördert hat, übernahm er auch die Betreuung dieser Dissertation. Ich danke ihm für die über Jahre hinweg geleistete vielfältige Unterstützung und die gemeinsame Zeit in Greifswald. Vor allem aber danke ich ihm für die strenge philosophische Schule, die ich bei ihm durchlaufen durfte und ohne die die vorliegende Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Zu großem Dank bin ich außerdem Frau PD Dr. Ekaterina Poljakova verpflichtet, die die Arbeit in ebenso kritischen wie außerordentlich förderlichen Diskussionen begleitet und schließlich ihre Zweitbegutachtung übernommen hat. Für wertvolle Anregungen und Korrekturvorschläge danke ich auch Herrn Dr. Enrico Müller, Frau Weronika Morawiec und Frau Elisa Neuschulz. Ich danke den Kommilitonen in unserem Greifswalder DoktorandenKolloquium für ihre Bereitschaft, viele Teile meiner Arbeit in freundschaftlicher Atmosphäre mit mir zu diskutieren. Mein Dank gilt außerdem Herrn PD Dr. Hartwig Frank, der mein Promotionsprojekt bereitwillig und wohlwollend durch Gutachten unterstützt hat. Auch ohne die erhebliche finanzielle Förderung durch mehrere Institutionen wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. So danke ich zunächst dem Land Mecklenburg-Vorpommern, welches mir für zwei Jahre ein Landesgraduiertenstipendium gewährte. Mein Dank gebührt außerdem der TrebuthStiftung für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Fach Philosophie, die mich durch unbürokratisch gewährte Kurzstipendien und mit einem Zuschuss zu den Druckkosten dieser Arbeit unterstützte. Für sein freundliches Entgegenkommen bei der Aufnahme des Buches in das Programm des mentis Verlags sei Herrn Dr. Michael Kienecker herzlich gedankt. Ganz besonders aber danke ich meiner Frau Christina und meinen Eltern Anita und Ekkehard Schlicht, die mir während der gesamten Promotionszeit mit Rat und Tat, Zuspruch und vielfältiger Unterstützung zur Seite standen.

0 Einleitung

0.1 Problemaufriss Die Frage nach der philosophischen Relevanz des Begriffs des Gebrauchs mag ungewöhnlich erscheinen. Doch schon Platon fragte nicht nur nach der Wahrheit des Wissens, sondern auch nach Formen des Wissens, von denen auf unterschiedliche Weise Gebrauch (qr®sic) gemacht werde, und seine Ideen sollten in pragmatischen Lebenszusammenhängen vor allem brauchbar sein. Auch in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik ging es weniger um die Begründung allgemeiner Handlungsnormen als um erworbene Haltungen (Èxeic), von denen in individuellen Situationen der rechte Gebrauch (qr®sic) zu machen ist. 1 Descartes gab keine abstrakte Bestimmung der Vernunft, sondern wollte dazu anleiten, »sie gesund zu gebrauchen.« 2 (Hervorh. MSvR) Nach Kant hat in der »allgemeine[n] Menschenvernunft [. . . ] ein jeder seine Stimme« (KrV, A 752 /B 780), die, wie jede Stimme, unverwechselbar individuell ist: Man kann von der Vernunft, was immer sie sei, nur individuellen Gebrauch machen. Zuvor entwickelte Leibniz in kritischer Auseinandersetzung mit der repräsentationstheoretischen Sprachauffassung Lockes eine Gebrauchskonzeption der Sprache: Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke liege nicht in »Ideen«, welche durch sie repräsentiert würden, sondern im Gebrauch, der von ihnen gemacht wird. Wir lernen Bedeutungen von Wörtern, indem wir darauf achten, »die Worte nach dem Gebrauch der anderen anzuordnen.« 3 Damit nahm Leibniz wichtige Elemente der späten Sprach-

1

2

3

Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, hg. v. Günther Bien, 4. Aufl., Hamburg 1985, 1098, b 31– 33, 1040 a 24 f., 1113 a 33, 1128 a 32, und dazu Werner Stegmaier: Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008, S. 569f. René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1978 (= Philosophische Bibliothek; Bd. 26a), S. 1 f. Vgl. Gottfried W. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, in: ders.: Philosophische Schriften, Bd. 3/2, hg. und übers. v. Wolf von Engelhardt/Hans Heinz Holz, 2. Aufl., Darmstadt 1985, S. 35. Vgl. zu Leibniz, seiner Kritik der lockeschen Repräsentationstheorie der Sprache und seiner Entwicklung einer Gebrauchskonzeption der Sprache in Abgrenzung zu Locke Smail Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. Lichtenberg und der englische Empirismus, Göttingen 1999 (= Lichtenberg-Studien; Bd. VIII), S. 248–256. Vgl. zu Rapics Auseinandersetzung mit der Gebrauchskonzeption der Sprache auch Kapitel 3.2.2, Anm. 296.

12

0 Einleitung

philosophie Wittgensteins vorweg, der die Bedeutung eines Wortes in dessen Gebrauch fand. Schon dieser kurze Überblick zeigt die vielfache und vielfältige Verwendung des Begriffs des Gebrauchs in der Philosophiegeschichte. Dennoch wurde in der philosophiehistorischen Forschung bisher kaum auf ihn geachtet. Bislang findet sich weder im Historischen Wörterbuch der Philosophie 4 noch in anderen philosophischen Wörterbüchern und Lexika ein Lemma »Gebrauch«. Auf diese Forschungslücke soll hier hingewiesen und begonnen werden, sie zu schließen. Wir knüpfen dabei an die Diskussion um pragmatische und performative Ansätze in der gegenwärtigen Philosophie an. Der Begriff des Gebrauchs bringt die pragmatischen Bedingungen, die philosophische Theorien ausblenden müssen, um sich überhaupt als Theorien konstituieren zu können, wieder ins Spiel. Heidegger, der mit Sein und Zeit bewusst hinter die Theorie zurückging, um nach ihren Bedingungen im »In-der-Welt-Sein« des »Daseins« zu fragen, prägte dazu die Unterscheidung von Vorhandenheit und Zuhandenheit und ordnete das gebrauchende »Besorgen« der »Zuhandenheit« von »Zeug« zu. So hoffte er, einen untheoretischen, »vorontologischen« Zugang zum In-der-Welt-sein des Daseins zu erschließen. 5 Doch so hilfreich diese Unterscheidung Heideggers sein mag – die fundamentalontologischen Implikationen eines Anschlusses an Heidegger sollen im Folgenden vermieden werden. Denn während Heidegger mit seinem Ansatz zuletzt auf ein allgemeines Verstehen des ›Sinns von Sein im Horizont der Zeit‹ und der Zeit aus den allgemeinen, ›existenzialen‹ Strukturen des Daseins abzielt, wird unsere Untersuchung des Gebrauchs zeigen, dass dieser gerade dort zur Geltung kommt, wo der Anspruch auf philosophische Allgemeinheit durchbrochen wird. Anders kann der Begriff des Gebrauchs von der Philosophie der Orientierung aus verstanden werden, die Werner Stegmaier 2008 vorgelegt hat. 6 Stegmaier zufolge ist schon der Begriff der Orientierung vor aller theoretischen Bestimmung im Gebrauch. Er werde laufend zur Definition anderer Begriffen herangezogen, ohne selbst definiert zu werden – und dies zu Recht: Alle Definitionen, auch eine Definition des Begriffs der Orientierung, setzt schon Orientierung voraus. So ist er ein »Letzt- und Grundbegriff«. 7 Ori4

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6 7

Joachim Ritter /Karlfried Gründer /Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel 1971–2007. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen 2001; vgl. zum Gebrauch bei Heidegger: Massimo Ulivari: Die Welt des Gebrauchs im Spannungsfeld zwischen Platon und Heidegger. Ein Beitrag zum Politischen, Marburg 2007, insbes. S. 151–276. Stegmaier: Philosophie der Orientierung. Siehe ebd., insbes. S. XVf. Auch die europäische Philosophiegeschichte wird von Stegmaier aus der Perspektive ihrer Orientierungsleistung für den Menschen betrachtet. Wichtige Quelle für

0.2 Aufriss der Untersuchung

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entierung gibt Halt im Ungewissen; sie kann nichts weiter voraussetzen als diese Ungewissheit und »Anhaltspunkte« der jeweiligen Situationen, 8 von denen sie (vortheoretischen und vorontologischen) Gebrauch macht, um zu Halt zu kommen. Dabei entstehen vielfältige Medien und Formen des SichOrientierens, die Stegmaier umfassend analysiert. Der Gebrauch, der von der Orientierung gemacht wird, erhellt den philosophischen Sinn des Begriffs des Gebrauchs überhaupt: So wie man (nach Kant) Rechts und Links unterscheiden kann, ohne sie als Rechts und Links wahrnehmen oder definieren zu können, muss man im Gebrauch von Begriffen schon orientiert sein, ohne zuvor eine Theorie des Gebrauchs zu haben oder ihrer auch nur zu bedürfen, und umgekehrt muss man von Theorien einen angemessenen Gebrauch zu machen verstehen, wenn sie in Situationen, auch in Situationen wissenschaftlicher Forschung und Erklärung, Sinn haben sollen. Auch Theorien haben Orientierungsfunktionen, sie sind sinnvoll, soweit sie in der Ungewissheit der Welt, deren An-sich wir nicht kennen können, Halt verschaffen. Dass man von Begriffen und Theorien Gebrauch machen muss, ohne von ihnen zuvor schon eine Theorie zu haben, macht den Begriff des Gebrauchs seinerseits zu einem »Letzt- und Grundbegriff«.

0.2 Aufriss der Untersuchung Untersucht wird die Bedeutung und die Entwicklung des Begriffs des Gebrauchs in der europäischen Philosophie. Dabei wird kein Anspruch auf historische Vollständigkeit erhoben. Stattdessen werden exemplarisch die Philosophien Platons, Kants und Wittgensteins in den Blick genommen. Mit ihnen sind die markantesten Einschnitte der europäischen Philosophiegeschichte berührt. Eine Einschränkung auf sie lässt eine deutliche Linie der philosophischen Prägung des Begriffs des Gebrauchs in den sich wandelnden philosophiehistorischen Kontexten sichtbar werden. In allen drei Philosophien ist der Begriff des Gebrauchs zentral und betrifft ihren systematischen Kern. Bei Leibniz und Heidegger hingegen wird er zwar entwickelt und er erfüllt auch bei ihnen die Funktion, die pragmatischen Bedingungen von Theoriebildungen anzuzeigen. Dennoch nimmt er hier eine eher untergeordnete Stellung ein. Für die Neuzeit ließe sich auch die Philosophie Descartes’ behandeln, ist der Begriff des Gebrauchs bei ihm doch wie bei Kant auf den

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Stegmaiers Orientierungsbegriff ist Kants Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren?, in der Kant im Bedürfnis der Vernunft nach Orientierung eine Bedingung ihrer Selbsterhaltung ausmacht. Zum Begriff der Situation vgl.: ebd., insbes. S. 151–158, 163, 215 f., 468, 569 f., zum Begriff des Anhaltspunkts ebd., insbes. S. 237–266.

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0 Einleitung

Verstand bzw. die Vernunft bezogen, betrifft somit den zentralen Begriff seiner Philosophie. Dennoch ist der Begriff des Gebrauchs bei Kant signifikanter, seine Verwendung zieht sich in hoher Dichte durch sein gesamtes Werk. 9 So wird die Untersuchung auf Platon (Kapitel 1), Kant (Kapitel 2) und Wittgenstein (Kapitel 3) eingehen. Im Ergebnis soll es nicht bei einer bloßen, unverbundenen Aneinanderreihung dieser Einzelanalysen bleiben, wie sie typisch für philosophische Wörterbücher wäre. Es soll vielmehr anhand der drei ausgewählten Philosophien die philosophische Bedeutung des Begriffs des Gebrauchs im Ganzen deutlich und gezeigt werden, dass er in den unterschiedlichen Kontexten eine vergleichbare systematische Funktion hat: das Verhältnis von Theorie und Praxis zueinander zu bestimmen.

0.3 Untersuchungsmethoden Unsere vorrangigen Methoden müssen entsprechend unserer Aufgabenstellung die hermeneutische und die komparative sein: Die Bedeutung des Begriffs des Gebrauchs im Werk der drei Philosophen wird einerseits ausgehend vom einzelnen Kontext seiner Verwendung, andererseits ausgehend von der jeweiligen philosophischen Gesamtkonzeption gedeutet. Ihre Interpretation und die Bedeutung des Begriffs des Gebrauchs bleiben voneinander abhängig. So bewegen wir uns stets in einem hermeneutischen Zirkel. Er ist zielführend, wenn sich durch die Einbeziehung der neuen Perspektive des Gebrauchs auch die Deutung der jeweiligen philosophischen Gesamtkonzeption erneuert. Da Kant anders als Platon und Wittgenstein den Begriff des Gebrauchs zwar überaus häufig verwendet, ihn aber nicht selbst zum Thema macht, treten wir hier verstärkt über die Interpretation der Gesamtkonzeption der kantischen Transzendentalphilosophie in den hermeneutischen Zirkel ein. Bei Platon und Wittgenstein hingegen, bei denen der Begriff des Gebrauchs selbst thematisch verhandelt wird, werden wir den Weg in den hermeneutischen Zirkel verstärkt über die Interpretation der entsprechenden Textstellen beschreiten. Die Konzeptionen Platons, Kants und Wittgensteins werden hinsichtlich der Rolle des Begriffs des Gebrauchs in ihnen aneinander gespiegelt (Kapitel 4). Diese Spiegelung muss so erfolgen, dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Verwendung des Begriffs des Gebrauchs und ihren Auswirkungen auf die Gesamtkonzeption deutlich werden.

9

Vgl. Kapitel 2.1.2.