Der kurze Sommer der Anarchie: Der Einfluss der ... AWS

Jana Hensel schwärmt vom braven Osten, in: DIE ZEIT, Nr. 51/2002, S. 36, u. vgl. KREUZER Medien GmbH (Hrsg.): Wer sind die Zonenkinder? Titelthema, in: KREUZER Spezial Buchmesse 2003, Leipzig März 2003, S. 6-. 10, u. vgl. Thieme, Manuela: Adieu Pittiplatsch, in: DAS MAGAZIN, September 2002, S. 14-18, u. vgl.
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Michael Kummer

r e m m o S e z r u k r e D e i h c r a n der A

Der Einfluss der Wende von 1989 auf die Biographien junger Ostdeutscher

Diplomica Verlag

Michael Kummer Der kurze Sommer der Anarchie: Der Einfluss der Wende von 1989 auf die Biographien junger Ostdeutscher ISBN: 978-3-8366-3975-0 Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010 Covermotiv: kallejipp / photocase.com

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Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung.................................................................................................................... 5 2. Grundsätzliches zur Erinnerung und Historie...................................................... 14 3. Erläuterungen zur angewandten Methodik .......................................................... 21 4. Hauptteil ................................................................................................................... 27 4.1 Welche Erinnerungen an das Erleben der Wendezeit existieren?........................ 27 4.1.1 Staatsnahe ..................................................................................................... 28 4.1.2 Staatsferne..................................................................................................... 35 4.1.3 Mitläufer ....................................................................................................... 45 4.1.4 Erste Erkenntnisse......................................................................................... 49 4.2 Welche Handlungsmotivationen werden aus dieser Erinnerung an die Wende abgeleitet? ............................................................................................................ 51 4.2.1 Prägungen und Bilanzen bei den Distanzierten und den Unbedarften ......... 51 4.2.2 Prägungen und Bilanzen bei den Engagierten .............................................. 52 4.2.2.1 Das Polizistenmotiv................................................................................ 53 4.2.2.2 Das Veränderbarkeitsmotiv .................................................................... 54 4.2.2.3 Das Entfremdungsmotiv ......................................................................... 55 4.3. Sichtweisen auf Demokratie und Bundesrepublik ............................................... 57 4.3.1 Die Unbedarften............................................................................................ 58 4.3.2 Die Veränderbarkeitsgläubigen .................................................................... 59 4.3.3 Die Entfremdeten.......................................................................................... 60 4.4 Wie prägte die DDR und was macht den Ostdeutschen aus? .............................. 61 4.5 Reales und potentielles gesellschaftliches Engagement ...................................... 63 4.5.1 Die Distanzierten .......................................................................................... 63 4.5.2 Die Engagierten ............................................................................................ 64 5. Vergleichende Betrachtungen................................................................................. 65 5.1 Unbrauchbare Indikatoren ................................................................................... 65 5.2 Die Relevanz der primären Sozialisationsinstanz Elternhaus.............................. 65 5.3 Eigene und psychologische Bedeutungszuschreibungen..................................... 66 5.4 Über die Identifikation zum neuen Staat ............................................................. 69 5.5 Der doppelte Loyalitätskonflikt ........................................................................... 70 5.6 Das Wirken in der Gesellschaft ........................................................................... 72

6. Standpunkte und Ausblick...................................................................................... 74 7. Anhang ...................................................................................................................... 79 7.1 Fragespiegel ......................................................................................................... 79 7.2 Interviews............................................................................................................. 81 7.3 Quellen und Literatur........................................................................................... 82 7.4 Internet ................................................................................................................. 90

1. Einleitung In vielen seit 1990 entstandenen Jugendstudien wurden abweichende gesellschaftliche wie politische Einstellungen ostdeutscher Befragter gegenüber ihren westdeutschen Altersgenossen beobachtet. Die Begründung, die hierfür meist angeführt wurde, war die für die Ostdeutschen grundlegend verschiedene Erfahrung eines Lebens in der Diktatur. Zu Beginn der 90er Jahre ging man noch davon aus, dass dieses Phänomen sich im Laufe der nächsten Jahre verflüchtigen würde, doch in nicht wenigen Positionen trat das Gegenteil ein und die Meinungsverschiedenheiten differenzierten sich im Laufe der Zeit weiter aus. 1 Wenig oder gar kein analytisches Interesse fanden dagegen die Nachwirkungen der Erlebnisse während der Umbruchphase 1989/90 auf die gesellschaftspolitischen Positionen der Befragten und damit auf die Grundlage ihres Handelns im öffentlichen Raum. Dieser Frage nachzugehen ist das Hauptanliegen der vorliegenden Studie. Fundament und damit Ausgangspunkt meiner Vorüberlegungen und der sich daran anschließenden Fragestellungen waren meine eigenen Erfahrungen und Eindrücke in der DDR während der friedlichen Revolution von 1989 (oder zumindest meine Erinnerungen daran) und deren von mir vermuteter prägender Wirkung. Diese Arbeit begab sich somit auch auf die Suche nach den eigenen Prägungen und gleichzeitig nach den historischen Ursachen für diverse gesellschaftspolitische Einstellungen von Ostdeutschen, die heute zumeist Mitte 30 sind. Auch wenn diese Studie einen starken persönlichen Antrieb hatte, so gelang es dennoch, dem Anspruch der Objektivität innerhalb einer historisch-wissenschaftlichen Arbeit gerecht zu werden. Was ich darunter verstehe, führe ich näher im Kapitel Erinnerung und Historie aus. Um den Stimulus meines Forschens nachvollziehen zu können, will ich zunächst meine Erfahrungen während des Umbruchs in der DDR im Jahr 1989 kurz schildern.

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Vgl. hierzu exemplarisch Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend’92. Lebenslagen, Orientierungen und Entwicklungen im vereinigten Deutschland, 3 Bde., Opladen 1992, u. vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend’97. Zukunftsperspektiven, gesellschaftliches Engagement, politische Orientierungen, Opladen 1997, u. vgl. Deutsche Shell (Hrsg.): Jugend 2000, Opladen 2000, u. vgl. Deutsche Shell (Hrsg.): Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus, Frankfurt a.M. 2002. In einer Untersuchung mit Schuljugendlichen aus dem Jahr 1992 wurden kaum Hinweise auf gesellschaftliche Akzeptanzprobleme festgestellt, vgl. Stock, Manfred: Schüler erfahren die Wende. Schuljugendliche im gesellschaftlichen Transformationsprozess. Weinheim 1992. Dagegen wurde in einer 1994 vorgelegten Studie, bei der 70 narrative Interviews von 20-30jährigen Ostdeutschen ausgewertet wurden, eine weitverbreitete Krisenstimmung festgestellt, vgl. Wensierski von, Hans-Jürgen: Mit uns zieht die alte Zeit. Biographie und Lebenswelt junger DDR-Bürger im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1994.

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Für mich persönlich lassen sich die Tage und Wochen der sogenannten Wende 2 am ehesten als ein Politisierungsprozess bisher nicht wieder erlebten Ausmaßes benennen. In der von mir zum damaligen Zeitpunkt besuchten Schule in Erfurt, ich war 15-jährig, fand herkömmlicher Unterricht aufgrund der sich in diesen Tagen und Wochen ständig ändernden politischen wie gesellschaftlichen Lage nur noch am Rande statt. Anstelle des geplanten Unterrichtsinhalts wurde überwiegend über die neuesten politischen Vorgänge und die rasanten Veränderungen in der DDR geredet und diskutiert und sich gegenseitig informiert. An manchen jener Tage gingen wir dazu sogar in den Nachmittagsstunden aus eigenem Antrieb in die Schule, eine für einen pubertierenden Schüler sehr ungewöhnliche Handlung. Wir engagierten uns freiwillig, etwas, was es in dieser Form und in diesem Ausmaß vor der Wende und bei den meisten auch danach nie wieder gab. Wir diskutierten mit den Lehrern und waren mit unseren Vorschlägen und unserer Kritik, die auf einmal frei geäußert werden durfte, nicht eben zimperlich. Umso faszinierender war es für uns, wenn sich ein Lehrer offen vor der Klasse zur Notwendigkeit des Wandels und zu den gemachten Fehlern bekannte. Wir sammelten Ideen, entwarfen Konzepte und kreierten Wandzeitungen zu aktuellen politischen Themen, besonders zu den aus Schülersicht notwendigen Veränderungen in der DDR. Wir taten das alles für einen Staat, welchen wir als „unsere“ DDR, als „unser“ Land ansahen und den wir verbessern und verändern, nicht jedoch abschaffen wollten. Die DDR war für uns plötzlich ein Land, über dessen Zukunft und dessen Ausgestaltung wir nun mitredeten, scheinbar mitentschieden und in dem es vermeintlich keine Barrieren mehr gab, kritisch und konstruktiv tätig zu werden. 3 Wir fühlten uns von allen bisher lähmenden Fesseln befreit. Und trotz fehlender Problematisierung im eigenen Elternhaus und damit fehlender familiärer Unterstützung ging ich mit einigen meiner Klassenkameraden auf den Erfurter Domplatz, um für eine gerechtere, offenere und bessere sozialistische Gesellschaft zu demonstrieren. Es war eine Zeit des stürmischen Wandels. Ich war in einem bis dahin unbekannten und bis heute nicht wieder erreichten Maß politisch motiviert und euphorisiert. Trotz aller düsteren Nachrichten über die wirtschaftliche Lage des Landes fühlte ich mich leicht, frei und unbeschwert. Viele der Menschen um mich herum blühten in dieser rauschhaf2 3

Im Folgenden werde ich diesen historisch unpräzisen Begriff unkritisch verwenden, auch weil er durch alle von mir Interviewten zur Bezeichnung dieses Zeitraums verwendet wurde. „1989 fand der Aufstand der Träumer und Romantiker statt. Mehr Utopie als in den turbulenten Wendemonaten kann man sich kaum vorstellen.“, aus: Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998, S. 335.

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ten Zeit auf und offenbarten ihr Potential an Engagement, Kreativität und Selbständigkeit. Ich sah Menschen, welche die Veränderung der bestehenden Verhältnisse wollten und die Veränderbarkeit dessen spürten. In diesen Tagen und Wochen fühlten ich und so viele um mich herum die im positiven Sinn mitreißende und inspirierende Kraft der Anarchie. Dass solcherart emotionale Erfahrungen an mir als einem damals jungen Menschen nicht spurlos vorüber zogen, ist auf den ersten Blick mehr als einleuchtend. Und ich habe natürlich ein tiefes Interesse, den Nachwirkungen und Prägungen der beschriebenen Ereignisse auf die Spur zu kommen. Dies jedoch an mir selbst einzuschätzen, scheint mir im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit hingegen unangebracht, weshalb ich nun den Blick von mir vorerst weglenken möchte. Um die Problematik und die darin enthaltenen Fragestellungen weiter zuzuspitzen, möchte ich einen kurzen einleitenden Blick über die geäußerten Erfahrungen anderer Ostdeutscher meiner Altersgruppe wagen. Als Vorgeschichte dieser Erinnerungen lässt sich für die zweite Hälfte der 1990er Jahre ein regelrechter Boom an selbstvergewissernden und damit selbstbestätigenden literarischen Äußerungen junger Westdeutscher feststellen. Exemplarisch möchte ich hier Benjamin von Stuckrad-Barre 4 und Florian Illies 5 nennen. Etwas überspitzt resümierte darüber die Frankfurter Allgemeine Zeitung folgendermaßen: „Eine disparate Generation vereinzelter Glückssucher ohne große, gemeinsam erlebte geschichtliche Ereignisse fand im Zeichen der Literatur zu sich und zueinander. ... Die Sehnsucht, Teil einer Jugendbewegung zu sein, wurde wenigstens beim einsamen Lesen zu Hause erfüllt.“ 6 Beeinflusst durch einen Text von Karl Mannheim 7 erscheint es mir zunächst einmal wenig sinnvoll, die Begriffe disparat und Generation in einem Zusammenhang zu benutzen, doch darüber hinaus kann ebenjener Hinweis auf das fehlende Bindeglied des kollektiven historischen Ereignisses ein Schlüssel zum Verständnis der darauf folgenden Entwicklung in der jungen deutschen Literatur sein. Denn nun fanden auch junge 4 5

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Vgl. Stuckrad-Barre, Benjamin von: Soloalbum. Roman, Köln 1998. Vgl. Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion, Frankfurt a.M. 2001. Als weibliches Gegenstück zum Entwurf von Illies, aber die eigene Generation als ebenso unpolitisch und an Äußerlichkeiten orientiert beschreibt, vgl. Kullmann, Katja: Generation Ally, Frankfurt a.M. 2002. Volker Weidermann: Glückskinder der späten Geburt. Jana Hensels biographischer Essay „Zonenkinder“ erzählt von der Generation Golf des Ostens, in: FAZ, 8.9.2002, Nr. 36, S. 22. Vgl. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen, in: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingel. u. hrsg. v. Kurt H. Wolff, Berlin 1964, S. 509-565.

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Ostdeutsche den Weg und den Mut, ihr Leben in der DDR, ihre Wendeerfahrungen und ihr Neubundesbürgerleben in Selbstbeschreibungen mitzuteilen. 8 Vorrangig sind es Frauen, beispielhaft möchte ich hier Jana Simon 9 , Jana Hensel 10 , Julia Schoch 11 und Abini Zöllner 12 nennen. Fast immer kommt es in diesen überwiegend autobiographischen Werken zu mehr oder weniger direkten Schilderungen der bewegten Wendezeit und ihrer Nachwirkungen auf das Leben der VerfasserInnen oder auf das ihrer literarischen Protagonisten. Es ist das beherrschende und allem Anschein nach auch das einende Thema, womit im Mannheimschen Sinne eine der entscheidenden Vorraussetzungen für einen Generationszusammenhang (bis hin zur Generationseinheit) gegeben ist. Sehr gegensätzliche Reaktionen zweier Autoren auf dieselbe euphorische Wendeerfahrung, ähnlich der meinigen, finden sich in einer im Jahr 2000 erschienenen Aufsatzsammlung 13 . Während der eine, Frank Rothe, sich durch das Erlebnis eines zusammenbrechenden Gesellschaftssystems dazu verleiten lässt, keiner zukünftigen Ordnung mehr zu trauen und den Rückzug ins Private forciert 14 , meint der andere, Carsten Schneider, 8

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Seit Mitte der 1990er spricht man von der sogenannten Popliteratur, die oft mit vielfachen Erinnerungsversuchen über die Sozialisation der Autoren durchsetzt ist. Vgl. hierzu Jung, Thomas (Hrsg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, Frankfurt a.M. u.a. 2002 (= Osloer Beiträge zur Germanistik, Bd. 32). Zu den ostdeutschen Spezifika der jungen Literaturszene vgl. Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): DDR-Literatur der neunziger Jahre, München 2000 (= Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderband), u vgl. Koch, Roland (Hrsg.): Der wilde Osten. Neueste deutsche Literatur, 2.Aufl., Frankfurt a.M. 2003. Zur literaturkritischen Sicht aus westdeutscher Perspektive vgl. Radisch, Iris: Klassenkampf Ost. André Kubiczek und die Neuauflage der engagierten DDR-Literatur als Farce, in: DIE ZEIT, Nr. 13/2003, Sonderbeilage Literatur und Musik, S.3. Aber auch außerhalb der Literatur bricht sich dieses Bedürfnis nach Mitteilung der eigenen Geschichte Bahn. Vgl. Mühlberg, Felix / Schmidt, Annegret (Hrsg.): Zonentalk. DDRAlltagsgeschichten aus dem Internet, Wien / Köln / Weimar 2001, u. dazu vgl. http://www.zonentalk.de, u. vgl. http://www.wiedervereinigung.de. Vgl. Simon, Jana: Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S., Berlin 2002. Vgl. Hensel, Jana: Zonenkinder, Reinbek 2002. Besonders dieses Buch erregte neben dem großen Verkaufserfolg vor allem durch eine polarisierte Leserschaft großes Aufsehen. Exemplarisch für den Umgang der Printmedien mit diesem Werk vgl. Geer, Sandra: DDR-Safari. Jana Hensel schwärmt vom braven Osten, in: DIE ZEIT, Nr. 51/2002, S. 36, u. vgl. KREUZER Medien GmbH (Hrsg.): Wer sind die Zonenkinder? Titelthema, in: KREUZER Spezial Buchmesse 2003, Leipzig März 2003, S. 610, u. vgl. Thieme, Manuela: Adieu Pittiplatsch, in: DAS MAGAZIN, September 2002, S. 14-18, u. vgl. Weidermann (wie Anm. 6). Vgl. Schoch, Julia: Der Körper des Salamanders. Erzählungen, München 2001. In fast allen der zehn Kurzgeschichten finden ihre Helden und Heldinnen in ihrem Suchen nach dem Glück und dem Sinn immer wieder zu ihrer eigenen Vergangenheit im Osten. Vgl. Zöllner, Abini: Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder, Reinbek b. Hamburg 2003. Vgl. Simon, Jana / Rothe, Frank / Andrasch, Wiethe (Hrsg.): Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist, Berlin 2000. „In diesen Tagen verlor ich meinen Glauben an jedes System und schwor mir, nie wieder in meinem Leben ein System ernst zu nehmen, nie wieder die Autoritäten eines Systems zu akzeptieren und nie wieder ‚ja‘ zu sagen, wenn ich es nicht auch wirklich meine. ... Nie wieder würde ich etwas für ein System tun. Das wußte ich. Ich würde nur noch an mich selbst glauben und an mein ganz persönliches privates Leben.“, aus: Rothe, Frank: Der Dinosaurier im Bernstein. Ich, das Überbleibsel aus einer implodierten Galaxis, in: Ebenda, S. 60f.

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daraus einen Antrieb zur demokratischen und pragmatischen Mitwirkung an der Gesellschaft zu verspüren 15 . Für den einen ist es also eine Erfahrung von etwas Verschwindendem, für den anderen von etwas Entstehendem, und dennoch von beiden positiv eingeschätzt und für beide grundlegend prägend. Damit ist der Spannungsbogen möglicher Reaktionen und Verarbeitungen dieser historischen Erfahrung aufgezeichnet. Im Osten Deutschlands fanden solche literarischen, aber auch die filmischen Schilderungen durchweg eine viel stärkere Rezeption als im Westen. Der vor einiger Zeit im Kino gelaufene Film Good bye, Lenin! stellt diese kurze, aber umso glückseligere Phase zwischen den Systemen auf bewegende Weise dar und fand genau damit nun auch ein großes Publikum in den alten Bundesländern.16 Während der Erfolg im Osten Deutschlands aller Wahrscheinlichkeit nach durch Akte der Selbstbestätigung und Identifikation ihres Erfahrungsvorsprungs die Menschen in Scharen in die Kinos treiben oder die Bücher zur Hand nehmen ließ und lässt, spricht vieles dafür, dass im Westen die Sehnsucht nach solch einem historischen Ereignis mit all seiner Prägekraft hier zum Vorschein kam. 17 Diese Einschätzung ist im Übrigen ganz und gar unabhängig davon, in welchem Maße dabei Fiktionen seitens der westlichen Bundesbürger über die Wendezeit vorhanden sind, wichtig erscheint mir allein die Existenz des Verlangens. Aus den bisherigen einleitenden Worten ergaben sich die zwei Hauptfragen dieser Studie, die ich zunächst allgemein formulieren und danach durch methodische Vorüberlegungen präzisieren möchte. Zum einen fragte ich nach den während des Umbruchs von 1989 gemachten Erfahrungen und Erlebnissen und zum anderen danach, wie mit diesem historischen Ereignis im Leben des Einzelnen umgegangen wird, also wie sich dieses auf die späteren Lebensgeschichten und Einstellungen des jeweilig Befragten auswirkte.

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„Diese beiden Erlebnisse [erster offener verbaler Widerstand in der Schule gegen schönfärberische Auslegung der Flüchtlingsbewegung über Ungarn und Teilnahme an den Donnerstagsdemonstrationen auf dem Erfurter Domplatz, M.K.] haben mein politisches Bild und das der meisten Menschen der ehemaligen DDR geprägt. Demokratie ist für mich erkämpft worden.“, aus: Schneider, Carsten: Morgenrot. Wann ein Juso aus dem Zimmer fliegt, in: Ebenda, S. 166f. Der Film Good bye, Lenin! war in den letzten Monaten der mit Abstand erfolgreichste deutsche Film, laut Angaben von mediacontrol wurden nach neun Wochen Spielzeit des Films ca. fünf Millionen Besucher gezählt, vgl. www.kino.de. „Es ist auch nicht allein die Komik, die nie auf Kosten der Figuren geht, schon eher das kleine anarchische Intermezzo zwischen den Systemen samt der symbolischen Vereinigung von Rom, wo die Mannschaft der Bundesrepublik für ganz Deutschland im Sommer 1990 Fußballweltmeister wurde.“, aus: Körte, Peter: Der Erfolg von „Good bye, Lenin!“. Auferstehung aus Ruinen, in: FAZ, 20.2.2003, Nr. 43, S. 37.

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