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Wie Eintragungen in den Kirchenrechnungen belegen, wird die Kaufmannskirche im Zuge der Reformation stückweise umgewandelt, so etwa 1585: »Findet man zuerst, daß die Kirchen-Stüle sind verkauffet worden.« Dann 1594: »Ist eingefallen das Gewölbe, die Decke des Chors v: die Altar-Tafel zerschmettert worden: v: ...
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Der Erfurter Reformations-Altar

Thomas M. Austel (Hg. )

DER ERFURTER REFORMATIONSALTAR Der Altar der Erfurter Meister Friedemann in der Kaufmannskirche am Anger Mit Fotografien von Falko Behr

Lukas Verlag

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage 2016 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D 10405 Berlin www.lukasverlag.com Reprographie, Satz und Umschlag: Lukas Verlag Druck: Westermann Druck Zwickau Printed in Germany ISBN 978-3-86732-235-5

Inhalt

Vorwort 7 Der Erfurter Reformationsaltar – der Altar der Kaufmannskirche

Der Altar der Kaufmannskirche Karl-Heinz Meissner Der Altar als Teil der Chorausstattung der Erfurter Kaufmannskirche – Deutungsperspektiven Stefan Bürger

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Dialoge in der Erfurter Kaufmannskirche

Empfangen durch den heiligen Geist Evangelium nach Lukas 1, 26–38 Ulrike Müller und Hanna Manser

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Geboren von der Jungfrau Maria Evangelium nach Lukas 2, 1–20 Christoph Kähler und Stephan Märki

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Gab man ihm den Namen Jesus Evangelium nach Lukas 2, 21–35 Gerhard Begrich und Doron Kiesel

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Du bist mein lieber Sohn Evangelium nach Markus 1, 9–11 Henning Röhl und Axel Noack

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Dieser Kelch ist der neue Bund Evangelium nach Lukas 22, 7–23 Klaus Raschzok und Wolfram Morath-Vogel

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Gekreuzigt Evangelium nach Lukas 23, 32–49 Heino Falcke und Edelbert Richter Thomas M. Austel

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Auferstanden 88 Evangelium nach Matthäus 28, 1–8 Johanna Haberer und Gert Heidenreich Aufgefahren in den Himmel Apostelgeschichte nach Lukas 1, 1–12 Frank Hiddemann und Janek Müller Von dort wird er kommen, zu richten Evangelium nach Matthäus 25, 31–46 Walter Sparn und Klaus-Michael Kodalle

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Anhang

Anmerkungen 119 Nachweise 124 Abbildungen 127 Autorenverzeichnis 128

Vorwort

Reformation und Medien. Das neue Verhältnis unter veränderten Bedingungen. Zwei Entwicklungen kennzeichnen die Renaissance, von der Jacob Burckhard sagt, sie werde nördlich der Alpen Reformation genannt: Leonardo da Vincis umfassende Perspektivtheorie und Johann Gutenbergs Buchdruck. Die Entwicklung der Zentralperspektive ermöglicht das Erscheinungsbild der Realität in Leonardos Bild »Das letzte Abendmahl« im Refektorium des Mailänder Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie, und die Entwicklung von Gutenbergs Buchdruck mit beweglichen Metalllettern und der Druckerpresse ermöglicht den Bibeldruck und die Flugschrift. Albrecht Dürer baut als Erster Zeichenmaschinen, und Gutenbergs Erfindung ist die Grundlage für das Druckereigewerbe.1 Der US-Amerikaner Samuel F. B. Morse leitet 1837 die Geschichte der elektronischen Medien ein. Von hier führt der Weg zu der Rolle der neuen Medien als soziale Netzwerke 2011 beim Arabischen Frühling. Den Entwicklungen neuer Medien im 15. Jahrhundert wie vom 19. bis in das 21. Jahrhundert folgt mit Abstand eine neue Art, in der Welt zu sein.2 Zweimal in der bekannten Geschichte der Kaufmannskirche am Anger Erfurt findet in dieser Kirche in Zeiten historischer Veränderungen ein wiederholter Gottesdienst statt: Einmal im Zusammenhang mit Luthers Besuch 1522 in Erfurt. Der Neununddreißigjährige predigt am Sonntag, dem 22. Oktober in dem Gottesdienst, der wiederholt wurde. (Im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 ist der 22. Oktober ebenfalls ein Sonntag.) Der »Sermon in der Kaufmannskirche zu Erfurt gepredigt vom Kreuz und Leiden eines Christen, der dem Evangelium fest vertraut«3 ist ein Beispiel für veröffentlichte Öffentlichkeit. Bereits am 3. November ist in einem Brief an Georg Spalatin, den Beichtvater des Kurfürsten, von der gedruckten Predigt die Rede. Vier Erfurter Drucke und ein Nachdruck in Augsburg sind bekannt. Handschriftlich ist die Predigt in Jena aufbewahrt. Zum anderen versammeln sich im Herbst 1989 am Samstag, dem 7. Oktober um 18 Uhr viele Menschen der Stadt zum Gottesdienst, um geleitet durch Bibelwort und Gebet »im krisenhaften Ende der Neuzeit«4 neues Denken und Handeln zu buchstabieren. Der Gottesdienst muss wegen großen Besucherandrangs wiederholt werden und ist für die Erfurter Anfang gewaltloser Selbstbefreiung aus der proletarischen Diktatur des Weltanschauungsstaates und gewaltsam herbeigeführter Zweistaatlichkeit im Nachkriegs-Deutschland hinter Stacheldraht und Mauer. Unter anderem in der am 9. November 1989 um 19 Uhr in der ZDF-Nachrichtensendung »heute« ausgestrahlten Pressekonferenz erklärt Günter Schabowski, ständige Ausreisen könnten über alle Grenzübergangsstellen erfolgen, und fügt auf Nachfrage hinzu: »sofort, unverzüglich«. Durch die Nachrichten in den elektronischen Medien motiviert, erstreiten die Menschen am 9. November 1989 die Öffnung der Mauer und der Grenze. 7

Unter der Überschrift »Wege zu Luther« erinnert die Landeshauptstadt Erfurt an Martin Luthers Immatrikulation 1501 an der Erfurter Universität. Damit ist Luther in den Sog der Renaissance geraten. Ab 1505 bindet er sich für Jahre an den mittelalterlichen Bettelorden der Augustiner. Lesen, Schreiben und Reden werden für ihn Grundlagen seiner Emanzipation. Die Freiheit zum Reden und die Freiheit zum Handeln wurzeln für den Theologen in der Freiheit des Textes Evangelium. Seine erbitterten Auseinandersetzungen mit dem Papismus gipfeln in dem Bruch mit dem mittelalterlichen Klerikalismus. Als Reformator formt er eine alternative emanzipierte Frömmigkeit für das emanzipierte Bürgertum. Lesen und Schreiben, Reden und Hören werden Kennzeichen der Autonomie. Der Priester erscheint als Prediger: »Christum predigen« heißt, Gefangenen Freiheit zurufen. Der Predigtstuhl, die Kanzel, ist architektonischer Ausdruck zugerufener Freiheit durch Christus aus dem Wort. Die Zentralstellung der Predigt wird zum Gottesdienst im evangelischen Gottesdienst: »Monologisches Drama« (Novalis). »Auslegung des biblischen Textes« (Dietrich Rössler). »Inszenierter Text« (Henning Luther). Albrecht Grözinger spricht von der Predigt im Gottesdienst als »Drama im Drama« und schreibt dazu: »Predigt als inszenierter Text: das ist jener dramatisch gestaltete Sprachraum, der uns einlädt, in diesen Raum einzutreten und dort unsere eigenen Worte zu finden. Unter den Bedingungen der Postmoderne wird dies zu einer Conditio sine qua non überzeugender Predigt. […] Eine Predigt hat dort ihr Ziel erreicht, wo sie den Predigthörerinnen und Predigthörern ein Skript an die Hand gibt, nach dem sie ihre eigene Predigt schreiben können.«5 Predigt als offene Predigt. Das Projekt Dialogpredigten »Wege nach Luther« in der Kaufmannskirche am Anger geht aus von Predigt als Dialog in drei Kommunikationskreisen: Zum einen Predigt als das »dialogische Drama« der Textlektüre des Luthertextes der Bibel (1522) mit der Bildlektüre des inszenierten Textes im Kunstwerk des reformatorischen Altars, gebildet »von seinen Meistern, den Herren Friedemännern« (1625). Die Einholung der Raumlektüre in die Textlektüre. Zum anderen Predigt als »dramatisch gestalteter Sprachraum« von Theologin oder Theologe und Fachfrau oder Fachmann anderer Ressorts. Zwei Protagonisten und zwei Sichtweisen auf eine wirkungsästhetische Altar-Bildtafel und einen archaischen Bibeltext. Sichtweisen, die gegebenenfalls so unterschiedlich sein können wie die Hörer unterschiedlich sein können. Und drittens Dialogpredigten als Projekt mit einem Medienpartner, der die Dialoge ankündigt, besucht und darüber berichtet, um die öffentliche Aufgabe der Kirche als »intermediäre Institution in der Zivilgesellschaft« (Wolfgang Huber) in dem Sog der säkularisierten Urbanität der Moderne zu positionieren. Die Journalistin Anette Elsner begleitet mit Stift, Block und Kamera das Projekt. Das Ergebnis findet sich im umfangreichen Pressespiegel. Nach der Restaurierung des Altars (2014) durch Mary Randhage aus Weißensee unter der fachlichen Leitung der Erfurter Restauratorin Heike Glaß, des Taufsteins (2009) durch Restauratorin Franziska Tottleben aus Mühlhausen unter fachlicher Leitung von Professor Thomas Staemmler von der Fachhochschule Erfurt und der Kanzel (1992) durch die Erfurter Restauratorin Christel Matthes bilden die drei hoch8

wertigen Prinzipalstücke Thüringer Renaissance und reformatorischer Ikonographie aus der Werkstatt der Erfurter Meister Friedemann ein beeindruckendes Ensemble in der Erfurter Kaufmannskirche am Anger. Kanzel (1598), Taufstein (1608) und Altar (1625), die Predigt Martin Luthers 1522 in der Kaufmannskirche und das Lutherdenkmal (1889) vor der Kaufmannskirche am Anger qualifizieren die Kaufmannskirche als repräsentativen Reformationsort in Thüringen. Das Themenjahr der Lutherdekade »Bild und Bibel« rückt das reformatorische Ensemble der Erfurter Meister Friedemann in der Kaufmannskirche am Anger mit der Ausstellung »Kontroverse & Kompromiss« in den öffentlichen Blickpunkt. Das Gegenüber von Pfeilerbildzyklus im römisch-katholischen Raumprogramm des Mariendoms und das reformatorische Ensemble der Erfurter Meister Friedemann in dem Raumprogramm der Kaufmannskirche sind markante Beispiele für die Kultur der Bikonfessionalität im Erfurt des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts. Die erste zusammenhängende Fotopräsentation des sorgsam restaurierten AltarRetabels, auch bekannt als Traualtar der Eltern von Johann Sebastian Bach, bildet den Anlass für diese Publikation. Die neun Bildtafeln des Retabels sind verknüpft mit den neun Dialogpredigten »Wege nach Luther«. Bis auf eine Ausnahme erfolgte die Umformung der Predigt als Hörereignis in den Essay, um dem Lesecharakter zu entsprechen. Der Essay »Kruzifixus als Mitte« ist den Dialogpredigten »Wege nach Luther« hinzugefügt. Dank den Autoren für die Beiträge und die Erteilung der Lizenz. Die Korrespondenz mit den Autoren überraschte, erfreute und ermutigte mich immer wieder. Janek Müller schreibt: »Vielen Dank für Ihre schönen Informationen zur Restaurierung des Altars und zur Publikation und allen Beteiligten daran herzlichen Glückwunsch.« »Viel Erfolg bei der Publikation. Das Inhaltsverzeichnis ist eindrucksvoll und die Bilder werden es nicht weniger sein!« schreibt Heino Falcke, und Christoph Kähler fügt an »Ich bin gespannt auf den Band und seine Beiträge.« Karl-Heinz Meißners umfassender einführender kunsthistorischer Beitrag erscheint posthum. Stefan Bürger danke ich für den kunstwissenschaftlichen Beitrag. Falko Behr danke ich für die Fotos. Gerta Link danke ich für die Erfassung einiger Texte und das Korrekturlesen. Ja, danke für die wohltuende Zusammenarbeit. Dank an Frank Böttcher und an die Mitarbeiter im Lukas Verlag für Layout, Satzund Reprographiearbeiten, Druck, Verarbeitung und Anlieferung der Publikation. Dank für Geduld und die angenehme Zusammenarbeit. Dank an die Kunstmuseen Erfurt und ihren Direktor Kai Uwe Schierz für die gewährte Unterstützung. Dank der Sparkasse Mittelthüringen, dem Reformationsfonds der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland, dem Evangelischen Kirchenkreis Erfurt und der Evangelischen Kaufmannsgemeinde Erfurt für die Förderung und Finanzierung der Publikation. Dem Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kaufmannsgemeinde danke ich für das Vertrauen und die Beauftragung, die Publikation herauszugeben: gewidmet den Herren Friedemännern, den Erfurter Meistern, vor deren Retabel ich in über 9

zwanzig Jahren dankbar unzählige Gottesdienste feiern konnte – und es war immer ein Gottesdienst zu wenig –, und gewidmet all denen, die, gleich mir, das wundersame Schnitzwerk in ihr Herz geschlossen haben. Und nun wünsche ich dem geneigten Leser und Betrachter Lese- und Bildvergnügen. Erfurt im Frühjahr 2016

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Thomas M. Austel

DER ERFURTER REFORMATIONSALTAR DER ALTAR DER KAUFMANNSKIRCHE

Der Altar der Kaufmannskirche Karl-Heinz Meißner

Geschichtliche Voraussetzungen

Wie Eintragungen in den Kirchenrechnungen belegen, wird die Kaufmannskirche im Zuge der Reformation stückweise umgewandelt, so etwa 1585: »Findet man zuerst, daß die Kirchen-Stüle sind verkauffet worden.« Dann 1594: »Ist eingefallen das Gewölbe, die Decke des Chors v: die Altar-Tafel zerschmettert worden: v: als die Gewölbe völlig abgenommen worden sind dem Maurer 4 g. v: 6 d zuvertrincken gegeben. – Ist die Decke in d. Kirchen dem Tischer verdinget worden.« Schließlich, immerhin an letzter Stelle, 1625: »Ao. 1624. ist im Novemb. eine neue Altar-Tafel gemach. worden.«6 Dem Altar vorausgegangen waren 1598 die Kanzel und 1608 der Taufstein. Während des II. Weltkrieges war der Altar eine Zeitlang ausgelagert. Als er 1952 wieder aufgestellt worden ist, hat der Altarblock seine heutige Form bekommen. Auf der Mensa stehen wieder die zwei 40 cm hohen Bronzeleuchter, die, wie sich erst kürzlich ergeben hat, 1665 in Nürnberg gegossen worden sind. Wir haben uns vielleicht an den Anblick gewöhnt und finden ihn nicht extra bemerkenswert. Darum muss etwas ausgeholt werden, um zu würdigen, welch großer Schatz der Kaufmannsgemeinde hier anvertraut ist. Etwa 8,50 × 3,60 m ist das Werk groß. Der Aufbau lehnt sich an gotische Altäre an, mit Predella, Mittelschrein, Seitenflügeln und Gesprenge. Vielleicht war der dreißig Jahre zuvor beim Einsturz der Chorgewölbe vernichtete Altar, vom dem wir wissen, dass er Ende des 15.  Jahrhunderts geschnitzt und gefasst worden war, ein solches Retabel, etwa wie der Regleraltar, der sich noch heute am ursprünglichen Ort befindet. Über dem Sockel, der sogenannten Predella, wird sich der Schrein mit seinen Flügeln erhoben haben, Gold und Heiligkeit: Szenen aus der Bibel oder Heiligenfiguren; in der Mitte vielleicht – bei Erfurter Altären des 15. Jahrhunderts üblich – die Krönung Mariens. Oben der Auszug, das Gesprenge, ein filigranes Rankenwerk beziehungsweise Andeutungen von Architektur. Beim Regleraltar erscheinen da noch einmal die Vertreter des gnadenreichen Lebens, sieben heilige Frauen. Ihr Leben sollte nicht nur Vorbild sein; genauer, es war Hilfe zur eigenen Frömmigkeit. Aus ihrem vollendeten, Gott wohlgefälligen Leben sollten die Heiligen den Überschuss an Gnade weitergeben können an die, die sie um ihre Hilfe anriefen. Der vorreformatorische Altar war eine einzige Anhäufung vollendeter Heiligkeit. Im Einzelnen gab es gar nicht viel zu »verstehen« oder zu »erklären«. Die Anwesenheit des Heils war es, woran der Gläubige sein Herz hing. Nun, im neuen Altar der Kaufmannskirche, ist alles ganz anders. Als er entsteht, 1625, sind genau einhundert Jahre vergangen, seit sich die Gemeinden der Stadt 1525 12