Der deskriptive Kern der Verantwortung

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ISBN 978-3-89785-224-2

Sebastian Wolf DER DESKRIPTIVE KERN DER VERANTWORTUNG Eine metaethische Untersuchung angesichts neurokognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse

PAP

In der Metaethik gibt es eine Position, die behauptet, dass unsere moralische Praxis, wie wir sie derzeit ausüben, aus empirischen Gründen nicht gerechtfertigt werden kann. Der Hauptfehler dieser revisionistischen Argumentation liegt in ihrer Versteifung auf die Unterscheidung von bewussten und unbewussten Handlungen. Diese Studie argumentiert, dass für verantwortliches Handeln ein deskriptiver Kern von Verantwortung gegeben sein muss, der von dieser Unterscheidung unabhängig ist. Er besteht erstens aus einer Form von Autonomie, die verstanden wird als Handlungen, die das Kernselbst der Person ausdrücken. Und er besteht zweitens aus einer Form von rationaler Kontrolle, die verstanden wird als eine, die nicht allein relativ zu den eigenen Präferenzen der Person ist, sondern auch relativ zu objektiv geltenden Gründen – sie wird verstanden als orthonome Kontrolle. Die entscheidende Dichotomie für verantwortliches Handeln ist demnach vielmehr die zwischen aktiv und passiv, zwischen dynamisch und statisch. Weil Personen im Normalfall ihr Verhalten und ihren Charakter aktiv, flexibel und dynamisch ihren Umständen anpassen können, sind sie daher angemessene Verantwortungssubjekte.     

Wolf · DER DESKRIPTIVE KERN DER VERANTWORTUNG

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Wolf · Der deskriptive Kern der Verantwortung

Perspektiven der Analytischen Philosophie Neue Folge

Herausgegeben von Julian Nida-Rümelin und Ulla Wessels Begründet von Georg Meggle und Julian Nida-Rümelin

Sebastian Wolf

Der deskriptive Kern der Verantwortung Eine metaethische Untersuchung angesichts neurokognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse

mentis Paderborn

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München © 2012 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Str. 19, D–33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ISO 9706 Printed in Germany Satz: Buch- und Notensatz Brütting-Keil, Detmold Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978–3–89785–224–2

Vorwort und Danksagung Als ich das Thema dieser Dissertation zum ersten Mal im Rahmen des Doktorandenkolloquiums von Prof. Dr. Vossenkuhl am Lehrstuhl I an der Ludwig-Maximilians-Universität München einer kleinen Öffentlichkeit vorstellte, vertrat ich die provokante These, dass es keine Willensfreiheit gebe, Menschen aber dennoch verantwortlich für ihre Handlungen seien. Ich wurde bei dieser Gelegenheit gefragt, ob es denn nicht meine freie Entscheidung gewesen sei, dieses Dissertationsthema zu bearbeiten. Ich antwortete, das habe sich notwendig so ergeben, weil es nach meinem Studienabschluss am naheliegendsten schien. Einige Monate später erinnerte ich mich plötzlich an eine Fernsehdokumentation, die ich im Ethikunterricht in der Schule gesehen hatte. Dort hatte ich mit sechzehn Jahren zum ersten Mal einen Neurowissenschaftler verkünden hören, die menschliche Willensfreiheit sei eine Illusion. Ich erinnere mich gut an meine damalige Empörung. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass dieses Erlebnis zumindest ein entscheidender Grund dafür war, dass ich zuerst ein Philosophiestudium und dann später ein Promotionsprojekt zum Thema Willensfreiheit begann. In jedem Fall war mein Handeln durch verschiedene Umstände bestimmt. Weder hat sich mein Wille vollkommen frei von jeglichen Umständen ausgebildet, noch waren mir die Gründe meines Handelns immer bewusst. Dennoch möchte ich behaupten, vollkommen verantwortlich für mein Handeln zu sein. Ich stehe voll dafür ein, dass ich über drei Jahre damit verbracht habe, mir über die Natur der Verantwortung und der Willensfreiheit Gedanken zu machen. Die vorliegende Arbeit erklärt, wie diese Verantwortungszuschreibung gerechtfertigt sein kann und warum sie auch ganz natürlich ist. Sie zeigt, dass meine Verantwortung unabhängig von meiner subjektiven Perspektive ist und ebenso unabhängig davon, ob mir die Gründe meines Handelns bewusst sind oder nicht. Während der Abfassung dieser Arbeit habe ich vor allem aus meinem akademischen Umfeld vielgestaltige Hilfe von verschiedenen Personen und Institutionen erfahren, auf die ich gerne hinweise. Finanziell wurde die Arbeit zum Einen durch Stellenmittel gefördert, die die VW-Stiftung für das Forschungsprojekt „Kontrolle und Verantwortung: Untersuchungen zur

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Vorwort

Natur und Kultur des Wollens“ bereitstellte, und zum Anderen durch ein Promotionsstipendium des Münchener Kompetenzzentrums Ethik (MKE). Dort wurde mir ebenfalls ein hervorragend ausgestatteter Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt. Die Drucklegung der Dissertation wurde freundlicher Weise durch einen Druckkostenzuschuss der Boehringer-Ingelheim Stiftung unterstützt. Zwei regelmäßige Veranstaltungen haben vor allem dabei geholfen, die Inhalte dieser Arbeit wesentlich zu verbessern. Auf der einen Seite ist dies das bereits erwähnte Doktorandenkolloquium von Prof. Dr. Vossenkuhl. Von den dortigen Diskussionen mit meinen Kommilitonen habe ich immens profitiert. Auf der anderen Seite ist dies das von PD Dr. Stephan Sellmaier geleitete Forschungskolloquium zur Willensfreiheit. Ich bedanke mich für die dort immer wieder gegen meine Ideen vorgebrachten Einwände durch die regelmäßigen Teilnehmer Doris Dawidt, Stefan Hammling, Florian Leiß, Erasmus Mayr und Andreas Ströhle. Eine bessere Betreuung als durch meinen Doktorvater Stephan Sellmaier kann sich ein Doktorand nicht wünschen. Das Arbeitsumfeld im MKE, das er als akademischer Geschäftführer leitet, könnte nicht produktiver sein. Einige Freunde waren so freundlich, das fertige Manuskript korrekturzulesen: Eva Bader, Katharina Bradler, Doris Fejfar, Esther Halden, Sebastian Kraftmeier, Theres Lehn, Bernd Schneid, Matthias Schreiner, Florian Sedlmeier, Corinna Sigmund und Eva Simmet. Vielen Dank für die unter hohem Zeitdruck zuverlässig erledigte Arbeit. Für alle übrigen Fehler bin natürlich ich selbst verantwortlich. Schließlich und vor allem danke ich meinen Eltern, Ingrid und Horst Wolf, für die jahrelange Unterstützung meines Lebensweges. Ohne Franziska Fejfar allerdings wäre alles nichts und diese Dissertation niemals geschrieben worden. München, im Dezember 2011

S. W.

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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Kapitel I: Der Begriff der Verantwortung 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die revisionistische Argumentation . . . . . . . . . . . . . 2.1 Willensfreiheit und Verantwortung . . . . . . . . . . 2.2 Der normative Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verantwortung im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die relationale Natur der Verantwortung . . . . . . 3.2 Die rechtfertigende Funktion von Verantwortungszuschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die zwei Dimensionen der Verantwortung . . . . . . . . . 4.1 Die normative Dimension . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die deskriptive Dimension . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Beziehung zwischen den beiden Dimensionen . 5. Die zwei Ebenen der deskriptiven Dimension der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der deskriptive Mantel der Verantwortung . . . . . 5.2 Der deskriptive Kern der Verantwortung . . . . . . 6. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel II: Autonomie 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kausale Verantwortung und Dualismus . . . . . . . . . . 2.1 Die Möglichkeit des Epiphänomenalismus . . . . 2.2 Die dualistische Dichotomie . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die naturalistische Dichotomie . . . . . . . . . . . 3. Epiphänomenalismus und empirische Forschung . . . . 3.1 Die naturalistische Dichotomie in der empirischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Begriff der Intention . . . . . . . . . . . . . . . 4. Autonomes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Determinismus und Kompatibilismus . . . . . . . 4.2 Theorien vom Tiefen Selbst . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Volitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

4.2.3 Natürliche Neigungen . . . . . . . . 5. Das epistemische Problem bei der Verantwortungszuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der ontologische Status des Selbst . . . . . . 5.2 Das Selbst und die Handlungszuschreibung . 6. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . .

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Kapitel III: Vernunft 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rationale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Kontrolle durch das Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kontrolle des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Regressproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Konstitutiver Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Umständezufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Unmöglichkeit vollkommener Orthonomie . . . . . . 4. Begrenzte Orthonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Begrenzte Orthonomie und das „tracing“-Prinzip . . . . 4.2 Der regressive Charakter begrenzter Orthonomie . . . . . 4.3 Der normative Charakter begrenzter Orthonomie . . . . 5. Fähigkeitsverantwortung und empirische Forschung . . . . . . 5.1 Das mechanistische Wesen der Fähigkeitsverantwortung 5.2 Fähigkeitsverantwortung in Kommunikationssituationen 5.3 Die normative Dimension der Fähigkeitsverantwortung . 6. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel IV: Schluss 1. Autonomie und Vernunft als deskriptiver Kern der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Empirische Wissenschaften und Verantwortung . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis

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Personenregister

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Einleitung Seit der Jahrtausendwende hat eine alte Debatte in der Philosophie neue Schwungkraft gewonnen – das Problem der Willensfreiheit. Diese hochakademische Diskussion wurde von einigen Hirnforschern aus dem Elfenbeinturm der Philosophie in den öffentlichen Raum getragen. Als Ergebnis der so entstandenen öffentlichen Debatte wurde verkündet, die moderne Neurowissenschaft habe bewiesen, die Willensfreiheit sei eine Illusion und menschliche Verantwortung nicht möglich. Aus diesem Schluss sind auch Konsequenzen für unsere moralische und rechtliche Praxis abgeleitet worden. Weil eine wissenschaftlich aufgeklärte Gesellschaft den neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen müsse, wurde für einen eher therapeutischen Ansatz gegenüber Straftätern und anderen Missetätern plädiert. Diese Argumentation plädiert für eine Revision unserer traditionellen moralischen Praxis und unseres Verantwortungsbegriffs. Seit über zweitausend Jahren beschäftigen sich Philosophen mit dem Problem der Willensfreiheit. Die Literatur zum Thema ist daher Legion. Selbst die sehr viel engere Frage, was für eine Relevanz empirische Forschung für die Möglichkeit der Willensfreiheit haben kann, ist bereits recht ausführlich diskutiert worden. Dessen ungeachtet gibt es bislang nur wenige deutschsprachige Monographien zu diesem Thema. Zu nennen sind hier Henrik Walters Neurophilosophie der Willensfreiheit1 , Bettina Waldes Willensfreiheit und Hirnforschung2 , Michael Pauens Illusion Freiheit. Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung3 , sowie Kritik der Hirnforschung: Neurophysiologie und Willensfreiheit4 von Christine Zunke. Obwohl es bereits eine recht lebhafte Diskussion über die Relevanz neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht gibt, gibt es kaum monographische Abhandlungen dazu. Reinhard Merkels juristische Untersuchung Willensfreiheit und rechtliche Schuld5 und das Gemeinschaftsprojekt Freiheit, Schuld und Verantwortung6 von dem Philosophen Michael Pauen und dem Neurobiologen und Philosophen Gerhard Roth sind erst kurz vor Abschluss der vorliegenden Arbeit erschienen. Angesicht dieser Situa1 Walter

1998. 2006. 3 Pauen 2004. 4 Zunke 2008. 5 Merkel 2008. 6 Pauen, Roth 2008. 2 Walde

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Einleitung

tion glaube ich, der Diskussion mit dieser Arbeit noch einige wesentliche Erkenntnisse hinzufügen zu können. Die Untersuchung hat sich mehrere Ziele gesteckt. Zunächst einmal stellt sie eine Analyse der genannten revisionistischen Argumentation dar. Diese geht von bestimmten empirischen Erkenntnissen zu Interpretationen dieser Erkenntnisse über und gelangt so zu einer Verneinung des freien Willens und im Zusammenhang damit zur These, dass unsere Verantwortungszuschreibungspraxis im Allgemeinen nicht gerechtfertigt werden kann. Aufgrund dieser Form des Arguments erfordert eine fundierte Auseinandersetzung mit der revisionistischen Position auch eine grundlegende Untersuchung des Verantwortungsbegriffs. Eine solche wird in der vorliegenden Arbeit geleistet. Ich betrachte die Relevanz empirischer Forschung für den Verantwortungsbegriff direkt, durch eine Analyse der tatsächlichen Begriffsverwendung, und ohne den Umweg über den problematischen Begriff der Willensfreiheit zu machen. Damit schließe ich die Verbindung zwischen empirischer Forschung und Verantwortung sozusagen kurz. Dieses Vorgehen hat einen Vorteil, den frühere Behandlungen der Thematik nicht hatten. Sie ist nicht verpflichtet, eine vollständige Erklärung des Willensfreiheitsbegriffs zu liefern. Willensfreiheit wird üblicherweise als notwendige Bedingung für gerechtfertigte Verantwortungszuschreibungen angesehen. Wenn dies wahr wäre, müsste jede Erklärung von Verantwortung auch den Begriff der Willensfreiheit erklären. Tatsächlich besteht diese Beziehung aber nicht. Der Grund dafür liegt in einem wichtigen Unterschied zwischen den beiden Begriffen. Während Willensfreiheit ein metaphysischer Begriff ist, ist Verantwortung ein normativer Begriff. Weil die deskriptiven Bedingungen der Verantwortung nur kontingenterweise normativ festgelegt werden, ist Willensfreiheit keine notwendige Bedingung für Verantwortung. Sie kann nur eine kontingente Bedingung sein, die lediglich in Bezug auf ein bestimmtes Verständnis von Verantwortung notwendig ist. Wir können also eine metaethische und eine metaphysische Frage im Kontext der Willensfreiheit unterscheiden. Die erste wird in der Diskussion üblicherweise unterschlagen. Dabei ist sie die grundlegendere und auch die schwieriger zu beantwortende: Obwohl die moralphilosophische Frage für die meisten Menschen vielleicht die am interessantesten ist, so ist sie doch die schwierigere. Sie erfordert nämlich nicht nur, den Begriff des freien Willens zu klären, sondern auch den der Verantwortlichkeit.7

Die vorliegende Arbeit versucht, letzteres zu leisten. Allerdings braucht sie nicht den Begriff der Willensfreiheit zu klären. Im Laufe der Untersuchung 7 Walter,

Goschke 2005, S. 106.

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wird sich zeigen, dass diese in Bezug auf den Verantwortungsbegriff, wie er in unserer abendländischen Gesellschaft verstanden und verwendet wird, keine notwendige Bedingung für Verantwortung darstellt. Die Beziehung zwischen der relevanten empirischen Forschung und dem Begriff der Verantwortung kurzzuschließen, stellt einen besonders vielversprechenden Ansatz dar, weil die Untersuchung dadurch nicht in einer unauflöslichen Debatte über einen Ausdruck gefangen ist, der zwischen widerstreitenden Intuitionen zerrieben wird. Wenn der Wille einer Person frei sein sollte, muss er unbestimmt sein. Jedoch darf er auch nicht ein willkürlicher sein, sondern muss durch Gründe bestimmt sein. Es scheint, als gäbe es keinen Mittelweg zwischen diesen beiden Intuitionen, der eine Erklärung des Verantwortungsbegriffs darstellen könnte, die allgemein anerkannt wird. Indem ich direkt nach den tatsächlichen Bedingungen von gerechtfertigten Verantwortungszuschreibungen frage, ohne vorauszusetzen, dass Willensfreiheit dazugehört, habe ich die Möglichkeit, die wirklich entscheidenden Fragen der Debatte in einem dogmatisch unbelasteten Kontext zu diskutieren. Die Arbeit ist in vier Kapitel aufgeteilt. Im ersten Kapitel werde ich die begriffliche Grundlage für die weitere Untersuchung legen. Ich gehe dort in zwei Schritten vor. Der erste besteht in der Beschäftigung mit der revisionistischen Argumentation. Zunächst destilliere ich aus der vorliegenden Literatur eine kohärente Position heraus. Es wird sich zeigen, dass diese eine deskriptive und eine präskriptive Komponente enthält. Die deskriptive Komponente fasst unseren tatsächlichen Verantwortungsbegriff als einen vergeltungsbasierten auf, demzufolge Verantwortungszuschreibungen auf der Basis der persönlichen Schuld der verantwortlichen Person gerechtfertigt werden. Die präskriptive Komponente besteht in der Forderung, diesen vergeltungsbasierten Verantwortungsbegriff durch einen konsequentialistischen zu ersetzen. Diese Forderung wird unter Verweis auf bestimmte empirische Erkenntnisse begründet. Wie ich zeigen werde, sieht sich die revisionistische Argumentation einem normativen Einwand gegenübergestellt. Dieser besagt, dass deskriptive Umstände aus begrifflichen Gründen keinen Einfluss auf unsere Verantwortungszuschreibungspraxis haben können. Der Grund dafür liege darin, dass der Verantwortungsbegriff ein normativer ist. Ich werde am Ende dieses ersten Schrittes darlegen, dass die normative Natur des Verantwortungsbegriffs empirische Erkenntnisse nicht prinzipiell irrelevant für die Frage macht, ob einer Person Verantwortung zugeschrieben werden sollte oder nicht. Auch deskriptive Bedingungen können dabei prinzipiell eine Rolle spielen. Der zweite Schritt besteht darin, zu untersuchen, welche deskriptiven Bedingungen tatsächlich relevant für diese Frage sind. Eine abschließende Antwort kann erst am Ende der gesamten Arbeit gegeben werden. Ich

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nähere mich aber bereits im ersten Kapitel einer Antwort an, indem ich untersuche, wie der Begriff in verschiedenen Kontexten verwendet wird und was in ihnen seine Funktion ist. Dadurch verfolge ich eine kontextgeleitete statt einer rein theoriegeleiteten Erklärung. Diese Herangehensweise wird zwei grundlegende Eigenschaften des Verantwortungsbegriffs zutage fördern: Erstens ist er ein Begriff, der verschiedene Elemente zueinander in Beziehung setzt, indem durch ihn jemandem aufgrund einer gewissen Norm Verantwortung für etwas aufgrund zugeschrieben wird. Zweitens fungiert er als Rechtfertigungsmittel für gewisse ansonsten verbotene Handlungen, wie zum Beispiel Bestrafung, Tadel und Kritik. Diese rechtfertigende Funktion erlangt der Begriff unter Beachtung einer Fairnessbedingung. Sie stellt den grundlegenden normativen Maßstab dar, an dem gemessen wird, ob eine Verantwortungszuschreibung gerechtfertigt ist. Daher ist es die Fairnessbedingung, die bestimmt, welche deskriptiven Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Verantwortungszuschreibung gerechtfertigt ist. Somit hat Verantwortung eine normative und eine deskriptive Dimension. Die Fairnessbedingung und alle anderen moralischen Normen, die bestimmen wie wir leben sollten, stellen die normative Dimension dar. Die deskriptive Dimension enthält zwei Ebenen, die ich den deskriptiven Mantel und den deskriptiven Kern der Verantwortung nenne. Der deskriptive Mantel der Verantwortung besteht aus den Normen und Gesetzen, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten. Der deskriptive Kern der Verantwortung besteht aus den Bedingungen, die eine Person erfüllen muss, damit ihr gerechtfertigterweise Verantwortung zugeschrieben werden kann. Wenn diese Bedingungen gegeben sind und ihr für eine negativ beurteilte Handlung Verantwortung zugeschrieben wird, trägt die Person persönliche Schuld daran; wenn sie gegeben sind und der Person für eine positiv beurteilte Handlung Verantwortung zugeschrieben wird, geschieht dies aufgrund eines persönlichen Verdienstes der Person. In diesen Fällen kann der Person Verantwortung im (wie ich es nennen möchte) eigentlichen Sinne zugeschrieben werden. Am Ende des Kapitels grenze ich den Bereich der Bedingungen, die den deskriptiven Kern der Verantwortung konstituieren, auf zwei Typen ein. Es wird sich zeigen, dass diese Bedingungen zugleich einerseits diejenigen sind, die für gerechtfertigte Zuschreibungen von kausaler Verantwortung gegeben sein müssen, und andererseits diejenigen, die für gerechtfertigte Zuschreibungen von Fähigkeitsverantwortung gegeben sein müssen. Das bedeutet, dass eine Person autonom Ereignisse in der Welt verursachen können muss, und dass diese Verursachung auf ihre Vernunft zurückführbar sein muss, damit ihr gerechtfertigterweise Verantwortung zugeschrieben werden kann. Diese Bedingungen, die neuronal durch die psychischen Prozesse des Gehirns einer Person realisiert werden, können prinzipiell empirisch untersucht werden. Ich schließe also das erste Kapitel

Einleitung

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mit der Erkenntnis, dass es recht genau spezifizierte deskriptive Bedingungen gibt, die Verantwortungszuschreibungen fair und gerechtfertigt machen und dass es keinen Grund gibt, aus dem diese nicht empirisch untersucht werden können sollten. In den nächsten beiden Kapiteln erkläre ich dann nacheinander die zwei Typen von notwenigen Bedingungen. Ich beginne im zweiten Kapitel mit der Bedingung der Autonomie. Dort setze ich mich auch mit der konkreten empirischen Herausforderung auseinander. Diese neue, empirisch motivierte und begründete Herausforderung besagt, dass bewusste, mentale Ereignisse und Zustände wie etwa Willensentscheidungen generell keine kausale Relevanz im Hinblick auf die Entscheidungen und das Verhalten von Personen haben.8

Die These, dass bewusste, mentale Ereignisse und Zustände keine kausale Relevanz haben, ist die These des Epiphänomenalismus. Dieser besagt, dass solche Zustände lediglich Epiphänomene sind, also Zustände und Ereignisse, die zusätzlich zur tatsächlichen kausalen Verursachung bestehen, diese aber nicht beeinflussen. Zu Beginn des zweiten Kapitels werde ich die Form des epiphänomenalistischen Arguments darstellen und zeigen, welche Prämissen es bei verschiedenen ontologischen Hintergrundtheorien enthält. Es wird sich zeigen, dass sich eine ernstgenommene revisionistische Argumentation innerhalb eines monistischen Rahmens bewegt. In diesem Rahmen werden Körper und Geist als aus derselben Substanz konstituiert verstanden; sie sind beide Teil der naturwissenschaftlich beschreibbaren Welt. Ich werde ab diesem Punkt eine monistische Erklärung der Körper-Geist-Beziehung voraussetzen, ohne im Detail dafür argumentiert zu haben. Eine weitere Voraussetzung, die ich an dieser Stelle machen werde, betrifft die handlungstheoretische Hintergrundtheorie. Ich werde die Standardinterpretation von Handlungserklärungen als richtig voraussetzen, derzufolge Handlungen Ereignisse sind und Gründe Ursachen. Wenn die revisionistische Argumentation ernstgenommen werden soll, muss eine solche handlungstheoretische Hintergrundtheorie vorausgesetzt werden. Im Detail für diese Theorie argumentieren kann ich im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht. Die Darstellung der Form des epiphänomenalistischen Arguments zeigt, dass es von einer bestimmten Dichotomie abhängt. Es baut auf der Unterscheidung zwischen zwei Arten von möglichen Handlungsursachen auf und behauptet dann, dass nur die Zustände und Ereignisse der einen Art, entgegen des ersten Anscheins, tatsächlich als Handlungsursachen in Frage kommen. In der revisionistischen Argumentation besteht diese Dichotomie in der Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten mentalen Zustän8 Walde

2006, S. 18.

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Einleitung

den. Dies werde ich zeigen, indem ich die einschlägigen empirischen Studien, die zur Unterstützung der revisionistischen Argumentation herangezogen werden, einer eingehenden und kritischen Analyse unterziehe. In dieser Analyse wird sich zeigen, dass die Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten unmittelbaren Handlungsursachen sowohl aus begrifflichen als auch aus empirischen Gründen keine Relevanz für die Frage hat, ob eine Handlung autonom verursacht wurde oder nicht. Aus diesem Grund werde ich im zweiten Teil des zweiten Kapitels eine andere Erklärung der Unterscheidung zwischen selbstbestimmten und fremdbestimmten Handlungen entwickeln. Zu diesem Zweck stelle ich zuerst eine kompatibilistische Argumentationsstrategie vor. Diese zeigt, dass autonomes Handeln auch unter der Bedingung möglich ist, dass die Welt physikalisch determiniert ist. Diese Argumentationsstrategie baut auf dem von mir so genannten „Prinzip der eigenen Gründe“ auf. Eine Handlung ist diesem Prinzip zufolge dann selbstverursacht, wenn sie durch die eigenen Gründe der Person verursacht ist. Was die eigenen Gründe einer Person konstituiert, erkläre ich dann im Folgenden anhand des Begriffs des Tiefen Selbst. Das Tiefe Selbst macht den tatsächlichen Charakter bzw. die Persönlichkeit einer Person aus. Wenn eine Handlung so durch (physikalisch realisierte) mentale Zustände verursacht wird, dass das Tiefe Selbst durch sie ausgedrückt wird, ist sie selbstbestimmt. Ich stelle verschiedene Möglichkeiten vor, wie das Tiefe Selbst ontologisch erklärt werden kann und argumentiere dafür, dass es als aus den natürlichen Neigungen der Person konstituiert verstanden werden muss. Diese ontologische Erklärung der Bedingungen autonomen Handelns lässt uns mit der epistemischen Frage zurück, wie die Gemeinschaft, die Autonomie und kausale Verantwortung zuschreibt, erkennen kann, dass diese Bedingungen gegeben sind. Dies erkläre ich anhand des Begriffs des Öffentlichen Selbst. Dieses wird von der Gemeinschaft narrativ konstruiert und stellt die Identität der Person dar, wie sie von anderen gesehen wird. Mit Hilfe einer solchen narrativen Konstruktion kann die tatsächliche Persönlichkeit der Person hinreichend zuverlässig identifiziert werden, um ihr gerechtfertigterweise Autonomie und kausale Verantwortung zuschreiben zu können. Weil kausale Verantwortung aber nicht hinreichend dafür ist, dass einer Person auch Verantwortung im Vollblutsinne zugeschrieben werden kann, erkläre ich im dritten Kapitel wie die zusätzlich notwendige Bedingung der Vernunft verstanden werden muss. Zunächst werde ich zwei Arten von rationaler Kontrolle unterscheiden: Kontrolle, die relativ zu den Neigungen der Person ist, und Kontrolle über diese Neigungen selbst. Damit eine Person fairerweise verantwortlich gemacht werden kann, müssen beide Formen der Kontrolle vorhanden sein. Rationale Kontrolle der eigenen Neigungen und damit der eigenen Persönlichkeit muss relativ zu objektiv