Der Begriff der Krise im Werk von Vygotskij

turhistorischen Schule schon während des Diplom- und Master-Studiums zu beginnen. Eine en ... 2011: Lehmanns Media • Berlin. ISBN: 978-3-86541- - ... Die Psychologie braucht ihr „Kapital“, so Vygotskij (1985a, 252), sie braucht.
1MB Größe 8 Downloads 455 Ansichten
ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Diplom Jan Steffens Der Begriff der Krise im Werk von Vygotskij

Jan Steffens

Der Begriff der Krise im Werk von Vygotskij

Berlin 2011

ICHS Reihe Diplom Mit der besonderen ICHS-Reihe Diplom verfolgen wir mehrere Absichten. Erstens möchten wir dadurch anregen, Forschungsarbeiten im Kontext der Kulturhistorischen Schule schon während des Diplom- und Master-Studiums zu beginnen. Eine en tsprechende Publikationsreihe existiert leider bislang nicht. Wir sind jedoch der Meinung, dass eine Publikationsmöglichkeit für gu te Arbeiten geeignet ist, diese Anregungen zu geben und zugleich zu verhindern, dass selbst wertvolle Arbeiten wie bisher in den Archiven der Prüfungsämter verschwinden und für die interessierte Scientific Community nicht verfügbar sind. Zweitens verbinden wir damit die Hoffnung, dass die in dieser Reihe publizierenden angehenden Wissenschaftler am Diskurs der Scientific Community weiterhin aktiv teilnehmen und mit ihren späteren Publikationen der Reihe treu bleiben. Drittens hoffen wir, d ass die in der Reihe publizierenden Autoren die Chance nutzen, auch untereinander in Kontakt zu treten, und sehen darin eine Chance, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Schließlich erwarten wir gerade von solchen Arbeiten kreative, unorthodoxe und innovative Fragestellungen, Ideen und Strategien sowie eine unve rstellte Nähe zu den aktuellen Entwicklungen in der gesellschaftlichen Praxis und damit wichtige Anregungen für die theoretische Dis kussion und Weiterentwicklung der Tätigkeitstheorie selbst. Hartmut Giest und Georg Rückriem Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Jan Steffens Der Begriff der Krise im Werk von Vygotskij © 2011: Lehmanns Media • Berlin ISBN: 978-3-86541--

www.ich-sciences.de

www.lehmanns.de

5

Inhaltsverzeichnis Vorwort: Vygotskijs dialektische Krisentheorie

7

1. Einleitung

18

2. Entwicklungspsychologie

20

2.1 Methodologie

20

2.2 Kultur, Sprache und Bewusstsein

24

2.3 Die Dominante als Schlüssel

30

2.4 Die Einheit affektiv-kognitiver Prozesse

33

3. Krise und Entwicklung

37

3.1 Altersstufen und krisenhafte Übergänge

37

3.2 Struktur und Dynamik der Altersstufen

42

3.3 Die Kategorie des Erlebens

46

3.4 Die Zone der nächsten Entwicklung

49

3.5 Der Kern der Krise

54

3.6 Das Verhältnis Affekt und Intellekt

63

4. Die raumzeitliche Struktur intersubjektiver Prozesse

72

4.1 Semiosphären

73

4.2 Chronotopoi

78

4.3 Geist als Feldrelation

80

5. Behindertenpädagogische Aspekte

84

5.1 Vygotskijs Defektologie

84

5.2 Krisen und Behinderung

86

6. Ausblick

96

7. Literatur

98

6

Meinen Eltern gewidmet

7

Vorwort: Vygotskijs dialektische Krisentheorie Wolfgang Jantzen

„Dialektik als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs. Hauptgesetze: Umschlag von Quantität und Qualität – Gegenseitiges Durchdringen der polaren Gegensätze und Ineinander-Umschlagen, wenn auf die Spitze getrieben – Entwicklung durch den Widerspruch oder Negation der Negation – Spirale Form der Entwicklung.“ (Friedrich Engels; 1971, 307) „Die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten kann einen Affekt, sofern sie wahr ist, nicht hemmen, sondern allein, sofern sie als Affekt angesehen wird.“ (Baruch de Spinoza, Ethik IV, Lehrsatz 14) „Geist ist weder Gegenstand noch das Bewusstsein, sondern die Beziehung beider“ (Hans Heinz Holz 2010, 228)

Vygotskijs außerordentliche Denkleistung bleibt unerschlossen, sofern man nicht ihre enzyklopädische Anlage als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs und ihre dialektische Natur dechiffriert. Dabei reicht es jedoch nicht, wie Hegel die Bewegungen des objektiven Geistes in ihrer Bewegung zu rekonstruieren, immer zurückgekoppelt an die Anerkenntnis der Materialität der Welt, noch reicht es, das vom Kopf-auf-die-Füße-Stellen dieser Dialektik durch Marx, Engels und Lenin auf dem Hintergrund von Engels „Dialektik der Natur“ und Marx’ens Kapital als der entscheidenden Grundlagen eines sowohl dialektischen wie historischen Materialismus in den Mittelpunkt zu stellen. In beiden Philosophien rückt der lebendige Mensch, im System der marxistischen Philosophie und Sozialwissenschaft später gerne als„subjektiver Faktor“ gekennzeichnet, nicht in entscheidender Weise ins Zentrum der Analyse. Entsprechend zu verstehen ist Vygotskijs Plädoyer für einen psychologischen Materialismus, dessen Vorläufer er zu Recht in Spinozas Philosophie findet. Dies bedeutet aber zugleich das Verhältnis von Natur und Gesellschaft in neuer Weise zu betrachten, und an Stelle einer häufig versuchten „Bündnisübereinkunft“ zwischen Marxismus und Psychoanalyse zwecks Überwindung dieser Leerstelle der Subjektivität eine eigenständige marxistische Psychologie zu entwickeln, fern jeder Verdinglichung des Psychischen.

8 Die Psychologie braucht ihr „Kapital“, so Vygotskij (1985a, 252), sie braucht ihre eigenständige Methodologie (ebd. 256) und sie braucht die Aufdeckung einer auf allen Niveaus der Entwicklung ihre Selbstähnlichkeit sichernde „Zelle“ des Ganzen (, so in Anspielung auf die Ware als Einheit von Wert und Gebrauchswert, Naturalform und Wertform, als Keimzelle der (nicht nur) bürgerlichen Gesellschaft (Marx, 1979, Kap. 1). Man kann die Dialektik nicht von außen in die Psychologie hineintragen – dies ist der entscheidende Grundgedanke. Insofern ist bei Vygotskij einerseits die umfassende Rückversicherung in Philosophie und Humanwissenschaften seiner Zeit, deren Ergebnisse jeweils vom Standpunkt der Forschung gelesen, unabdingbar. Unabdingbar aber ist zugleich die Entwicklung der Methodologie eines psychologischen Materialismus. Beides zusammen, das enzyklopädische Prinzip verbunden mit der Entwicklung der Dialektik der Psychologie, also ihrer Entwicklungs- und Bewegungsgesetze, ist nicht nur ein Korrektiv „gegen die Faktenhuberei eines begrifflosen Empirismus und gegen das überfließende Denken einer von den Erfahrungswissenschaften abgehobenen Philosophie“,

wie Holz dies in Würdigung von Engels Prinzips des Gesamtzusammenhangs hervorhebt (Holz 2010, 415), nein es ist auch ein mehr als deutliches Korrektiv gegen die Verdinglichung von Menschen durch herrschende Politik generell, insbesondere aber gegen alle Verdinglichungen durch einen herrschaftsförmig ideologisierten Marxismus. Der Begriff der Persönlichkeit, des Subjekts ist – mit Hegel gesprochen – wie jeder andere Begriff in seiner Entwicklung notwendiger Weise „das eigene Selbst des Gegenstandes […], das sich als sein Werden darstellt, ist […] nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzien trägt, sondern der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff“ (Hegel, 1970a, 57). Doch ist „die Erkenntnis, welche nur bei dem Begriff rein als solchem steht noch unvollständig“ weil „der Begriff noch nicht seine eigene, aus ihm selbst erzeugte Realität sich gegeben hat.“ (Hegel 1970b, 263f).

Ihm diese, aus sich selbst erzeugte Realität zu geben, ist Aufgabe des zu entwickelnden psychologischen Materialismus, als Methodologie und allgemeiner Philosophie des Faches. Die von Hegel ins Spiel gebrachte mehrwertige Logik, eine dialektische Logik der Entwicklung in der Zeit, eine Logik, die von Prozessen, von Bewegungen ausgeht, hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine Neuauflage sowohl in der Kybernetik zweiter Ordnung (insbesondere Heinz von Förster, u.a. auch Francisco Varela) als auch in ihre logischen Formalisierung durch Gotthard Günther erhalten. Unterstützt werden diese Positionen in mehrfacher Hinsicht durch

9 die modernen Naturwissenschaften in nahezu allen ihren Bereichen, u.a. die Selbstorganisationstheorie, die sich mit der Entstehung von Komplexität beschäftigt. Entwicklung muss notweniger Weise selbstähnlich sein, eine Selbstähnlichkeit, die auch nach qualitativer Umgestaltung an überkritischen Punkten der Entwicklung, an „Wasserscheiden“ (um einen Begriff des Evolutionsbiologen Waddington (1975) zu verwenden, erhalten bleibt (vgl. Prigogine & Nicolis, die bezogen auf diese Wendpunkte von Bifurkationsstellen sprechen). Derartige systembildende Faktoren heißen in der Terminologie von Marx bzw. Vygotskij „Zellen“ oder „elementare Einheiten“ bzw. „Eigenwerte“ oder „Eigenverhalten“ in der Terminologie von Heinz von Foerster (1993). Für Spinoza – in notwendiger Überwindung der cartesischen Zweiteilung in denkende und ausgedehnte Substanz – ist die elementare Einheit, von der aus alle Lebensprozesse zu begreifen sind, der beseelte bzw. denkende Körper in der Welt (so mit den Worten von Evald Il’enkov, 1994, ausgedrückt), also eine Einheit, die vergleichbar der Leibnizschen Monade, jedoch nicht auf percepciones (Wahrnehmungen) reduziert, sich aktiv und reflexiv als beseelter Körper in der Welt zu dieser verhält. Um in seinem Sein verbleiben zu können, ist der beseelte Körper in der Welt jedoch ständig genötigt, seine Erfahrungen umzuschreiben, neu zu generieren. Dies geschieht reflexiv über seine Affekte. Die Affekte des Handelns (actiones) und des Erleidens (passiones) leisten in Auseinandersetzung mit der Welt die Vermittlung mit der Welt. Sie schlagen sich je nach Resultat des eigenen Handelns als Freude (letitia) oder Trauer (tristitia) nieder. Auf diesen Grundannahmen beruht die Genesis aller weiteren Affekte und Ideen. Anders als Hegel oder Marx bezogen auf Kultur, Produktion, Gesellschaft, Sprache als historischen Körper der Menschheit in Bewegung, anders aber auch als die Kybernetik zweiter Ordnung, die sich nahezu ausschließlich auf kognitive Prozesse bezieht , entwickelt Spinoza hier eine materialistische Basis zur Überwindung des sog. Leib-Seele-Problems, dessen Kern das Problem der Qualia, also das der Emotionen bildet. Und an eben diesem Kern setzt Vygotskijs methodologische Suche nach der Begriffstruktur des psychologischen Materialismus an, wie es die durchgängige Befassung mit der Einheit von affektiven und kognitiven Prozessen von den Anfängen bis in das Spätwerk eindrucksvoll demonstriert. In naturwissenschaftlicher Hinsicht geschieht dies im Aufgreifen der methodologischen Bedeutung von Uchtomskijs Idee eines Affekte und Kognitionen vereinenden funktionellen Systems, der Dominante, als integrativer Struktur psychophysiologischer Prozesse in der Vorlesung über Pädagogische Psychologie zu Beginn der 20er Jahre (Vygotskij 1997) sowie der eigenständigen Forschung zu die-

10 sem Aspekt von 1926 (Vygotskij 2004a; vgl. Jantzen 2004). In geisteswissenschaftlicher Hinsicht lässt sich diese Spur in den frühen kunstpsychologischen Arbeiten, insbesondere in der Psychologie der Kunst von 1926 verfolgen (Vygotskij 1995), fortgeführt über die Kategorie des Dramas als zentraler persönlichkeitstheoretischer Dimension bis in das Spätwerk.. Die erste große methodologische Arbeit zur „Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung“ (Vygotskij 1985a) ist noch den Problemen der wissenschaftlichen Gewinnung und Justierung von Begriffen generell gewidmet, die causa sui in der methodologischen Arbeit der Psychologie selbst begründet werden müssen und weder aus der Philosophie, noch aus einer der beiden dualistisch gespaltenen Psychologien, einer naturwissenschaftlichen und einer introspektiven, gewonnen werden können. Die „Zelle“ der Psychologie muss gefunden werden (a.a.O. 233), ähnlich jener der Ware im Kapital von Karl Marx. Sie kann nur in der notwendigen Einheit und Verschiedenheit von Affekt und Intellekt liegen, wie das die Psychologie der Kunst eindrucksvoll andeutete. Aber diese Einheit ist in eine Welt versetzt, in der sie sich zwischen Biologischem und Sozialem entwickelt, deren Einheit und Verschiedenheit nicht mit der lange Zeit noch benutzten Terminologie von niederen und höheren psychischen Funktionen gedacht werden kann. Der innere Kern der Krise, der rückständigste Teil der Psychologie. ist die cartesisch-dualistische Behandlung des Themas der Emotionen, so Vygotskijs Analyse in dem sog. „Spinoza-Manuskript“ über die „Lehre von den Emotionen“ (Vygotskij 1996). Daher muss Vygotskij zu einer völlig anderen Anlage der Entwicklungspsychologie kommen, die das Kind von Anfang an als sozial, auf Gesellschaft qua Natur angewiesen rekonstruiert. Dies drückt sich aus in dem radikalen Begriffswandel zu rudimentärer und idealer Form anstelle von höherer und niederer Form sowie in der theoretischen Fassung der Problematik in einem völlig neuen Begriff von Entwicklung, der erstmals im Manuskript über das Säuglingsalter (Vygotskij 1987a) aufscheint, mit dem ich den Beginn des Spätwerks datiere (vgl. Jantzen 2004), der im Verhältnis der beiden Formen rudimentär und ideal in besonderer Klarheit in dem Aufsatz über das Problem der Umgebung von 1933 formuliert wird: „Something which is only supposed to take shape at the very end of the development, some-how influences the very first steps of this development.” (Vygotskij 1994, 348)

Dies ist eine Form von Entwicklung, die mit keiner andere Form (Evolution, gesellschaftliche Entwicklung) zu vergleichen ist. Dies führt notwendigerweise dazu, den Übergängen in dieser Entwicklung, als Übergänge im Verhältnis von Biologischem und Sozialem, vermittelt über das Erleben, besondere Beachtung