Das Problem der Wahrnehmung

insbesondere auch Michael Schütte, Bernhard Thöle sowie meinem Vater Peter ..... Vgl. z.B. die entsprechenden Buch- und Aufsatztitel bei Crane 2006b, ...
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Staudacher ·

Das Problem der Wahrnehmung besteht darin, eine plausible Antwort auf eine scheinbar einfache Frage zu finden: »Was sind die unmittelbaren Gegenstände der Wahrnehmung?« Die nahe liegende Commonsense-Antwort, dass es sich dabei um die physischen Gegenstände in der Umgebung des Betrachters handelt, wird durch eine Reihe von Argumenten in Frage gestellt, die vor allem auf den Umstand abheben, dass uns Dinge in der Wahrnehmung oft anders erscheinen als sie de facto beschaffen sind bzw. uns etwas in der Wahrnehmung erscheinen kann, obwohl gar kein entsprechender Gegenstand vorhanden ist. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden diese Argumente als Stütze für die so genannten Sinnesdatentheorien (z.B. von Russell und Moore) angesehen, die heute gemeinhin als äußerst unattraktiv gelten. Das Buch untersucht, wie unattraktiv solche Theorien tatsächlich sind, und welche Schwierigkeiten sich für deutlich populärere Alternativvorschläge wie die Adverbialtheorie, den so genannten Repräsentationalismus sowie relationale Theorien wie etwa die Theorie des Erscheinens ergeben.

DAS PROBLEM DER WAHRNEHMUNG

Alexander Staudacher

ISBN 978-3-89785-683-7

DAS PROBLEM DER WAHRNEHMUNG

Staudacher · Das Problem der Wahrnehmung

Alexander Staudacher

Das Problem der Wahrnehmung

mentis PADERBORN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Einbandabbildung: tiefer brunnen © Sabine Klenke (fotolia.com )

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© 2011 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-683-7

Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit ist die stark überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift »Untersuchungen zum Problem der Wahrnehmung«, die im August 2008 an der Fakultät für Geistes- Sozial- und Erziehungswissenschaften der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg eingereicht und im März 2009 angenommen wurde. Ich möchte diese Zeilen gerne dazu nutzen, um mich bei denen zu bedanken, die mir die Abfassung dieser Arbeit ermöglicht bzw. mich dabei unterstützt haben. Zu allererst gilt mein herzlicher Dank den Gutachtern der Arbeit, Arno Ros, Georg Lohmann (beide Magdeburg) und Michael Pauen (Humboldt-Universität zu Berlin) für ihre wohlwollende und zügige Begutachtung. Alle drei haben im Verlauf der Jahre unterschiedliche Forschungskolloquien angeboten, durch deren Teilnehmer ich Anregungen und Kritik erfahren habe und die mich vor manchem geistigen Kurzschluss bewahrt haben. Für Diskussionen und Kritik danke ich insbesondere auch Michael Schütte, Bernhard Thöle sowie meinem Vater Peter Staudacher. Herrn Michael Kienecker danke ich für äußerst professionelle und entgegenkommende verlegerische Begleitung und Barthold Pelzer für unabdingbare Hilfe beim Korrekturlesen. Mein besonderer Dank gilt darüber hinaus Arno Ros, der mir in der Zeit als sein wissenschaftlicher Assistent alle erdenkliche Unterstützung zu Teil werden ließ und meinem Projekt trotz manchmal auch nicht unerheblicher Differenzen in der Sache immer mit der größtmöglichen Aufgeschlossenheit gegenüber stand. Meine Eltern haben mir auch in etwas schwierigeren Phasen der Arbeit viel moralische Unterstützung gewährt. In der Phase der Überarbeitung hat Flavia Cabral Moreira dafür gesorgt, dass es für mich auch noch eine Welt jenseits von Sinnesdaten, repräsentationalen Gehalten und adverbialen Modifikationen gab. Berlin, im März 2011

Alexander Staudacher

Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 2

2.1 2.2 2.2.1 2.3 2.3.1 2.4 3 3.1 3.2 3.2.1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Wahrnehmung und die Sinnesdatenthese Sinnesdatentheorien: Indirekter Realismus und Phänomenalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der direkte Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungen als phänomenal bewusste Zustände . . . Das Problem der Wahrnehmung und das Leib-Seele-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu einigen methodischen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11 16

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19 24 26 27

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29 30

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Direkte und indirekte Wahrnehmung – oder – Was kann es heissen, dass wir physische Gegenstände nur mittelbar wahrnehmen? . . . . . . . Eine hoffnungslos unklare Unterscheidung? . . . . . . . . . . . Die epistemische Form der U-M-Unterscheidung . . . . . . . Probleme mit der epistemischen U-M-Unterscheidung . . . . Die nicht-epistemische Form der U-M-Unterscheidung . . . Die kontextualistische Kritik an Jacksons nicht-epistemischer U-M-Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wie uns die Welt in der Wahrnehmung erscheint Drei Bedeutungen von »aussehen« . . . . . . . . . . . . . . . . Der epistemische Sinn von »aussehen« . . . . . . . . . . . . . Die Meinungstheorie der Wahrnehmung und ihre Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Exkurs: Gehalt und nicht-begrifflicher Gehalt . . . . . . . . . 3.2.3 Wahrnehmungen als rechtfertigende Gründe: Die konzeptualistische Kritik am Feinkörnigkeitsargument . . . 3.2.3.1 Der Schachzug mit den demonstrativen Begriffen . . . . . . 3.2.3.2 Fünf Einwände gegen den Schachzug mit den demonstrativen Begriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Zwei kurze Anmerkungen zum konzeptualistischen Modell der epistemischen Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der komparative Sinn von »aussehen« . . . . . . . . . . . . . 3.4 Einige Anmerkungen zur Vermeidung von Missverständnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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33 33 38 39 48

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64 70

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73 73 75

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. . . . 104 . . . . 109 . . . . 115 . . . . 118

8 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5 5.1 5.1.1 5.2 5.2.1

Inhaltsverzeichnis

Zwei Argumente zur Stützung der Sinnesdatenhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kurzer Blick auf andere Sinnesdatenargumente . . . . Das Argument von der Relativität der Wahrnehmung . . . Ein auf Halluzinationen gestütztes Sinnesdatenargument Von der Kritik am Halluzinationsargument zum Disjunktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das kausale Argument der Halluzination für Sinnesdaten

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5.2.4 5.3 6 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.4

Die Adverbialtheorie der Sinneserfahrung Ducasses Version der Adverbialtheorie . . . . . . . . . Sellars’ Version der Adverbialtheorie . . . . . . . . . . Semantische Probleme der Adverbialtheorie . . . . . Tyes Ereignisversion der Adverbialtheorie . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 7.1 7.2 7.2.1

Der Repräsentationalismus . . . . . . . . . . . . . . . Die drei Merkmale intentionaler Zustände . . . . . . . . Der reduktive Repräsentationalismus . . . . . . . . . . . . Einwände gegen den reduktiven Repräsentationalismus

5.2.1.2 5.2.1.3 5.2.1.4

5.2.2 5.2.3

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121 121 123 136

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Sinnesdaten und ihre Schwierigkeiten . . . . . . . . . Sinnesdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Akt-Objekt-Konzeption der Sinneserfahrung . . . . . . Probleme mit Sinnesdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führt der indirekte Realismus zu skeptischen Konsequenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Vorklärungen oder: Was heißt es ein indirekter Realist zu sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verteidigungsstrategie des indirekten Realismus: Rekurs auf den Schluss auf die beste Erklärung . . . . . . . . Enthält der Schluss auf die Außenwelt eine petitio principii? Stellt der Schluss auf eine physische Außenwelt die einfachste Erklärung für die Ordnung unserer Sinnesdaten dar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Unbestimmtheit: Von gefleckten Hennen und des Tigers Streifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Intransitivität oder Armstrongs Stoffmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo befinden sich Sinnesdaten eigentlich? . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.2.1.1

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151 151 157 159

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. . . . 170 . . . . 174 . . . . 181 . . . . 183 . . . . 187 . . . . . .

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189 194 198 208 215 218

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221 223 228 237

9

Inhaltsverzeichnis

7.2.1.1 Lässt sich phänomenaler Charakter auf nicht-begrifflichen Gehalt zurückführen, der zur kognitiven Weiterverarbeitung bereitsteht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1.2 Zum Unterschied zwischen phänomenalem Charakter und externalistisch verstandenem repräsentationalem Gehalt . . . 7.2.1.3 Die Transparenzintuition – eine geeignete Motivation für den reduktiven Repräsentationalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1.4 Drei Gründe, warum sich Tye nicht auf die Transparenzthese berufen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Der nicht-reduktive Repräsentationalismus . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Searles Konzeption von Sinneserfahrung . . . . . . . . . . . . . 7.3.1.1 Probleme von Searles Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Chalmers’ Auffassung von Sinneserfahrung . . . . . . . . . . . 7.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.5.1 8.2.5.2 8.2.5.3 8.3 8.3.1 8.4 8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.3.1 8.4.3.2 8.4.3.3

. . . 237 . . . 238 . . . 244 . . . . . .

Relationale Theorien der Wahrnehmung . . . . . . . . Unterschiedliche Arten von relationalen Theorien der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Theorie des Erscheinens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die TdE und die Theorie der multiplen Lokalisation . . . . . . Lassen sich alle phänomenal erscheinenden Eigenschaften als Relationen zu Betrachtern interpretieren? . . . . . . . . . . . . . . Die TdE und die kausale Theorie der Wahrnehmung . . . . . . Die TdE und das Problem der Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . Die TdE und das Problem der Halluzination . . . . . . . . . . . . Erste Möglichkeit: Auch im Fall der Halluzination erscheint uns etwas Physisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Möglichkeit: Versuche zur Entschärfung und Umgehung des GUGW-Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschiedene Wirkungen bei gleicher Ursache? Der Vorschlag von Langsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johnstons Konzeption der »empfindbaren Profile« . . . . . . . . Probleme von Johnstons Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die epistemische Konzeption der Halluzination . . . . . . . . . Die Grundidee in groben Zügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünf Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antworten auf die Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fishs Reaktion auf die Schwierigkeiten des EKH-Disjunktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme mit Fishs Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martins Antwort auf die Schwierigkeiten des EKH-Disjunktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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249 256 261 262 263 270

. . 273 . . 273 . . 276 . . 282 . . . .

. . . .

283 292 298 299

. . 302 . . 308 . . . . . . .

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310 319 326 333 333 335 337

. . 337 . . 339 . . 342

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Inhaltsverzeichnis

8.4.3.4 Probleme mit Martins Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 8.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 9

Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Literaturverzeichnis

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

1 Einleitung Die Rede von dem Problem der Wahrnehmung kann in zweifacher Hinsicht merkwürdig oder sogar fragwürdig erscheinen. Erstens ist wie bei so manchem philosophischen Problem auf Anhieb vielleicht gar nicht klar, worin es eigentlich besteht bzw. ob hier überhaupt ein Problem vorliegt. Zweitens hat sich die Philosophie der Wahrnehmung nicht nur mit einem einzigen, sondern mit einer ganzen Reihe von Fragestellungen und Problemen beschäftigt. Gleichwohl hat es sich eingebürgert, gerade ein ganz besonderes Problem als das Problem der Wahrnehmung zu bezeichnen. 1 Diese Einleitung dient zum einen dem Zweck, dieses Problem kurz kenntlich zu machen. Dies beinhaltet einen kleinen Überblick zu den Überlegungen, die zu ihm führen, sowie zu den üblichen Strategien, auf dieses Problem zu reagieren. Darüber hinaus soll eine kurze Abgrenzung zum gewissermaßen in der Nachbarschaft befindlichen Leib-Seele-Problem erfolgen sowie die Markierung einiger zentraler Voraussetzungen, für die nicht eigens in extenso argumentiert werden soll. Schließlich sollen noch einige methodologische Fragen angesprochen werden, die einem angesichts der Art und Weise in den Sinn kommen können, wie hier die entscheidenden Fragen formuliert werden. Vorab sei allerdings schon gesagt, dass die anstehenden Fragen wie in der Philosophie der Wahrnehmung meist üblich, fast ausschließlich mit Blick auf die visuelle Wahrnehmung diskutiert werden sollen. Wenn man einmal von Geruchsund Geschmackssinn absieht, die spezifische Eigentümlichkeiten besitzen, indem sie unseren körperlichen Empfindungen am nächsten sind, werden sich die zentralen gewonnenen Einsichten aber auch cum grano salis auf die anderen Sinne übertragen lassen. 2 Was ist nun also das Problem der Wahrnehmung? Kurz gesagt, besteht es darin, eine befriedigende Antwort auf die Frage zu geben, was die unmittelbaren Gegenstände der Wahrnehmung sind. Damit dürfte auch schon klar sein, warum nicht so ohne weiteres ersichtlich ist, dass hier überhaupt ein Problem vorliegt. Ist die Antwort auf diese Frage nicht geradezu trivial? Denn sieht man einmal von der

1

Vgl. z.B. die entsprechenden Buch- und Aufsatztitel bei Crane 2006b, Quinton 1955/65 und Smith 2002. Manchmal wird auch von den Problemen der Wahrnehmung gesprochen, obwohl dieselbe einheitliche Fragestellung gemeint ist (vgl. etwa den Titel von Hirst 1959). 2 Manche Autoren fassen auch Körperempfindungen wie Schmerz als Formen der Wahrnehmung auf, nämlich als Wahrnehmung dessen, was im eigenen Körper vorgeht (vgl. etwa Armstrong 2 1993, Kap. 14, Armstrong 1962 sowie Pitcher 1970). Für die Gegenthese vgl. u.a. Ros 2005, 514f.

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1. Einleitung

klärungsbedürftigen Rede von »unmittelbar« ab, wird man vom Standpunkt des Commonsense natürlich antworten wollen: Was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, sind schlicht solche Dinge wie Bäume, Stühle, Menschen und vielleicht noch etwas ephemerere Gebilde wie Schall und Rauch, kurz Dinge, die wir im folgenden als physische Gegenstände bezeichnen wollen. Die Antwort auf diese Frage erscheint nicht nur trivial, es ist nicht einmal so ohne weiteres klar, ob es überhaupt eine sinnvolle Alternative zu ihr gibt. Wenn hier also überhaupt ein Problem vorliegt, welches den Namen verdient, dann sollte sich entweder zeigen lassen, dass diese Antwort falsch ist oder doch zumindest, dass ihre Wahrheit keine Trivialität darstellt. Zum besseren Verständnis des Problems der Wahrnehmung lohnt es sich, sich eine Reihe von weiteren Binsenweisheiten über die Wahrnehmung bzw. über das, was wir wahrnehmen, zu vergegenwärtigen. Allen Gegenständen der Wahrnehmung sind offenbar die folgenden Merkmale gemeinsam: Sie lassen sich in Raum und Zeit verorten und sind intersubjektiv zugänglich. Ihre Existenz und ihre Beschaffenheit ist unabhängig davon, dass bzw. ob sie jemand wahrnimmt oder zum Gegenstand irgendeiner anderen seiner kognitiven Aktivitäten macht (über sie nachdenkt, ihre Existenz herbeiwünscht usw.). Was den letzten Punkt betrifft, so können wir vom Realismus des Commonsense sprechen. Was immer sich zugunsten irgendeiner beliebigen Version von Idealismus vorbringen lassen mag, kurz, einer Spielart der Auffassung, dass alles, was existiert, nur insofern existiert, als es Gegenstand einer geistigen Aktivität ist, es wird kaum die These sein, dass der Idealismus prima facie die beste Rekonstruktion des Commonsense darstellt. Dieser Realismus beinhaltet keine weitergehenden philosophischen Thesen von der Art wie etwa, dass die Welt in Wahrheit ganz anders beschaffen ist, als sie sich unseren Sinnen jemals zeigen kann, oder dass wir niemals herausfinden können, wie sie wirklich beschaffen ist. Er ist schlicht die Voraussetzung für solch triviale Annahmen wie die, dass die Gegenstände der Wahrnehmung gesucht und gefunden werden können und dass sie sich uns manchmal wider unseren Willen aufdrängen, indem wir nicht umhin können, sie wahrzunehmen, so dass ihre Existenz und Beschaffenheit insofern nicht von uns abhängen kann. Eine weitere Binsenweisheit ist, dass uns unsere Wahrnehmung über die Beschaffenheit und Existenz der so verstandenen Dinge in Kenntnis setzen kann. So informiert uns die visuelle Wahrnehmung u. a. über die Farbe und Gestalt von Gegenständen, ihre relative Größe zueinander und ob sie in Bewegung oder Ruhe sind, die taktile Wahrnehmung hingegen über ihre Härte und ihre Gestalt usw. Ist die Wahrnehmung veridisch, dann informiert sie uns nicht nur über die Existenz dieser Gegenstände, sondern auch über ihre tatsächliche Beschaffenheit. Unsere Wahrnehmung informiert uns dabei nicht einfach über diese Gegenstände bzw. ihre Eigenschaften. Vielmehr werden uns diese in der Wahrnehmung in einer besonderen Weise präsentiert, wie dies bei anderen mentalen Zuständen wie Gedanken, Überzeugungen und Wünschen nicht der Fall ist. So ist

1. Einleitung

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einem das Rot einer reifen Tomate, die man vor sich sieht, in der Wahrnehmung in einer Weise präsent, in der einem das Weiß der Wand hinter einem nicht präsent ist, wenn man lediglich daran denkt, dass diese Wand weiß ist, sich an ihr Weiß erinnert, sich wünscht, sie sei rein weiß oder sogar so felsenfest davon überzeugt ist, dass sie weiß ist, dass man Haus und Hof darauf verwetten würde. Kurz, das Rot der Tomate sieht für den Betrachter in der Wahrnehmung auf eine Weise aus bzw. erscheint ihm in einer Weise (z. B. leuchtend oder transparent bei manchen Gegenständen aus Glas usw.), wie dies bei bloßen Gedanken, Überzeugungen und Erinnerungen usw. an Rotes nicht der Fall ist. Vergleichbares lässt sich natürlich nicht nur von der Wahrnehmung von Farben sagen, sondern auch von der von Geräuschen, Härte, Wärme und der Gestalt von Gegenständen. Häufig wird dieser Umstand in der Literatur auch als der »phänomenale Charakter« der Wahrnehmung bezeichnet. Der phänomenale Charakter eines mentalen Zustandes wird durch das bestimmt, was für uns in Nagels bekannter Formulierung ausmacht, ›in diesem Zustand zu sein‹. Ebenfalls geläufig ist in diesem Zusammenhang der Terminus »phänomenales Bewusstsein«. 3

3

Für den Ausdruck phänomenaler Charakter vgl. Chalmers 2006, oder auch Tye 2000. Zu Nagel vgl. Nagel 1974/79. Zum Hintergrund des Begriffs »phänomenales Bewusstsein« und zu weiterer Literatur vgl. Staudacher 2002, Einleitung u. Kap. 2. sowie zum damit intendierten Phänomen auch Ros 2005, 282ff. u. 618ff. Für gewöhnlich wird ein phänomenaler Charakter nicht nur Wahrnehmungen zugesprochen, sondern auch Empfindungen wie Schmerz, Gefühlen wie Trauer, aber auch geistigen Vorstellungsbildern. Gedanken und Wünsche zeichnen sich hingegen der Mehrheitsmeinung nach nur insofern durch solch einen Charakter aus, als dass uns beim bewussten Denken bestimmte Wortvorstellungen bewusst sein mögen. In diesem Sinn mag man sich bei einem bewussten Gedanken an eine rote Tomate akustische Wortvorstellungen der Worte »Tomate« oder »rot« haben, aber das Rot der Tomate ist einem dabei nicht in der Weise bewusst wie bei ihrer visuellen Wahrnehmung. Die Rede von einem phänomenalen Bewusstsein spielt genau auf diesen Umstand an. Phänomenales Bewusstsein ist daher von anderen Formen von Bewusstsein zu unterscheiden, z.B. Bewusstsein im Sinne von bloßer Wachheit und Ansprechbarkeit oder Bewusstsein von den eigenen mentalen Zuständen in dem Sinne, dass man gleichsam automatisch in der Lage ist, anzugeben, was man gerade denkt, wünscht oder glaubt. Manche Autoren haben mehr oder weniger deutlich bestritten, dass Wahrnehmung (oder auch Empfindungen wie Schmerz) tatsächlich einen phänomenalen Charakter besitzen. Aber auch diese Autoren geben zu, dass es aus der Warte des Commonsense so ist, als ob Wahrnehmungen einen phänomenalen Charakter besitzen (vgl. z.B. Dennett 1991). Hier wird im Folgenden vorausgesetzt werden, dass Wahrnehmungen einen phänomenalen Charakter besitzen (zur Kritik von Dennetts Auffassung vgl. Staudacher 2002, Kap. 5). Häufig wird die These, dass Wahrnehmungen einen phänomenalen Charakter besitzen, mit der These verknüpft, dass dies bestimmten intrinsischen Eigenschaften der Wahrnehmungszustände geschuldet ist (dies ist eine der geläufigen Bedeutungen des Ausdrucks »Qualia«). Was immer es für gute Gründe für diese These geben mag, es spricht wenig dafür, dass der Commonsense davon ausgeht, dass das Rot, welches uns phänomenal beim Anblick einer reifen Tomate erscheint bzw. welches und direkt präsent ist,

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1. Einleitung

Als nächstes wollen wir kurz den noch für klärungsbedürftig befundenen Begriff »unmittelbar« kommentieren. In der Philosophie der Wahrnehmung wird häufig und auf vielfältige Weise zwischen »unmittelbarer« und »mittelbarer«, oder, wie es auch häufig heißt, »direkter« und »indirekter« Wahrnehmung unterschieden. 4 Für den Moment können wir jedoch gut darauf verzichten, uns den unterschiedlichen Deutungen dieser Unterscheidung im Detail zu widmen. Fürs erste kommt es nur auf Folgendes an: Es gibt einen harmlosen Sinn, in dem wir manchmal Dinge wahrnehmen, indem wir etwas anderes wahrnehmen. So nimmt das bedauernswerte Opfer im Horrorfilm seinen Mörder mit gezücktem Messer in seinem Rücken wahr, indem es dessen schwarzen Schatten auf der Wand vor sich erblickt. Und wir sehen von unserer Wohnzimmercouch wie ein Spieler, der sich am anderen Ende der Welt befindet, den Ball ins Tor schießt, indem wir das Bild auf unserem Fernseher sehen. Oder um ein drittes Beispiel zu nennen, wir sehen unseren Körper, indem wir die uns spiegelnde Wasseroberfläche sehen. Gegeben, die Situationen verhalten sich so wie beschrieben, würden wir vom Schatten wie dem Fernsehbild oder der Wasseroberfläche ihrerseits nicht mehr sagen, dass wir sie nur sehen, indem wir wiederum etwas anderes sehen. 5 Insofern können wir sagen, dass wir diese Objekte direkt wahrnehmen, während wir das, was wir wahrnehmen, indem wir diese wahrnehmen (den Mörder, den Fußballspieler, unseren Körper), indirekt wahrnehmen. In all diesen Fällen haben wir es mit einer Situation zu tun, in der wir ein Objekt insofern indirekt oder mittelbar wahrnehmen, indem wir ein davon verschiedenes anderes Objekt unmittelbar oder direkt wahrnehmen. Diese Fälle stellen in der Wahrnehmung eher die Ausnahme als die Regel dar. Allgegenwärtig zumindest in der visuellen Wahrnehmung ist hingegen der Fall, dass wir einen Gegenstand wahrnehmen, indem wir einen seiner Teile wahrnehmen. So nehmen wir den Schreibtisch vor uns wahr, indem wir die Oberfläche seiner uns zugewandten

eine Eigenschaft der Wahrnehmung und nicht der Tomate ist. Daher soll die Richtigkeit dieser These im Folgenden nicht vorausgesetzt werden, genauso wenig wie die These, dass der phänomenale Charakter ein unüberwindliches Hindernis für den Materialismus darstellt (zum letzten Punkt vgl. auch die Ausführungen unten, Abschnitt 1.6). Für den Moment geht es nur darum, was sich vom Standpunkt des Commonsense als plausibel erweist. 4 Vgl. u.a. Jackson 1977 Kap. 1 sowie Cornman 1975, 3ff., Gram 1983, 1–6, Armstrong 1976/80, Berkeley 1713/1962, 188f. 5 Auch wenn es sein mag, dass wir immer auch noch etwas anderes sehen müssen, um überhaupt irgendetwas sehen zu können. Wenn die Gestalttheorie Recht hat, dann beruht jede Wahrnehmung auf einer Figur-Grund-Unterscheidung, was beinhaltet, dass wir einen Gegenstand immer nur im Kontrast mit seinem Hintergrund wahrnehmen können und insofern auch diesen Hintergrund wahrnehmen müssen, um den Gegenstand wahrnehmen zu können. Das besagt aber nur, dass wir gegebenenfalls auch den Hintergrund wahrnehmen müssen, aber nicht, dass wir den Gegenstand nur insofern wahrnehmen, als wir stattdessen auch etwas anderes wahrnehmen.