Das Jahr 2010 - ein Wendepunkt der Geschichte?

Im Kapitalismus ist der Lohn ein Kredit, wie ich in meinem Buch beschrieben habe, und somit eine ... Die Zinsen werden als. Ausbildungsvergütung an den ...
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Freimut Kahrs Gedanken zum Jahreswechsel 2009 - 2010

Das Jahr 2010 - ein Wendepunkt der Geschichte? Das Jahr 2010, das den SPD-Kanzler Gerhard Schröder inspiriert hat, seine umstrittene Agenda nach diesem Jahr zu benennen, steht vor der Tür.

Was waren die Schwerpunkte der Agenda 2010? Das oberste Ziel der Agenda 2010 lautete „mehr Wachstum“ und „mehr Beschäftigung“. In der Praxis bedeutet das mehr Wachstum für das Vermögen der Reichen und mehr Beschäftigung für Arbeitnehmer, Arbeitslose, Ein-Euro-Jobber, Schüler und Studenten. Dazu wurde Hartz IV – von Kritikern auch als „Armut per Gesetz“ bezeichnet – eingeführt, das die Arbeitslosen einem „Zwang zur Freiheit“ unterwirft. Arbeitslose werden durch ihren Fallmanager gezwungen, sich „freiwillig“ für diejenigen Arbeitsplätze zu bewerben, die sie nicht ausführen können oder wollen. Harte Sanktionen drohen jedem, der nicht freiwillig, wenn auch gegen seinen Willen, die Vorgaben seines Förderers und Forderers erfüllt. Klingt dieser Satz in den Ohren eines unbefangenen Lesers zu unverständlich, zu widersprüchlich oder zu verlogen? Das ist der Zwang zur Freiheit, das widersprüchliche Lebensmotto einer freiheitlichdemokratischen Gesellschaft. (Lebenslüge Freiheit, S. 298) Praxisgebühr und Leistungskürzungen im Gesundheitswesen sollten den Trend zu einer immer längeren Lebenserwartung aufhalten. Das Versprechen der Politiker, „mehr für die Bildung“ zu tun, beinhaltet in der Realität meistens Einführung oder Erhöhung von Studiengebühren. Hohe Studiengebühren wie in den USA, sinnloses Faktenpauken wie in der Sowjetunion und volle Hörsäle wie in Frankreich kennzeichnen mittlerweile das deutsche Studiensystem. Die weiteren Details der Agenda 2010 – Abschaffung des Meisterzwangs, Lockerung des Kündigungsschutzes, Ausbau der Zeitarbeit – müssen aus Zeitgründen leider unerwähnt bleiben.

Nach Ablauf dieser zehn Jahre wird es langsam Zeit, eine kritische Bilanz dieses verlorenen Jahrzehnts zu ziehen. Das Vertrauen in die deregulierten Banken ist restlos zerstört. Niemand weiß, welche ungeklärten Milliardenrisiken sich hinter den Bankbilanzen verbergen, weil Milliarden schwere Bailouts unkontrolliert im Sumpf des Bankensystems versickern. Mittlerweile will man die Bonuszahlungen der Banker besteuern, die dahinterstehenden Finanztransaktionen jedoch nicht.

Das Vertrauen in die Politik ist restlos zerstört. Für Banken und Konzerne gibt es Milliarden, für Schulen und Schwimmbäder ist kein Geld vorhanden. Wer glaubt den Politikern noch, wenn sie behaupten, man müsse „Geld erwirtschaften“ und könne „jeden Euro nur einmal ausgeben“? Das Vertrauen in die Wissenschaft ist restlos zerstört, wenn Gutachten und Messergebnisse so zurechtgebogen werden, dass sie die gewünschte Theorie untermauern. Promotion und Habilitation, Drittmittelsubvention und Zitierkartelle sorgen dafür, dass nur stromlinienförmige Wissenschaftler nach oben gespült werden. Aufkeimende Zweifel werden bis zur Pensionierung zurückgestellt. Das Vertrauen in das Bildungssystem wird durch unzählige Bildungsreformen zerstört. Schüler und Studenten erkennen, dass der im Elitewahn vollgestopfte Lehrplan mit sinnlosen Inhalten überfrachtet wird und nur lautstarke Demonstrationen dazu beitragen, den Lehr- und Prüfungsstoff auf ein sinnvolles Maß zu reduzieren. Langsam beginnen Studentinnen und Studenten zu erkennen, dass Bildung dort anfängt, wo die Prüfungsordnung aufhört. Das Vertrauen in die Unternehmen ist restlos zerstört. Unternehmen haben die Aufgabe, den Transformationsprozess der Arbeit zu organisieren, d.h. Menschen mit einer sinnvollen Tätigkeit zu beschäftigen. Personalchefs sind mittlerweile nur noch dazu da, um die Leistungsträger von den Unternehmen fernzuhalten. Dementsprechend ist die Wirtschaftskrise auch eine Krise der Lohnarbeit. Aus Sicht der Unternehmen sind die Löhne zu hoch, aus Sicht der Arbeitnehmer sind sie zu niedrig. Gibt es unabhängig vom Lohn noch einen weiteren Faktor, der die Arbeitslosigkeit erklärt? Ja! Es ist das Vertrauen auf dem Arbeitsmarkt, das durch den von oben verordneten „Zwang zur Freiheit“ restlos zerstört wurde. Mehr dazu findet man in meinem Buch auf S. 263.

Was kann man tun? Es wird Zeit für eine eigene Agenda 2010! Mehr für die Bildung Bildung ist kein Lehrstoff, der von oben eingetrichtert wird, sondern entsteht durch Austausch gleichberechtigter Argumente. Gute Argumente kommen nicht nur aus dem Elfenbeinturm der Eliten, sondern von überall. Es wird langsam Zeit, auch den Wissenszuwachs, der durch Lesen guter Bücher entsteht, durch ein Leser-Diplom zu dokumentieren. Ausbildung als Wert betrachten. Die Aufgabe des kapitalistischen Unternehmers besteht darin, die Herstellungskosten zu minimieren und den Verkaufspreis zu maximieren. Arbeit gilt als reiner Kostenfaktor: Der Kapitalismus ist allein auf Arbeitsvermeidung ausgerichtet. Je weniger Lohn ein Unternehmen zahlt, desto geringer ist seine Schuld gegenüber den Arbeitnehmern. Im Kapitalismus ist der Lohn ein Kredit, wie ich in meinem Buch beschrieben habe, und somit eine Schuld und muss vermieden werden. Ausbildung gilt im Kapitalismus als reiner Kostenfaktor und nicht als Wert an sich. Das muss sich ändern. Am besten gelingt dies, indem man Ausbildungsplätze als Kreditsicherheit verwendet. Jeder Ausbildungsplatz berechtigt zur Inanspruchnahme eines zinsfreien Kredites in Höhe von 100.000 Euro. Die Zinsen werden als Ausbildungsvergütung an den Auszubildenden gezahlt. Da die Zahl der Jugendlichen begrenzt ist, kann es kein exzessives Kreditwachstum geben.

Grundeinkommen Wir brauchen flexible Löhne und verlässliche Einkommen. Flexible Löhne, weil die Arbeitseinsätze immer unregelmäßiger werden. verlässliche Einkommen, weil die Anforderungen immer höher werden. Damit dies zusammenpasst, muss ein Grundeinkommen her, das den Menschen die Sicherheit gewährt, auftragslose Wochen und Monate überstehen zu können. Transparenz Der griechische Philosoph Sophokles schrieb bereits vor 2500 Jahren: „Tue nichts im Geheimen, denn die Zeit sieht und hört alle Dinge und deckt sie auf“ Ungeachtet dieses weisen Ratschlages werden auch heute noch viele wichtige Informationen verheimlicht, was in unzähligen Fällen zu zwischenmenschlichen Konflikten führt. Schließlich wird die Lösung eines bestehenden Problems in der Regel umso aufwändiger, je später die Betroffenen davon erfahren – sei es aus technischen oder aus menschlichen Gründen. (Lebenslüge Freiheit, S. 47) Genossenschaften Politiker sind mit Selbstdarstellung, Netzwerkpflege, Gesetzgebung und Regierungskontrolle restlos überfordert. Börsennotierten Unternehmen denken nur an den kurzfristigen Profit. Bürger müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und die von ihnen gewünschten Institutionen selbst gründen. Die Bank gewährt keinen Kredit? Gründen wir selbst eine! Die Fonds verscherbeln unser Geld? Gründen wir selbst einen! Die Unternehmen geben uns keine Jobs? Gründen wir selbst eines! Es gibt genug zu tun! Packen wir’s an!

Das Jahr 2010 kann zum Wendepunkt der Geschichte werden, wenn wir uns nicht länger als Verfügungsmasse der Politiker und Wirtschaftsführer, sondern als denkende und handelnde Menschen begreifen.