Daniel Kohlhaas Amygdala Psychothriller

Findest du mich, wird Lena nichts geschehen!“ „Wer, verdammt noch mal, ist da? ... Die Zeit schien plötzlich schneller zu werden und Jan wählte die Nummer ...
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  Daniel Kohlhaas   

Amygdala   Psychothriller    © 2011  AAVAA Verlag UG (haftungsbeschränkt)  Quickborner Str. 78 – 80, 13439 Berlin    www.aavaa‐verlag.de    Alle Rechte vorbehalten    1. Auflage 2011    Covergestaltung Thorsten Kohlhaas Printed in Germany  ISBN 978‐3‐86254‐536‐0 

 

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            Alle Personen und Namen sind frei erfunden.  Ähnlichkeiten mit lebenden Personen  sind zufällig und nicht beabsichtigt. 

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          FÜR ANNE              „DIE WIRKLICHE WELT HAT KEINE ERINNERUNG. SIE  KOMMT OHNE BESCHRIFTUNG.“    (Lars Gustafsson, Tjänarinnan) 

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          TEIL I    „ERINNERUNG IST EINE FORM DER BEGEGNUNG.“  (Khalil Gibran, Sämtliche Werke) 

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1.    Es  kroch  durch  den  Schlitz  unter  der  Türe  in  das  dunkle  Zimmer.  Suchte  seinen  Weg  über  den  Tep‐ pich, erklomm die Bettkante, legte sich über die Decke  und schlängelte sich in seine Ohrmuschel. Es drängte  sich durch den Gehörgang zum Trommelfell und ließ  es  vibrieren.  Hammer,  Amboss  und  Steigbügel  nah‐ men  knirschend  ihre  Arbeit  auf.  Die  Hörschnecken‐ flüssigkeit  geriet  wellenartig  in  Bewegung  und  die  Haarsinneszellen  wandelten  es  in  ein  Signal  um,  welches  im  Hörzentrum  ausgewertet  wurde.  Das  Kunstwerk  aus  bunter  Malerei  verzerrte  und  das  Geräusch  wollte  wahrgenommen  werden.  Jan  ver‐ suchte  es  zu  verscheuchen,  sich  wieder  den  Farben  zuzuwenden,  doch  es  blieb  und  riss  den  Traum  auseinander. Jan öffnete seine Augen.  Das Geräusch surrte und klirrte blechern in den, von  der Stille betäubten, Ohren. Unangenehm flackerte es  durch  die  Dunkelheit.  Jan  drehte  sich  auf  die  rechte  Seite  und  griff  nach  seiner  Brille,  die  auf  seinem  Nachttisch  lag.  In  seinen  steifen  Händen  fehlte  das  Gefühl  in  den  Fingern.  Unbeholfen  setzte  er  die 

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Gläser  auf  und  blickte  auf  seinen  Radiowecker.  Es  war drei Uhr in der Nacht.   Sein Verstand setzte die lahmen Mühlsteine in Bewe‐ gung und ihm wurde langsam klar, wo er sich befand.  Er  lag  in  seinem  Bett,  mitten  in  Lübeck,  in  seiner  Wohnung.  Jan  tippte  auf  den  Fuß  seiner  Nachttisch‐ lampe  und  kniff  geblendet  vor  Schmerz  die  geweite‐ ten  Augen  zusammen.  Das  Geräusch  hallte  weiter  durch die leeren Flure, verstreute sich in die einzelnen  Zimmer,  pochte  darauf  wahrgenommen  zu  werden.  Jan schlug die Decke zurück und setzte seine nackten  Füße  auf  den  Teppich  vor  seinem  Bett.  Langsam  erhob  er  sich  und  zog  sein  T‐Shirt  zurecht,  das  er  in  der Nacht trug. Torkelnd bewegte er sich auf die Tür  zu. Als er sie öffnete, flutete das Geräusch das Schlaf‐ zimmer  und  Jan  dachte  daran,  dass  es  jetzt  wohl  mindestens zum dreizehnten Male klingelte. Er trat in  den  Flur  und  schaltete  das  Licht  ein.  Das  Läuten  des  Telefons  schien  einen  Kopfschmerzimpuls  in  sein  Hirn zu pflanzen.   Jan  ging  die  Treppe  in  sein  Wohnzimmer  hinab.  Behutsam  nahm  er  die  Stufen  und  ging  auf  das  blin‐ kende  Display  seines  schnurlosen  Apparats  zu.  Es  klingelte weiter, schien dabei anzuschwellen und sich  7

aufzuplustern  wie  eine  Gans.  Er  schaute  auf  den  Hörer: Unbekannt.   Jan  schüttelte  ungläubig  den  Kopf,  räusperte  sich  kurz und drückte dann den kleinen, grünen Hörer.  „Ja, hallo?“  „Jan?“, fragte eine hastige Frauenstimme.  „Äh, ja? Wer ist da?“  „Jan,  du  musst  mich  finden!“  Das  letzte  Wort  klang  grässlich ernst.  „Wenn das ein Scherz ist, dann  ... “ Mit einem Schlag  war er wach.  „Jan“,  unterbrach  ihn  die  Frauenstimme,  während  dieser  kurz  überlegte,  ob  sie  ihm  bekannt  vorkam,  „bitte! Du musst mich finden! Es ist mein Ernst!“  „Wer  ist  da?“,  fragte  er  erneut  und  bemerkte  den  Schauer, der sich von seinen Nackenhaaren bis zu den  Fersen über seinen Rücken ergoss.  „Ich weiß, dass du ...“  „Verdammt  noch  mal!“  Jan  wollte  gerade  auflegen,  als sie sagte:  „Du musst! Denn sonst ist Madalena ...! Jan, sie wird  sonst tot sein.“ 

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Jan  hörte  den  Namen  gerade  noch,  als  er  den  Hörer  bereits von seinem Ohr genommen hatte, er klang wie  ein entferntes Flüstern aus einem Radio.  „Woher  kennst  du  Madalena?  Mein  Gott,  es  ist  drei  Uhr in der Nacht! Was soll das?“  „Du musst mich finden“, sprach sie eindringlich.  „Wo  denn  und  wer  zum  Teufel  bist  du?“  Der  Kopf‐ schmerz breitete sich aus.  „Beginne die Suche bei deinem Vater!“   Jan erstarrte bei den letzten Worten. Der Brief! Woher  weiß sie von dem Brief?  „Ich  warne  dich,  wenn  das  hier  ein  Scherz  sein  soll,  dann ...“  „Jan, such mich! Beginne die Suche bei deinem Vater!  Findest du mich, wird Lena nichts geschehen!“  „Wer,  verdammt  noch  mal,  ist  da?“,  brüllte  Jan  ins  Telefon.  „Elisa  Stein“,  sagte  die  Frauenstimme.  Die  Verbin‐ dung brach ab.  Jan  starrte  das  Telefon  an.  Was  hatte  sie  gesagt?  Madalena  sollte  sterben,  wenn  er  die  Frau  nicht  finden würde? Er hatte den Anruf fast als makaberen  Telefonscherz  abgetan,  als  ihn  diese  Worte  mit  der  Wucht  einer  Flutwelle  trafen.  Er  hatte  den  Namen  9

Elisa Stein noch nie zuvor gehört und auch die Stim‐ me  der  Frau  war  ihm  völlig  unbekannt.  Er  versuchte  sich  die  Tonhöhe  und  einen  möglichen  Akzent  oder  Dialekt  in  seine  Erinnerung  zu  rufen,  aber  alles,  was  er  wieder  und  wieder  hörte,  waren  die  Worte:  „Du  musst  mich  finden!  Beginne  die  Suche  bei  deinem  Vater!“    Als  das  Licht  des  Displays  erlosch,  streifte  sich  die  Dunkelheit  über  ihn  wie  ein  schwarzer  Pullover.  Er  zitterte.  Zum  einen  wusste  er  nicht  recht  was  er  tun  sollte  und  zum  anderen  wurde  ihm  langsam  kalt,  da  er  nur  in  Boxershorts  und  T‐Shirt  nach  unten  gegan‐ gen war. Er schluckte mühsam den größer werdenden  Kloß  der  Angst  hinunter  und  setzte  sich  auf  den  Lesesessel, der direkt neben dem kleinen Regal stand,  auf dem das Telefon platziert war. Er tastete nach der  Leselampe  und  drehte  das  Dimmerrädchen  langsam  nach  rechts.  Das  anwachsende  Licht  floss  langsam  in  den Raum und erhellte schwach das Wohnzimmer.   Das  geräumige  Zimmer  war  in  einem  leichten  Ecru‐ ton gehalten. Eine dreiteilige schokofarbene Designer‐ Lederkombination aus der Modellreihe Tex des italie‐

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nischen  Möbelunternehmens  Natuzzi  umrahmte  einen niedrigen Wohnzimmertisch.   Der  eiförmige  Lesesessel  stand  in  Richtung  des  Ka‐ mins. Hinter der Schutzscheibe lag noch ein Rest Glut.  Über  dem  Kamin  schwang  das  Pendel  der  Wanduhr  hin  und  her.  Die  Zeit  schien  plötzlich  schneller  zu  werden  und  Jan  wählte  die  Nummer  von  Madalenas  Zimmer.  Er  wusste,  dass  er  zu  dieser  Zeit  eigentlich  nicht  anrufen  durfte  und  Madalena,  die  derzeit  nicht  gerade  vor  Freude  aufsprang,  wenn  er  sich  meldete  oder  sie  besuchte,  würde  noch  weniger  Lust  dazu  haben,  mit  ihm  zu  sprechen.  Sie  hatte  kein  Einzel‐ zimmer und ihm war klar, dass er ihre Bettnachbarin  gleichsam  aufwecken  würde.  Es  war  ihm  egal,  denn  schließlich  nagte  in  ihm  die  Angst,  dass  Madalena  in  Gefahr  sein  könnte.  Während  es  läutete,  blitzten  Bilder in seinem Kopf auf, wie jemand in ihrem Zim‐ mer  lauerte,  sie  erstach,  erstickte  oder  erwürgte,  während  das  Telefon  schellte.  Er  dachte  daran,  wie  ihre Hand nach dem Hörer griff, die Kraft aus ihrem  Körper wich und schließlich dem letzten vergeblichen  Versuch,  Luft  zu  holen,  Tribut  zollen  musste  und  schlaff nach unten fiel. 

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Es dauerte nicht länger als eine Minute, bis der Hörer  abgenommen  wurde  und  trotzdem  erschien  es  ihm  wie eine Ewigkeit. 

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2.    Das  in  der  Parade,  ganz  in  der  Nähe  des  Lübecker  Doms,  stehende  Marien‐Krankenhaus  wurde  1888  errichtet;  Madalena  Richters  Zimmer  lag  jedoch  im  1998  neu  erbauten  Seitenflügel.  Das  Läuten  ihres  Telefons  tönte  durch  den  leeren  Flur  und  so  wurden  nicht  nur  sie  und  ihre  Zimmernachbarin  aus  dem  Schlaf  gerissen,  sondern  auch  die  Patienten  der  an‐ grenzenden  Räume.  Im  Schwesternzimmer  vernahm  man ebenso das Klingeln und entschied sich nachzu‐ sehen,  wer  mitten  in  der  Nacht  einen  Patienten  der  Chirurgie anrief.  Madalena, eben noch in einem grässlichen Geäst aus  Blut und Metall gefangen, griff in der willkommenen  Realität  nach  dem  Hörer  des  Apparats,  der  rechts  über  ihrem  Kopf  angebracht  war.  Dabei  zog  sie  mit  der  linken  Hand  an  dem  dreieckigen  Griff  über  sich.  Der  matte  Körper  erhob  sich  langsam  und  so  konnte  sie den Hörer erreichen.  „Wer  ist  da?“,  fragte  sie  mit  einer  Mischung  aus  Erschöpfung, Schlaf und Ärger.  „Lena? Ich bin es.“ 

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„Jan?  Warum  rufst  du  ...“,  sie  versuchte,  die  kleinen  leuchtenden Zeiger auf dem Wecker neben ihrem Bett  zu deuten, „so spät an?“  „Ich ... Ich wollte wissen ... geht es dir gut?“  „Du rufst mitten in der Nacht an, um zu fragen, ob es  mir gut geht?“  „Nun,  ich  hatte  so  ein  Gefühl.“  Er  entschloss  sich,  den Anruf erst einmal nicht zu erwähnen.  „Ein Gefühl?“, unterbrach sie ihn laut und erschreck‐ te kurz vor sich selbst.  „Ich  habe  mir  Sorgen  gemacht!“,  versuchte  Jan  sich  zu wehren.  „Meine  Güte,  Jan.  Hätten  deine  Sorgen  nicht  Zeit  gehabt,  bis  zum  Morgen  zu  warten?“  Während  sie  sprach  öffnete  sich  die  Tür  zu  ihrem  Zimmer.  Die  Nachtschwester  schaute  herein,  das  Licht  des  Flures  legte einen matten Schein auf Madalenas Gesicht und  sie schaute wütend in das auftauchende Gesicht.  „Alles in Ordnung?“  „Ja, alles in Ordnung. Ich lege jetzt auf.“  Dann  zog  sie  erneut  mit  der  linken  Hand  am  Griff,  versteifte den Arm und drückte den Oberkörper nach  oben. 

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