Bilingualer Schriftspracherwerb. Kognitive Voraussetzungen und ...

Durch die wissenschaftliche Wiederentdeckung der Leistungen oraler Gesell- schaften in der Ethnologie und durch die pragmatische Wende in der Linguistik,.
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ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Diplom Stefanie Surd-Büchele Bilingualer Schriftspracherwerb

Kognitive Voraussetzungen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen aus kulturhistorischer Perspektive

Stefanie Surd-Büchele

Bilingualer Schriftspracherwerb Kognitive Voraussetzungen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen aus kulturhistorischer Perspektive

Berlin 2009

ICHS Reihe Diplom Mit der besonderen ICHS-Reihe Diplom verfolgen wir mehrere Absichten. Erstens möchten wir dadurch anregen, Forschungsarbeiten im Kontext der Kulturhistorischen Schule schon während des Diplom- und Master-Studiums zu beginnen. Eine entsprechende Publikationsreihe existiert leider bislang nicht. Wir sind jedoch der Meinung, dass eine Publikationsmöglichkeit für gute Arbeiten geeignet ist, diese Anregungen zu geben und zugleich zu verhindern, dass selbst wertvolle Arbeiten wie bisher in den Archiven der Prüfungsämter verschwinden und für die interessierte Scientific Community nicht verfügbar sind. Zweitens verbinden wir damit die Hoffnung, dass die in dieser Reihe publizierenden angehenden Wissenschaftler am Diskurs der Scientific Community weiterhin aktiv teilnehmen und mit ihren späteren Publikationen der Reihe treu bleiben. Drittens hoffen wir, dass die in der Reihe publizierenden Autoren die Chance nutzen, auch untereinander in Kontakt zu treten, und sehen darin eine Chance, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Schließlich erwarten wir gerade von solchen Arbeiten kreative, unorthodoxe und innovative Fragestellungen, Ideen und Strategien sowie eine unverstellte Nähe zu den aktuellen Entwicklungen in der gesellschaftlichen Praxis und damit wichtige Anregungen für die theoretische Diskussion und Weiterentwicklung der Tätigkeitstheorie selbst. Hartmut Giest und Georg Rückriem Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Stefanie Surd-Büchele Bilingualer Schriftspracherwerb © 2009: Lehmanns Media • Berlin ISBN: 978-3-86541-659-9 Coverbild Zeichnungen: Sophie-Charlotte Winderl und Michael Beer Coverbild Zusammenstellung: Georg Büchele

Inhaltsverzeichnis

5

Inhaltsverzeichnis Vorwort ………………………………………………

8

Einleitung …………………………………………….

12

2

Bilingualer Schriftspracherwerb …………………...

15

2.1

Bilingualismus – Aspekte des Begriffs …………………...

15

2.2 2.3

Anmerkungen zum Forschungsstand …………………… Institutionalisierter bilingualer Schriftspracherwerb in Deutschland – ein Überblick ……………………………...

18 22

3

Sprach- und schriftspezifische Aspekte von Literalität ……………………………………………………

26

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.3

Schrifttypologische Aspekte ……………………………... Anmerkungen zur Schrifttypologie ………………………... Logographische Schriften ………………………………….. Silbenschriften ……………………………………………... Alphabetschriften ………………………………………….. Zum Verhältnis von Sprechen und Schreiben ………….. Oralität – Literalität: Konzeptionelle und strukturelle Unterschiede ……………………………………………….

26 26 28 30 32 35

4

Biliteralität …………………………………………...

42

4.1

Funktionen von Sprechen und Schreiben ……………….

42

4.1.1 4.1.2

Funktionen von Sprechen ………………………………………… Funktionen von Schreiben ………………………………………...

42 45

4.2 4.3

Literale Kompetenz ………………………………………. Literalität und Biliteralität als gesellschaftliche Größen

49 52

4.4

Zur Entwicklung bilingualer literaler Kompetenz ...……

58

1

37

6



Inhaltsverzeichnis

Kognitive Voraussetzungen von bilingualem Schriftspracherwerb …..…………………………….. 

5.1

Zentrale Kenntnisse und Fertigkeiten für den Erwerb literaler Kompetenz ………..……………………………... Zum Begriff der metasprachlichen Kompetenz ………...

66

5.2.1

Teilaspekte metasprachlicher Kompetenz …………………. EXKURS: Zum Stellenwert phonologischer Bewusstheit …

66 69

5.2.2 5.3

Zur Entwicklung metasprachlicher Kompetenz …………… Zur Entwicklung der Abstraktionsfähigkeit …………….

71 73

5.3.1

73

5.3.2

Grundannahmen zur ontogenetischen Entwicklung und Funktionsweise menschlicher Kognition ………………….. Begriffsbildungsprozesse …………………………………..

77

5.3.3 5.4 5.5

Entwicklung der Symbolfunktion ………………………….. Bilingualismus und Kognition …………………………… Interferenz-, Transfer- und Inferenzprozesse …………..

80 82 84

5.6 5.6.1

Motorische Aspekte von Schreiben und Lesen …………. Schreiben …………………………………………………...

88 88

5.6.2

Lesen ………..………………………………………............

91

6

Zur Rolle von Literalitätserfahrungen für die Entwicklung kognitiver Voraussetzungen von bilingualem Schriftspracherwerb ……………...….............

93

Frühes Lesen und Schreiben als Kristallisationspunkte der Entwicklung …………………………………………...

93

EXKURS: Zum Verhältnis von Lesen und Schreiben …….. Frühes Schreiben …………………………………………. Frühes Lesen ………………………………………………

94 96 103

5.2

6.1

6.2 6.3

63

Inhaltsverzeichnis

7



Konsequenzen für die Vermittlung …………………

7.1

Grundsätzliche Annahmen zur Vermittlung ……………

110

7.2 7.2.1 7.2.2

Ansätze zur Vermittlung …………………………………. Zum Konzept der Zone der nächsten Entwicklung ………... Zum Konzept der Family Literacy …………………………

112 112 114

7.2.3 7.3

Verfahren der Sprachstandsfeststellung ……………..…….. Politische Rahmengebung ………………………………...

118 125

7.4

Konkrete Förderungsmöglichkeiten ……………………..

129

8

Fazit und Ausblick …………………………………...

133

Literaturverzeichnis …………………………………

136

8

Vorwort

Vorwort Marie-Cécile Bertau

Die Situation von Kindern, die in mehrsprachigen Umgebungen aufwachsen und darin ihr Sprechen und Denken entwickeln, leitet das Interesse der Arbeit von Stefanie Surd-Büchele. Es ist eine Situation, welche die Kulturalität eines jeden Sprach- und damit verknüpften Schriftspracherwerbs ins helle Licht rückt, weil sich an der mehrsprachigen Situation verschieden kodierte Tradierungsformen zeigen können. Es zeigen sich nicht zuletzt auch Statusunterschiede von Sprachen und Schriftsprachen zueinander, gesellschaftliche Bewertungen, die das Spannungsfeld bestimmen, in welchem sich mehrsprachige Kinder bewegen müssen. In der Überlieferung von Vygodskaja & Lifanova (2000) stellt sich die Situation des jungen Lev Vygotskij diesbezüglich als geradezu ideal dar: geprägt von täglichen Tischgesprächen, in welchen jeder von seinem Tag und seinen Interessen berichtete und Fragen stellen konnte, in einem Haus, in welchem ein regelrechter Bücherkult herrschte und die Mutter perfekt zwei Fremdsprachen beherrschte. Der Erwerb von Deutsch, Französisch und Latein in der Schule, von Griechisch, Hebräisch und Englisch zu Hause ist dann für Vygotskij eine Art selbstverständlicher Fortführung der familiären Sprachpraktiken. Zu dieser Fortführung gehört auch, dass sich schon in der Schule ein Zirkel mit Vygotskij als Leiter bildete, welcher sich zwei Jahre lang regelmäßig vor allem mit historisch-philosophischen Fragen in Referaten und Diskussionen befasste.1 Dieser Bericht lässt eine Situation erahnen, welche in der Schriftspracherwerbsforschung nunmehr als fördernde bekannt ist: Der gelingende Erwerb verschiedener Sprachen und Schriftsprachen beruht auf einer frühen und intensiven Praxis des Gesprächs und des Umgangs mit Schrift, im besten Fall also schon in der Familie. Der Bericht zeigt aber auch Vygotskij und seine Familie als Mitglieder des jüdischen Bildungsbürgertums, für welches spezifische Sprachpraktiken charakteristisch sind, ebenso wie die selbstverständliche Hochwertung der (westeuropäischen) „Kultursprachen“ Deutsch und Französisch – eben diese werden von der Mutter perfekt beherrscht. 1

Vgl. Vygodskaja & Lifanova , Lev Semjonovi Vygotskijs. Leben – Tätigkeit – Persönlichkeit. Hamburg, Dr. Kova, 2000, S. 20-26.

Marie-Cécile Bertau

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Beides also gilt es zu bedenken, wenn von Biliteralität die Rede sein soll: die frühen gemeinschaftlichen Praktiken des Sprechens und Zuhörens, Lesens und Schreibens, ebenso wie ihre kulturelle Spezifizität. Und beides unterliegt gesellschaftlichen Bewertungen, die – sofern sie implizit bleiben – dazu verleiten, statushohe Praktiken als allgemein gültig anzusehen und von da aus andere Praktiken zu beurteilen und entsprechend Maßnahmen zu ergreifen. Aktuelle Brisanz erhält dieser Zusammenhang in einer zunehmend globalisierten Welt, in welcher die hohe Mobilität von Individuen und Gruppen zur Normalität geworden ist. Kinder wachsen zunehmend in verschiedenen Kulturen auf, die sie simultan und nicht selten im Konflikt zueinander erleben, sie müssen ausdrücklich ein Wandern zwischen Sprachwelten praktizieren. Die Notwendigkeit der Identitätsfindung und des Zugangs zur gesellschaftlichen Partizipation macht den Umgang mit diesem Wandern erforderlich. Auf der Seite der Sprach- und Schriftspacherwerbsforschung ist damit die Herausforderung entstanden, die skizzierte Komplexität zu modellieren und zu konzeptualisieren, und zwar nicht zuletzt im Hinblick auf eine adäquate Förderung der sprachgebundenen Kulturtechniken. Die Arbeit von Surd-Büchele nimmt diese Herausforderung auf und entwickelt auf dem bisher wenig bearbeiteten Feld des Erwerbs von Biliteralität eine eigenständige Konzeptualisierung. Biliteralität versteht sie dabei explizit als mit dem mehrsprachigen kindlichen Spracherwerb koordinierten Erwerb der entsprechenden Schreibsysteme, die auch verschiedene Schriftsysteme sein können. Die Autorin bestimmt ihren Grundbegriff der literalen Kompetenz demgemäß als „ein sich syn- und diachron beträchtlich unterscheidendes gesellschaftliches Konstrukt dessen, was als Ziele von Literalitätsentwicklung innerhalb einer bestimmten Gesellschaft bzw. gesellschaftlichen Gruppe angesehen bzw. (z. B. durch Lehrpläne) festgelegt wird.“2 Literale Kompetenz wird daher nicht als universale Größe angesehen, und es wird deutlich, dass es auch für eine gegebene Gesellschaft und für ihre Gruppen keine einheitliche literale Kompetenz gibt: verschiedene funktionale und soziale Zusammenhänge erfordern unterschiedliche Ausprägungen literaler Kompetenz. Den komplexen Zusammenhang von aufeinandertreffenden kulturspezifischen Sprach- und Schriftsprachpraktiken reflektiert die Autorin innerhalb eines Ansatzes, der im Spannungsfeld von Pragmatik und kulturhistorisch orientierter Psycholinguistik angesiedelt ist: zum einen sind Sprechen/Zuhören und Schreiben/Lesen Formen 2

Vgl. im Folgenden, S. 49.

10

Vorwort

gesellschaftlichen Handelns, das soziale Praxen erzeugt und aufrechterhält; die ontogenetische Perspektive, die mit Vygotskij eingenommen wird, bedeutet zum anderen, dass Sprechen und Denken verbunden sind und sich nur innerhalb und auf Grund von bestimmten sozio-kulturellen Kontexten entwickeln. Die solchermaßen gestifteten Verbindungen zwischen mündlichen und schriftlichen Praktiken sowie zwischen diesen und dem Denken lassen die Frage der Biliteralität nicht nur höchst interessant, sondern auch bedeutsam für die Entwicklung der Möglichkeiten des Denkens selbst erscheinen. Die Art und Weise, in der Vygotskij Schreiben fasst, kann als Kristallisation dieser Ansicht gesehen werden, seine Konzeption von Schreiben wird folgerichtig von der Autorin aufgenommen. Surd-Büchele hebt die Begrifflichkeit Vygotskijs hervor, der das Schreiben als „schriftliches Sprechen“ bezeichnet, und von seiner Nähe zum mündlichen wie zum inneren Sprechen aus konzipiert. Damit gewinnt die Autorin das psycho-soziale Volumen des Schreibens und kann formulieren: „Demgemäß kann sich Schreiben als schriftliches Sprechen ebenso wie das äußere Sprechen auf andere wie auf sich selbst richten und zur Regelung des äußeren Verkehrs wie auch zum Denken dienen.“3 Mit dieser prozesshaften und interaktiven Sichtweise von Schreiben und Lesen eröffnet Surd-Büchele eine m.E. höchst fruchtbare Perspektive auf Schreib- und Leseprozesse. Indem die Prozesse an ihre soziale, interaktive Herkunft zurückgebunden werden, insbesondere an das gemeinsame Sprechen, kann Schrift als fortgesetzte kommunikative Geste angesehen werden, welche bis ins Schreiben als eine mögliche Form des inneren Sprechens reicht. Dieser Bogen kann erst dann deutlich werden, wenn die Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs nicht nur in kognitiven im Sinne individualpsychologischer Prozesse basiert werden, sondern in kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Für die Autorin ist dann die Frage nach der Möglichkeit des biliteralen Schriftspracherwerbs immer auch eine gesellschaftspolitische Angelegenheit, welche insbesondere die vorschulischen und die schulischen Bildungsinstitutionen betrifft – oder betreffen sollte. Es ist eine der Stärken dieser Arbeit, die politische Dimension von biliteralem Schriftspracherwerb anzusprechen: nicht nur reflektiert sie die Konsequenzen der erarbeiteten Konzeptualisierung von Biliteralität für die Vermittlung, sie stellt diese auch einer kritischen Diskussion der in Deutschland üblichen Sprachstandsmessungen, Fördermöglichkeiten und nicht zuletzt der Erzieherinnen3

Vgl. im Folgenden, S. 45.

Marie-Cécile Bertau

11

ausbildung gegenüber. Sie plädiert schließlich für eine flächendeckende Einführung bilingualer Unterrichtsmöglichkeiten und weist damit bewusst „weit über den gegenwärtigen Diskussionsstand in Deutschland hinaus, in dem sich die aktuelle Debatte in bewährter Leitkulturmanier noch immer um die Frage dreht, inwieweit die Herkunftssprache(n) der Kinder für einen erfolgreichen Deutscherwerb gefördert werden müssen, der häufig als eigentliches Ziel gilt.“4 Biliteralität bei Kindern zu fördern ist nicht nur gesellschaftspolitische Verantwortung demokratischer Zuwanderungsgesellschaften im Sinne der Partizipation aller Bürger. Biliteralität eröffnet auch Ressourcen für „Verkehr und Verallgemeinerung“,5 eröffnet Möglichkeiten des Sprechens und des Denkens, die Individuen und ihre Gesellschaft reicher machen, weil sie verschiedene Sprach- und Kulturwelten verbinden können. Und es ist schließlich auch in diesem, sozusagen Vygotskijschen Sinne sehr zu begrüßen, dass die ICHS-Reihe angehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit gibt, ins Gespräch zu kommen und es anzuregen.

München, im Juni 2009

4

Vgl. im Folgenden, S. 133. Dies als die beiden Grundfunktionen des Sprechens nach L.S. Vygotskij, Denken und Sprechen. Weinheim und Basel, Beltz, 2002, S. 51f.

5

12

Kapitel 1

1 Einleitung Durch die wissenschaftliche Wiederentdeckung der Leistungen oraler Gesellschaften in der Ethnologie und durch die pragmatische Wende in der Linguistik, nach der sich die Forschung hauptsächlich auf die Analyse mündlicher Phänomene der Sprache konzentrierte, sowie aufgrund der Durchsetzung der neuen Massenkommunikationstechnologien Mobilfunk und Internet entstand in den hochliteralen Gesellschaften Europas und Nordamerikas ein Hype um eine neue Mündlichkeit, im Rahmen derer die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verschwimmen (s. Schmitz 1995, 7). Und spätestens seit McLuhan (1968) wird immer wieder provokant die Frage gestellt, ob sich die mittlerweile weit über zwei Jahrtausende währende Schriftkultur dem Ende zuneigt und erneut durch eine weitgehend oral organisierte Kultur ersetzt wird. Doch entgegen dieser These machen weltweit zahlreiche Menschen in unterschiedlichem Maße die Erfahrung, dass sie aufgrund fehlender Literalisierung von gesellschaftlichen Diskursen ausgeschlossen werden und infolgedessen unter materiellen und sozialen Einschränkungen leiden. Eine große, hiervon besonders betroffene Gruppe sind paradoxerweise MigrantInnen, die zwar häufig zwei oder sogar mehr Sprachen sprechen, jedoch meist nur in einer Sprache literalisiert sind, bzw. überproportional häufig der Gruppe der (funktionalen) AnalphabetInnen zugerechnet werden müssen.6 Neben individuellen Schwierigkeiten für die Betroffenen stellt diese Tatsache auch einen (wirtschaftlichen) Verlust für die jeweilige Gesellschaft als Ganzes dar.7 Denn auch wenn in vielen Bereichen der globalisierten Welt Englisch die Funktion einer lingua franca übernommen hat, gibt es nach wie vor zahlreiche Felder, in denen Mehrsprachigkeit und vor allem Mehrschriftigkeit kein optionales Plus, sondern fundamentale Notwendigkeit sind. Entsprechende Fertigkeiten müssen somit auch als nicht zu unterschätzender ökonomischer Faktor gesehen werden. Hiervon ausgehend hat die Arbeit das Ziel, bilingualen Schriftspracherwerb sowie seine kognitiven Voraussetzungen aus ontogenetischer Perspektive zu analysieren und daraus Konsequenzen für die Vermittlungspraxis abzuleiten.8 Dies ist ein weites Feld. Es erfolgt daher eine Fokussierung auf die Untersuchung der Situation 6

Anhand des Berichts von Bertau (2001) bezüglich einer Bildungsmaßnahme zum Abbau des funktionalen Analphabetismus werden die entsprechenden Defizite der Betroffenen in besonderer Weise deutlich. 7 Aspekte des Zusammenhangs von Bilingualismus und Identität diskutiert u.a. Lüdi (1993). 8 Der Begriff Schriftspracherwerb wird im Folgenden in der Abkürzung SSE verwendet.

Einleitung

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des bilingualen SSE von in Deutschland lebenden Kindern, da diese anders als Erwachsene, deren Erstspracherwerb im Wesentlichen abgeschlossen ist und die teilweise bereits in einer Sprache literalisiert wurden, grundsätzlich vor der Herausforderung stehen, Literalität zu erwerben und in eine literale Kultur hineinzuwachsen.9 Da der SSE somit Teil der stets in einen kulturellen Zusammenhang eingebetteten individuellen sprachlichen und kognitiven Entwicklung ist, wird davon ausgegangen, dass die entsprechenden Entwicklungsprozesse sehr kindspezifisch sind und deren kognitive Voraussetzungen somit wesentlich anders sind als bei Erwachsenen. Eine weitere Präsupposition dieser Arbeit ist, dass Literalitätserwerb eng mit Spracherwerb verknüpft ist und die Kinder daher bis zu Schulbeginn gute Kenntnisse in den Sprachen, in denen sie literalisiert werden, erwerben müssen. Mit Glück (1987, 1) wird der Standpunkt vertreten, dass „Schreiben und Lesen originäre Gegenstände der Sprachwissenschaft“ sind. Diese als Magisterarbeit im Fach Deutsch als Fremdsprache entstandene Arbeit ist daher genuin linguistisch. Hierbei ist jedoch eine wichtige Differenzierung vorzunehmen, die sich aus der Verbindung zweier unterschiedlicher, einander dennoch ergänzender Perspektiven ergibt. Zum einen ist dies die Funktionale Pragmatik (Ehlich 2007), die Sprache nicht im de saussureschen Sinne unter einer überwiegend strukturalistischen Perspektive untersucht, sondern Sprechen und Schreiben als eine Form gesellschaftlichen Handelns betrachtet. Hier fügt sich der von Dürscheid (2004, 13) verwendete Begriff der Schriftlinguistik, auch wenn dieser noch kein feststehender linguistischer Terminus ist, sehr gut an. Zum anderen eröffnen die aus der kulturhistorischen Schule kommenden psycholinguistischen Ansätze einen wesentlichen Zugang zum Verständnis von Biliteralität. Hier sind insbesondere die die Arbeiten von Vygotskij zu nennen.10 Vygotskij stellt die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins in den Rahmen der gesellschaftlich-historischen Entwicklung des Menschen. Alle individuellen höheren psychischen Funktionen entwickeln sich durch die Interiorisierung ursprünglich sozialer Strukturen, v.a. des Sprechens, und operieren da9

Ein Beispiel für die Untersuchung der spezifischen Herausforderungen bei der Literalisierung zweisprachiger erwachsener Analphabeten im Deutschen bietet Schramm (1997). 10 Wichtig ist für den Zusammenhang dieser Arbeit insbesondere Vygotskijs letztes Buch Denken und Sprechen (1934/2002). Wesentliche Gedanken finden sich aber auch in seinen Aufsätzen (vgl. z.B. Wygotski (1985): Ausgewählte Schriften; Hg. von Joachim Lompscher; The Vygotsky-Reader, Hg. von van der Veer/Valsiner 1994). Eine umfassende Bibliographie zu Vygotskijs Werken findet sich in Vygodskaja/Lifaonva (2000) und Keiler (2000), bei dem sich auch ein guter Überblick zu Vygotskijs Denken findet. Eine einführende Darstellung in die kulturhistorische Schule bietet Werani (2003). Ich schreibe in der Arbeit gemäß den Konventionen zur Transliteration kyrillisch geschriebener Namen Vygotskij, behalte jedoch bei Zitaten die dort jeweils verwendete Schreibweise bei.

14

Kapitel 1

her mithilfe semiotischer Mittel. Festzuhalten ist für die vorliegende Fragestellung einerseits die enge Verbindung von Sprechen und Denken, die Vygotskij annimmt, und andererseits, dass sich Sprechen und Denken in und aus spezifischen sozio-kulturellen Kontexten entwickeln und nur verstehbar sind, wenn diese Zusammenhänge berücksichtigt werden. Die Wahl dieser Perspektive hat zur Folge, dass aus der Fülle der vorhandenen Literatur insbesondere Arbeiten mit einem psycholinguistischen Fokus und Arbeiten, die die soziale Dimension von Sprache berücksichtigen, sowie psychologische bzw. ethnologische Untersuchungen herangezogen wurden. Gleichzeitig wurden Arbeiten mit einer strukturalistischen Herangehensweise eher vernachlässigt. Im Zentrum der Arbeit stehen eine Analyse der kognitiven Voraussetzungen des bilingualen SSE und deren ontogenetische Entwicklung (Kap. 5 und 6). Hierfür ist zunächst nötig, mittels einer näheren Spezifizierung des Begriffs Bilingualismus und einer daraus folgenden Bestimmung des Begriffs bilingualer SSE sowie einer Darstellung der Forschungslage und der institutionellen Praxis in Deutschland den Untersuchungsrahmen abzustecken (Kap. 2). Im folgenden Kapitel (3) werden dann vorwiegend strukturelle Aspekte wie Annahmen zum Verhältnis von Sprechen und Schreiben, zur Unterscheidung von Oralität und Literalität sowie aus verschiedenen Schrifttypen resultierende Erwerbsaspekte diskutiert. Anschließend (Kap. 4) wird aufbauend auf Überlegungen, welche Funktionen Sprechen und Schreiben für den einzelnen je nach sozialem Kontext haben können, der Begriff der literalen Kompetenz bestimmt, mithilfe dessen beschrieben werden soll, welche Kenntnisse und Fertigkeiten im Laufe eines erfolgreichen SSE entwickelt werden. Literalität und Biliteralität werden vor diesem Hintergrund – jeweils bezogen auf die Situation in Deutschland – als gesellschaftliche Größen bestimmt. Am Ende dieses Kapitels wird auf Aspekte der Entwicklung bilingualer literaler Kompetenz eingegangen, um einschätzen zu können, welche kognitiven Voraussetzungen Kinder in Deutschland für einen erfolgreichen bilingualen SSE bereits bei Schuleintritt mitbringen müssen. Diese Voraussetzungen und deren jeweilige Entwicklung werden in Kapitel 5 vorgestellt und diskutiert. In Kapitel 6 wird dann insbesondere auf die Rolle der soziokulturellen Kontexte früher Literalitätserfahrungen eingegangen, die für die Entwicklung der entsprechenden Kenntnisse und Fertigkeiten von besonderer Bedeutung sind. Schließlich wird unter Rückbezug auf die erarbeiteten Ergebnisse an exemplarischen Beispielen diskutiert, welche Konsequenzen daraus für die Vermittlungspraxis gezogen werden können (Kap. 7).

Bilingualer Schriftspracherwerb

2

Bilingualer Schriftspracherwerb

2.1

Bilingualismus – Aspekte des Begriffs

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Zunächst soll der Begriff Bilingualismus spezifiziert und darauf aufbauend das in dieser Arbeit gültige Verständnis von bilingualem SSE erarbeitet und so ein Rahmen für das weitere Vorgehen abgesteckt werden. An dieser Stelle scheint es sinnvoll, Bilingualismus von anderen Begriffen abzugrenzen. Hier ist zunächst der für das Ziel dieser Arbeit zu unspezifische Terminus des Multi- bzw. Plurilingualismus zu nennen, der als „the command and/or use of two or more languages by the respective speaker“ (Herdina/Jessner 2002, 52) verstanden wird. Demgemäß ist „the phenomenon of bilingualism (...) essentially a variant of multilingualism“ (a.a.O., S. 4). Zentral ist hier, dass Wechselwirkungen von zwei oder mehr Sprachen untersucht werden, wobei unerheblich ist, wann und wie diese erworben wurden. Bilingualismus und Zweitspracherwerb überlappen sich hier also inhaltlich (s. a.a.O., S. 53). Zudem wird mit Belliveau (2002, 10) davon ausgegangen, dass es unerheblich ist, „ob ein Kind von einem frühen Zeitpunkt an zwei oder noch mehr Sprachen ausgesetzt wird; Erwerbsprozesse und Entwicklungsverläufe scheinen die gleichen zu sein.“ Der Terminus Mehrsprachigkeit siedelt sich zwischen Multi- und Bilingualismus an, da er zwar etymologisch die Anwendung auf mehr als zwei Sprachen zulässt, faktisch jedoch meist synonym mit Bilingualismus gebraucht wird.11 Gegenbegriffe zu Bilingualismus sind Monolingualismus, wobei diese beiden Termini „nicht als dichotomes Begriffspaar (...), sondern vielmehr als Kontinuum“ (a.a.O., S. 17) zu sehen sind, und doppelte Halbsprachigkeit, die „die mangelhafte linguistische Kompetenz hinsichtlich der Funktion der Sprache für den Wissenserwerb“ bezeichnet (Avramidou 2002, 14). Nach dieser Unterscheidung werden verschiedene, für eine Eingrenzung des Begriffs bedeutsame Aspekte berücksichtigt, um anschließend eine für die Arbeit tragfähige Begriffsbestimmung vornehmen zu können. Hier ist zunächst wichtig, „to make an initial distinction between bilingualism and multilingualism as an individual characteristic, and bilingualism and multilingualism in a social group, community, region or country“ (Baker 2006, 2), wobei der Fokus dieser Arbeit auf dem individuellen Bilingualismus liegt. Eine weitere Unterscheidung betrifft den Erwerbszeitpunkt: Werden beide Sprachen bereits vor dem dritten Lebensjahr eingeführt, spricht man von simultanem, etwa ab diesem Zeitpunkt von sukzessivem Erwerb (s. 11

Dieser synonymischen Gebrauchsweise schließe ich mich an.