Besser werden

sen zum Ausdruck, ungezählte Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung erhalten regen Zulauf, Bestsellerlisten und Buchhandlungssortimente strotzen vor ent-.
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ISBN 978-3-89785-736-0

Kipke ·

Neuro-Enhancement ist eines der drängenden ethischen Probleme unserer Zeit: Sollen wir unsere mentalen Eigenschaften durch Pillen verbessern? Die ethische Diskussion stößt immer wieder auf die Frage, ob Neuro-Enhancement letztlich dasselbe ist wie die nicht-technischen Selbstverbesserungsmethoden durch mentale Arbeit (Selbstformung) oder ob es sich grundlegend davon unterscheidet. Obwohl diese Frage ein zentraler Angelpunkt der Debatte ist, wird sie bislang nie genauer untersucht. Mehr noch, es fehlt an einer tragfähigen Theorie dieser Selbstformung, obwohl sie weithin praktiziert wird. Was ist diese Selbstformung genau? Was macht sie mit dem Menschen? Roland Kipke greift dieses doppelte Desiderat auf. Er entwickelt ein Konzept der Selbstformung und führt einen systematischen ethischen Vergleich zwischen den beiden Wegen der Selbstverbesserung durch. Damit füllt er nicht nur eine zentrale Lücke in der Debatte um Neuro-Enhancement, sondern liefert darüber hinaus wesentliche Elemente einer Ethik der menschlichen Selbstverbesserung. »Besser werden« ist ein Meilenstein in der Debatte um Neuro-Enhancement und den verbessernden Umgang des Menschen mit sich selbst.

BESSER WERDEN

Roland Kipke

BESSER WERDEN Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement

Kipke · Besser werden

Roland Kipke

Besser werden Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement

mentis PADERBORN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Einbandabbildung: © Mara Zemgaliete (www.fotolia.com)

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dissertation an der Universität Kassel im Fachbereich 01 Erziehungswissenschaft/Humanwissenschaften, unter dem Titel »Die Verbesserung des Menschen. Selbstformung und Neuro-Enhancement im Vergleich«. Datum der Disputation: 9. September 2010

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706

© 2011 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-736-0

Meinem Vater Hans-Ulrich Kipke 1935–2003

Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Neuro-Enhancement – Wirklichkeit und Begriff . . . . . . 2.1 Das Machbare und das Mögliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Unterscheidung zwischen Enhancement und Therapie . . . . . .

23 23 29

3 Das Konzept der Selbstformung . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Auf der Suche nach einem Konzept der Selbstformung . . . 3.2 Die Elemente der Selbstformung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Person und Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Selbstbild und Selbstentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Selbstaufmerksamkeit und Selbststeuerung . . . . . . 3.3 Die Kontraste der Selbstformung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Neuro-Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Verwandte Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Typen der Selbstformung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Fazit: Eine komplexe Handlungsform mit offenen Grenzen

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37 37 49 49 55 60 64 66 70 70 71 72 76 79 86 91

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Das Desiderat der Selbstformung . . . Philosophie der Person . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . Philosophie der Moral . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie des Glücks und der Lebenskunst Fazit: Ein Desiderat und unerkannter Trend

5 Die Bedeutung der Selbstformung 5.1 Personale Identität . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . 5.1.2 Selbstverstehen . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Authentizität . . . . . . . . . . . . . .

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8

Inhaltsverzeichnis

5.2 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Wunscherkenntnis und -verstehen . . . . . . . 5.2.2 Fähigkeitserwerb und Selbstübereinstimmung 5.2.3 Selbststeuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Moralische Verantwortung . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Moralische Verbesserung . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Moralische Verbesserung als Imperativ . . . . 5.4 Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Fähigkeiten und Zustände . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Selbstverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Lebensplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Fazit: Der Mensch als Homo formator sui ipsius . . 6 6.1

6.2

6.3

6.4

6.5

Selbstformung und Neuro-Enhancement im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichspunkt personale Identität . . . . . . . . . . . 6.1.1 Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Selbstverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichspunkt Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Wunscherkenntnis und -verstehen . . . . . . . 6.2.2 Fähigkeitserwerb und Selbstübereinstimmung 6.2.3 Selbststeuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichspunkt Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Moralische Verantwortung . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Moralische Verbesserung . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Moralische Verbesserung als Imperativ . . . . Vergleichspunkt Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Fähigkeiten und Zustände . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Selbstverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Lebensplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Ein ungleiches Paar . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Abschliessende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 7.1 Harmonie oder Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 7.2 Die normativen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister

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Danksagung Dieses Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, die im April 2010 von der Universität Kassel angenommen wurde. Einer Reihe von Menschen bin ich dankbar für ihre Unterstützung. Zu allererst danke ich ganz herzlich meinem Doktorvater Kristian Köchy für seine aufmerksame Begleitung und Unterstützung meiner Arbeit von Anfang an und für seine ermutigende Offenheit gegenüber meinem Ansatz. Ebenso danke ich Ralf Stoecker für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten zu übernehmen, und für seine förderliche kritische Begleitung der Arbeit. Darüber hinaus habe ich Anregungen in Gesprächen und durch kritische Lektüre von Teilen des Textes erhalten, für die ich ebenfalls sehr dankbar bin. Dazu gehören Anke Klatt, Katharina von Falkenhayn, Marcus Düwell, Ralf Lutz, Thomas Potthast, Sebastian Schuol und Andreas Wolkenstein. In den letzten Jahren hatte ich zudem Gelegenheit, Ideen aus meiner Arbeit auf Konferenzen und Workshops in Berlin, Dresden, Erlangen, Freiburg, Kassel, Mülheim an der Ruhr, Münster, Potsdam, Stuttgart und Wien vorzustellen. Den Teilnehmern dieser Veranstaltungen bin ich für die Diskussionen und kritischen Rückmeldungen ebenfalls sehr dankbar. Den Großteil dieser Dissertation konnte ich in meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Medizinethik an der Charité in Berlin durchdenken und schreiben. Dafür bin ich der Charité zu Dank verpflichtet. Abschließen konnte ich die Arbeit dankenswerterweise als Wissenschaftlicher Koordinator des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Schließlich gilt mein Dank der VG Wort für die großzügige Übernahme der kompletten Druckkosten und den Mitarbeitern des mentis Verlags für die umsichtige und engagierte Betreuung der Publikation. Tübingen, im Januar 2011

Roland Kipke

1 Einleitung Wie ist es zu beurteilen, wenn Menschen durch medizinische Mittel ihre mentalen Fähigkeiten zu verbessern versuchen? Das ist die Ausgangsfrage. Denn seit geraumer Zeit rückt zunehmend die Möglichkeit in den Blick, mithilfe von Medikamenten, die eigentlich für therapeutische Zwecke vorgesehen sind, mentale Eigenschaften bei Gesunden zu entwickeln und zu verstärken. Die Hoffnungen richten sich u. a. darauf, das Gedächtnis zu steigern, die Aufmerksamkeit zu erhöhen, die Stimmungslage aufzuhellen oder die sozialen Fähigkeiten zu verbessern. 1 All das wird als Neuro-Enhancement bezeichnet. 2 »Enhancement« ist der Sammelbegriff für diverse biomedizinisch-technische Verfahren, mit deren Hilfe Menschen sich zu verbessern versuchen oder andere Menschen verbessert werden sollen, ohne dass sie in der betreffenden Hinsicht krank sind. Dazu zählen die Schönheitschirurgie, die Anti-Aging-Medizin, die Keimbahnmanipulation und eben das Neuro-Enhancement. Neuro-Enhancement wirft besondere ethische Fragen auf. Denn anders als die Schönheitschirurgie greift es direkt in die Persönlichkeit ein. Es berührt uns in einem anderen, gesteigerten Sinn in dem, was wir selbst sind, als es das Absaugen einer Fettschicht tut. Die Identität könnte auch durch gentechnische Manipulation beeinflusst werden. Doch die geschähe am Beginn des Lebens, so dass man keinen Vergleich mit einem Vorher hätte. Neuro-Enhancement interveniert in eine vorhandene Persönlichkeit. Und vor allem: Eine gentechnische Verbesserung von Menschen gibt es bislang nicht, der pharmakologische Eingriff ins Gehirn hingegen ist Realität. Die Gedächtnispillen, Konzentrationspillen, Stimmungspillen, »Glückspillen« wie Ritalin, Modafinil und Prozac sind nicht nur eine Idee, sondern sie liegen bereit und werden in großer Zahl geschluckt. 3 Vermutlich wird sich das Angebot an Mitteln des Neuro-Enhancements in Zukunft erweitern. Von den Neurowissenschaften sind weitere Einsichten in die Funktionszusammenhänge des menschlichen Gehirns zu erwarten, die neue Eingriffsmöglichkeiten eröffnen. Zwar ist die Wirksamkeit heutiger Neuro-Enhancement-Pillen noch gering, doch ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie von anderen, 1

Der Begriff »mental« wird auf zwei verschiedene Weisen verwendet. In einer engeren, landläufigen Bedeutung sind damit nur kognitive Eigenschaften gemeint. In einer weiteren Bedeutung, die in der Philosophie des Geistes üblich ist, umfasst er den Gesamtbereich des Psychischen, also neben der Kognition auch die Bereiche des Fühlens und Wollens. Ich verwende ihn ausschließlich in dieser weiten Bedeutung. 2 Alternative Begriffe sind »Cognitive Enhancement«, »Hirndoping« und »Mind-Doping«. 3 Zur besseren Lesbarkeit verzichte ich im gesamten Text auf die Kennzeichnung der Medikamente als eingetragene Markenzeichen.

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1. Einleitung

wirksameren und nebenwirkungsärmeren Mitteln abgelöst werden. Für die Pharmaindustrie bietet sich ein enorm großer Markt, der nicht auf bestimmte Patientengruppen beschränkt ist. Die Pharmaunternehmen können davon ausgehen, dass die größten Profite in Zukunft nicht mehr auf medizinischem Feld, sondern im Lifestyle-Bereich zu erzielen sind. Und mit dem Internet besteht ein weltweites Vertriebsnetz. Möglicherweise werden in Zukunft auch nicht-pharmakologische Mittel zum Neuro-Enhancement zur Verfügung stehen (vgl. 2.1). Neuro-Enhancement wirft eine Reihe schwieriger ethischer Fragen auf. Sind die gesundheitlichen Nebenwirkungen akzeptabel? Ist Neuro-Enhancement eine legitime Aufgabe der Medizin? Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn sich manche ihrer Mitglieder durch solche Mittel Vorteile verschaffen? Wie soll das Recht darauf reagieren? Wie wirkt Neuro-Enhancement auf die Identität der Nutzer? 4 Ist es dem menschlichen Individuum zuträglich, wenn es sich auf diese Weise zu verbessern versucht? Die Frage nach der Zuträglichkeit für den Einzelnen steht im Zentrum der Debatte. Auch ich stelle sie in den Vordergrund, wenngleich im weiteren Verlauf der Untersuchung die Grenze zu sozialethischen Fragen teilweise überschritten wird. Die möglichen oder wahrscheinlichen Auswirkungen auf den einzelnen Nutzer sind es vor allem, die sowohl die enormen Hoffnungen entfachen als auch das moralische Unbehagen auslösen. Bei der Suche nach einer Antwort stößt man unweigerlich auf weitere Fragen: Liegt das, was am Neuro-Enhancement problematisch erscheint, an seinen Zielen? Oder sind die Mittel das Problem? Um hier weiter zu kommen, müssen wir klären, was grundsätzlich von der absichtlichen Verbesserung menschlicher Persönlichkeit zu halten ist und worin sich die Mittel unterscheiden. Denn das Ziel der Selbstverbesserung ist ja nicht erst mit Neuro-Enhancement auf den Plan getreten. Im Gegenteil, es zeichnet den Menschen aus, nicht nur nach einer Verbesserung seiner Umwelt zu streben, sondern ebenso sich selbst verbessern zu wollen, sowohl körperlich als auch psychisch. 5 Dieses Streben nach Selbstverbesserung ist etwas, das wir im Grundsatz schätzen. Und gerade der Versuch, auf mentalen Wegen, durch so genannte Arbeit an sich selbst, seine Persönlichkeitsmerkmale zu verbessern, hat eine lange und reiche Tradition. Entscheidend für die Bewertung von Neuro-Enhancement dürfte also die Frage sein, wie es sich zu den traditionellen Wegen der mentalen Selbstverbesserung verhält. 6 Ist NeuroEnhancement etwas ganz anderes? Oder ist es im Großen und Ganzen dasselbe? 4

Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber ausschließlich die männliche Form wählen. Vgl. Foucault 1989; Foucault 2004; Wiesing 2006. 6 »Selbstverbesserung« heißt zunächst nicht mehr, als dass die betreffenden Personen die angestrebte Veränderung zum Zeitpunkt der entsprechenden Maßnahme subjektiv als eine Verbesserung bewerten. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, ob die Maßnahmen »wirklich«, d.h. in einem objektiven und längerfristigen Sinne eine Verbesserung darstellen. Das ist ja gerade die Frage, die sich der ethischen Reflexion stellt. 5

1. Einleitung

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Tatsächlich führt die ethische Debatte um Neuro-Enhancement immer wieder zu dieser Frage nach dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Wegen der Selbstverbesserung. Sie findet denkbar unterschiedliche Antworten. Während manche Autoren die Gemeinsamkeiten herausstellen, betonen andere die Unterschiede. Während für einige das Neuro-Enhancement nur »die Fortsetzung eines zum Menschen gehörenden geistigen Optimierungsstrebens mit anderen Mitteln« ist 7, bringt es nach Meinung anderer ein ganz neuartiges Kontroll- und Effizienzstreben mit sich. 8 Diese gegensätzlichen Urteile sind Teil divergenter Argumentationsstrategien. Während die einen mit dem Vergleich Neuro-Enhancement als verhältnismäßig harmlos erweisen wollen, möchten die anderen damit seine Gefährlichkeit unterstreichen. Eines aber eint die verschiedenen Vergleichsansätze: Sie sind allesamt oberflächlich. Sehr oberflächlich sogar. Die Beziehung zwischen Neuro-Enhancement und alternativen Selbstveränderungsmethoden wird angesprochen, angedeutet, tangiert, aber niemals mit der nötigen Gründlichkeit analysiert. Obwohl viele Autoren dem Vergleich erhebliche Bedeutung zumessen, führen sie ihn nicht durch. Sie setzen ihn und seine Ergebnisse vielmehr voraus. 9 Ein sorgfältiger Vergleich ist also in der Diskussion um Neuro-Enhancement eine auffällige Lücke. Sie zu schließen ist die Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Die Absicht ist, die Ausgangsfrage nach der Bewertung von Neuro-Enhancement mithilfe eines systematischen Vergleichs zwischen Neuro-Enhancement und mentalen 7

Galert u.a. 2009, 11. Vgl. z.B. Boldt/Maio 2009, 393. 9 Da diese Feststellung für die Verortung und Berechtigung dieser Arbeit zentral ist, seien einige Beispiele genannt: Arthur Caplan spricht schlichtweg von »improvement« und lässt so die Frage nach Differenzen zwischen mentaler und technisch-medizinischer Selbstverbesserung kaum aufkommen (Caplan 2003, 105). Bettina Schöne-Seifert argumentiert dafür, dass ein Nachhelfen den Wert geistiger Leistungen nicht mindere, und erledigt den Vergleich mit der rhetorischen Frage: »Warum sollte dies im Fall des medikamentösen Nachhelfens anders sein als beim Meditieren, gecoacht Werden oder Rauchen?« (Schöne-Seifert 2006, 284). Gereon Schäfer und Dominik Groß stellen in einem Satz fest: »Ein weiterer wichtiger Aspekt bei einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist die Verfügbarkeit oder das Fehlen von alternativen ›Behandlungs‹-Möglichkeiten« und zählen kurz einige Beispiele wie Coaching, autogenes Training und Meditation auf (Schäfer/Groß 2008, 211). Bernward Gesang plädiert in seiner ausführlichen Studie Perfektionierung des Menschen für eine Begrenzung auf moderates Enhancement und versucht dessen nähere Bestimmung mit der Überlegung: »Ein Maßstab für moderate Schritte könnte sein, dass die einzelnen Verbesserungen, die durch Technik erzielt wurden, auch im Prinzip durch Erziehung, Training oder Psychotherapie hätten erreicht werden können«, womit seine Auseinandersetzung mit diesem Maßstab schon beendet ist (Gesang 2007, 40). Reinhard Merkel zufolge drängt sich der Vergleich mit den »seit eh und je geläufigen Methoden der geistigen Erziehung und Selbsterziehung« auf. Auch er verzichtet auf die Durchführung dieses Vergleichs, setzt aber die Gleichheit beider Selbstverbesserungsmethoden voraus, um damit für die Unbedenklichkeit des Neuro-Enhancements zu argumentieren (vgl. Merkel 2009, 187). Vgl. u.a. auch Normann u.a. 2010, 72f. 8

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1. Einleitung

Selbstverbesserungsmethoden zu beantworten. Anders gesagt: Ich will Neuro-Enhancement im Lichte von Alternativpraktiken untersuchen und so Anhaltspunkte für seine ethische Bewertung gewinnen. Damit ist klar, dass dieses »Andere« des Neuro-Enhancements in der vorliegenden Arbeit breiten Raum einnimmt. Denn es muss genau geklärt werden, um was es sich dabei überhaupt handelt und welcher Wert ihm zukommt. Und das ist keine geringe Herausforderung. Bislang gibt es nämlich nicht nur keine profunden bioethischen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Neuro-Enhancement und den mentalen Methoden der Selbstverbesserung, sondern auch das Phänomen dieser alternativen Selbstverbesserungsmethoden als solches findet kaum ausdrückliche und systematische Behandlung in der Philosophie. Das zeigt sich schon daran, dass es keinen etablierten Begriff für diese Praktiken gibt. Die Rede ist von Selbsterziehung, Selbstsorge, Selbstverwirklichung, Selbstbildung, Arbeit an sich selbst und vielem mehr. Ich spreche von Selbstformung. »Selbstformung« bezeichnet also die absichtliche Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen durch mentale Aktivität der jeweiligen Person. 10 Selbstformung spielt in verschiedenen klassischen Philosophien und geistigen Traditionen eine tragende Rolle, sie kommt in autobiographischen Zeugnissen zum Ausdruck, ungezählte Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung erhalten regen Zulauf, Bestsellerlisten und Buchhandlungssortimente strotzen vor entsprechender Ratgeberliteratur. 11 Selbstformung weist ein weites Spektrum auf. Sie kann in Gestalt systematischer Konzentrations- und Gedächtnistrainings oder bewährter Meditationspraktiken durchgeführt werden, aber vor allem auch in dem namentlich schwer greifbaren, doch vielpraktizierten Bemühen, seine Verhaltensweisen im Verhalten zu ändern, zum Beispiel seine Schüchternheit zu überwinden oder Geduld zu üben. Selbstformung kann gemeinsam oder allein, systematisch nach einem festgefügten Trainingsplan oder unsystematisch betrieben werden. Sie kann umfassend sein oder nur einzelne Persönlichkeitsmerkmale betreffen. Und sie kann unterschiedlichen Motiven folgen und Zielen folgen. Es kann um die Vermeidung sozialer Konflikte gehen, um berufliche Ziele, religiöse Bestrebungen etc. Trotz dieser unübersehbaren lebensweltlichen Relevanz wird das Thema in der Philosophie ausgesprochen stiefmütterlich behandelt. Somit kann ich nicht auf ein existierendes klares Konzept dieser Praktiken aufbauen, es stehen keine brauchba10

Hier geht es um eine erste Bestimmung des Selbstformungsbegriffs. Eine umfassende und genauere Klärung erfolgt in Kap. 3, v.a. 3.2. Warum die Wahl auf diesen Begriff gefallen ist, begründe ich ausführlich in 3.3.5. 11 Um einem eventuell nahe liegenden Einwand sogleich zuvorzukommen: Selbstformung ist keineswegs ein elitäres Phänomen, kein Kennzeichen privilegierter Schichten, wie ein Blick in entsprechende Internetforen lehrt: Die 15jährige Hauptschülerin versucht, »cooler« zu werden, der arbeitslose Jugendliche arbeitet an seiner Durchsetzungskraft etc.