Auf einen Wein in Seneca

152 Suizid. 157 Karriere-Aussteiger. 161 Wohltaten für Euro-Sünder? 164 Freundschaft. 168 Pessimismus und German. Angst. 172 Senecas philosophischer.
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Auf einen Wein mit Seneca

Gespräche über Gott und die Welt, aufgezeichnet von Karl-Wilhelm Weeber

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 2. unveränderte Auflage 2015, die 1. Auflage erschien 2012 im Primus Verlag Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: mm design, Mario Moths, Marl Einbandmotiv: © fotolia/see_photography Motiv S. 1: Teil der Statue von Nero und Seneca, Cordoba, Spanien; © photaki / Miguel López Morales Motiv S.5, S.13: © picture-alliance/akg-images Layout & Satz: mm design, Mario Moths, Marl Redaktion: Rainer Wieland, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3169-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3180-9 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-3181-6

Inhalt

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Statt einer Einleitung: Seneca interviewt seinen Interviewer

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Rollentausch

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Seneca im Interview: Gespräche über Gott und die Welt

14 Zeitverschwendung 18 Macht Geld glücklich?

120 Der Wind, das Meer, der Imperialismus

22 Der Sex, die Frau, die Unmoral

124 Wellness mit Risiko

26 Massen-Panik?

131 Römischer Krach

30 Der Philosoph in der Gesellschaft

134 Solidarität

33 Gott und Mensch

141 Zur Didaktik des Philosophie-Unterrichts

38 Fragwürdige Wein-Seligkeit 42 Physik studieren! 47 Dem Wutbürger ins Stammbuch

127 Trauer und Trost

138 Freizeitstress

145 Reisekrankheit, anders definiert 148 Ein grüner Seneca?

51 Steuer des Lebens

152 Suizid

56 Alexander der nicht ganz so Große

157 Karriere-Aussteiger

60 Schnee und Eis

164 Freundschaft

63 Sport

168 Pessimismus und German Angst

67 Sklaverei und Freiheit 71 Gier 75 Work-Life-Balance 78 Ein richtiger Blödmann 81 Krankheit und Schmerz 86 Sex-Spiele mit Reflexion 90 Seniorenstudium 95 Glaubwürdigkeit trotz Reichtums? 99 Nachtmenschen 102 Erziehung 106 Mobbing 109 Spiele, Spaß und Feste 113 Das Glück des Tüchtigen? 116 Börsencrash

161 Wohltaten für Euro-Sünder?

172 Senecas philosophischer Katechismus 175 Anhang 175 Abkürzungsverzeichnis 176 Die Autoren

Statt einer Einleitung

Seneca interviewt seinen Interviewer

Rollentausch



„Fürchtest du nicht, dem Zeitgeist zu sehr zu huldigen?“

Sermones, quos inter nos habitos esse finxisti, mihi, ut probarem, proposuisti. At dubium mihi est, num electio ista et compositio probanda sit. Nonne hoc libello homines tui temporis ad philosophiam adhortari tibi propositum est? Du hast mir die scheinbar zwischen uns geführten Gespräche zur Prüfung vorgelegt. Ich bin aber im Zweifel, ob deine Auswahl und Zusammenstellung gutzuheißen sind. Geht es dir denn nicht darum, mit dem Büchlein die Menschen deiner Zeit zur Philosophie zu ermuntern? Wenn sich der eine oder die andere intensiver mit philosophischen Fragen beschäftigen will, wird er manche Anknüpfungspunkte in Ihren Ausführungen finden. Es werden ja auch viele überzeitliche Fragen und allgemeinmenschliche Probleme angesprochen. Aber eine Anleitung oder gar Anstiftung zu Ihrer – der stoischen – Philosophie soll unser Interviewband nicht sein.

In quas res praeter philosophiam vis ingredi? Num quaedam, quae sermonibus tantummodo perstricta atque attacta sunt, in vulgus edere proponis? Welche Themen willst du, abgesehen von der Philosophie, behandeln? Hast du etwa vor, manches gesprächsweise nur Angetippte oder kurz Gestreifte zu veröffentlichen? In gewisser Weise schon. Es soll ein Potpourri von Themen sein, eine breite Palette von Gegenständen. Man erfährt im Gespräch mit Ihnen ja auch vieles kulturgeschichtlich Interessante und Amüsante. Sie geben sehr dezidierte Urteile zu historischen Persönlichkeiten ab; vor allem aber nehmen Sie zu ganz aktuellen Fragen unserer modernen Zeit in, wie wir finden, erfreulich erhellender Weise und mit „klarer Kante“ Stellung. Man muss nicht immer Ihrer Meinung sein, aber Sie anzuhören lohnt sich immer.

Nonne vereris, ne hoc modo nimis aetatis ingenio assentiaris eaque, quae duobus fere milibus annorum ante sensa sunt, ad tuorum temporum mores accomodes? Fürchtest du nicht, auf diese Weise dem Zeitgeist zu sehr zu huldigen und Gedanken, die fast zweitausend Jahre alt sind, der Moderne überzustülpen? Keine Sorge! Wenn man sich von diesem methodischen Bedenken gegen die Aktualisierung „historischer“ Aussagen allzu sehr leiten ließe, hieße

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das ja, dass Denker wie Sie uns nichts mehr zu sagen hätten. Tatsächlich aber stellen wir erfreut fest, dass durchaus Bedarf an orientierenden Ratschlägen und gedanklichen Wegweisern der Geistesgeschichte besteht. Ihre Werke werden doch sogar noch im modernen Lateinunterricht gelesen – auch da übrigens keineswegs nur, weil man sich in der eigenen Meinung bestätigen will, sondern auch, weil Sie mit Ihren manchmal sehr unzeitgemäßen Ansichten kräftig anecken – und damit zur Auseinandersetzung und zum Nachdenken provozieren.

Nisi fallor, aliquot sermones ita composuisti, ut e variis fontibus, ut ita dicam, hauseris sententiasque meas nonnumquam a perpetuitate sermonis divulseris. Quod mihi a ratione ac via eorum, qui profitentur philologiam, longe abhorrere videtur. Wenn ich mich nicht täusche, hast du etliche Gespräche so zusammengestellt, dass du gewissermaßen aus verschiedenen Quellen schöpfst und meine Gedanken aus dem Kontext löst. Das scheint mir von methodisch sauberem philologischem Vorgehen weit entfernt zu sein. Merkwürdig, dass gerade Sie uns bei der philologischen Ehre packen wollen, der Sie doch selten ein gutes Wort für die Philologen übrig haben! Die drohen ja Ihrer Meinung nach die Philosophie sprachlich zu zerrupfen. Aber gut, in der Sache haben Sie nicht unrecht: Wir haben tatsächlich thematisch Zusammengehöriges vielfach kompiliert und hin und wieder auch Passagen gekürzt. Trotzdem haben wir kein so ganz schlechtes Gewissen dabei.

Fac promas, si quid habes, quo te purges! Equidem totus auris sum. Nur heraus damit, wenn du etwas zu deiner Rechtfertigung vorzutragen hast! Ich jedenfalls bin ganz Ohr. Es gibt eine Reihe von Seneca-Anthologien, die nur Ihre starken Sprüche – oder sagen wir vornehmer: Ihre Bonmots und Sentenzen – abdrucken, und zwar meist ohne jeden Kontext. Von denen soll sich unser Interview-Band deutlich abheben, indem er Ihnen auch Raum gibt, Ihre Argumentationsgänge zu entfalten, die Sie am Ende mit Ihren berühmten Sentenzen krönen.

Id studens nonne satius esse putas omnes meas sententias integras reddere? Attamen multa in crustula, ut ita dicam, scidisti. An vero voces inanes me fudisse existimas, quae ad brevitatem concisam tibi potissimum sint redigendae?

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Wenn du darauf zielst, glaubst du nicht, es ist besser, alle meine Gedanken ungekürzt wiederzugeben? Stattdessen hast du vieles sozusagen in Zuckerhäppchen zerschnitten. Oder meinst du etwa, dass ich leere Reden führe, die ausgerechnet du auf gedrungene Kürze trimmen musst? Um Gottes willen, das wollen wir nicht andeuten! Was bei anderen vielleicht hier und da als Langatmigkeit erscheint, ist bei Ihnen doch stets angemessene Länge, die ja auch in Ihrer wunderbaren prägnanten brevitas („Kürze“) ein stilistisches Widerlager hat. Aber mit den Zuckerstückchen, da haben Sie recht. Wir bekennen uns schuldig im Sinne der Häppchen-Anklage. Aber wissen Sie, wie man das ansprechender – und lateinischer! – benennen kann?

Ne tenuissima quidem dubitatio me tenet, quin tu et ista, ut quidem tibi videtur, probare valeas. Ich hege nicht den leisesten Zweifel daran, dass du auch das schmackhaft machen kannst – jedenfalls scheint es dir so. Da schwingt ein spitzer Unterton mit … Aber wir wollen ja nicht wechselseitig Empfindlichkeiten austragen. Der bessere Begriff ist „Appetizer“. Wir wollen einen Vorgeschmack auf den ganzen Seneca geben, Lust machen darauf, zu Ihren Werken auch im Ganzen zu greifen, uns dafür einsetzen, dass die Leser das „anstreben“. Im „Appetizer“ und im „Appetit“ steckt ja, Ihnen brauchen wir das eigentlich nicht in Erinnerung zu rufen, appetere, „nach etwas greifen“, „etwas anstreben“.

Re vera philologus acutior callidiorque esse videris. Sed dic, quare sermones nostros in sermonem barbarum converteris. An id agis, ut linguae Latinae illam et vim et pulchritudinem et claritatem deroges, qua per tot saecula omnium iudicio gloriam sibi peperit linguarum reginae? Tatsächlich, du scheint ein ziemlich spitzfindiger und cleverer Philologe zu sein. Aber sag mal: Warum hast du unsere Gespräche ins Barbarische übersetzt? Geht es dir etwa darum, der lateinischen Sprache jene Ausdruckskraft, Schönheit und Klarheit streitig zu machen, dank deren sie sich so viele Jahrhunderte hindurch nach dem Urteil aller den Ruhm einer Königin der Sprachen erworben hat? Im Gegenteil, verehrter Seneca! Sehen Sie es als Hommage an diese Königin, vor allem aber an Ihre eigene stilistische Brillanz, Ihre pointierte, dem Kenner genussvolle Ausdrucksweise und sprachlich-gedankliche Meisterschaft an, dass wir Sie im Original zu Wort kommen lassen! Wenn wir Sie

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darüber hinaus auch im barbarischen Idiom wiedergeben, so ist das der Zeit geschuldet. Nicht alle, die es verdienen, mit Ihren Gedanken vertraut zu werden, sind der Königin der Sprachen mächtig!

O tempora, o mores! Welche Zeiten, welche Sitten! Wem sagen Sie das?! Aber es hat keinen Zweck, darüber zu jammern. Der Untergang des Abendlandes steht, finden wir, trotzdem nicht bevor – jedenfalls nicht aus dieser Richtung. Ihre Muttersprache ist im Übrigen in unseren Schulen immer noch beziehungsweise wieder sehr gut im Geschäft, wenn wir das so flapsig formulieren dürfen. Aber wissen Sie, was auch gegen Bildungsfrust manchmal ganz hilfreich ist? Raten Sie mal: Wir verdanken auch das den Römern!

O te adulatorem vel potius corruptorem! Certe inscriptionem libri significas, qua sermones nostros falsam speciem atque imaginem Senecae cuiusdam vinolenti fingens complexus es. Du Schmeichler oder eher Verführer! Sicher spielst du auf den Titel des Buches an, unter dem du unsere Gespräche zusammenfasst – und dabei den falschen Eindruck einer Art von weinseligem Seneca erweckst. Aber bester Seneca! Es macht Sie doch, zumal Sie bei manch einem im Verdacht der – sit venia verbo – Spaßbremse stehen, nur sympathischer, wenn Sie und wir uns bei den angeregten Gesprächen mit Ihnen ein Gläschen Wein genehmigen oder auch zwei! Und außerdem dürfen wir ausnahmsweise mit einem Zitat argumentieren: animus aliquando in exsultationem libertatemque extrahendus tristisque sobrietas removenda paulisper; „manchmal muss man die Seele zu größerer Ausgelassenheit und Freiheit ermuntern und die mürrische Nüchternheit eine Zeit lang aufgeben“

(tr. an. 17, 9).

Sie ahnen sicher, wen wir da zitieren?

O me miserum! Quid est homo? Imbecillum corpus et fragile, nudum, suapte natura inerme, alienae opis indigens, ad omnes fortunae contumelias proiectum (cons. Marc. 11, 3). Age, praebe poculum! Ich Ärmster! Was ist der Mensch? Ein schwacher, zerbrechlicher Körper, nackt und von Natur unbewaffnet, fremder Hilfe bedürftig, allen Misshandlungen des Schicksals ausgeliefert. Los, reich mir einen Becher!

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Seneca im Interview

Gespräche über Gott und die Welt



Zeitverschwendung

„Indem es aufgeschoben wird, läuft das Leben sozusagen durch ...“ „Keine Zeit!“ Das hört man ein paar Mal am Tag, und zwar von Menschen unterschiedlichster Stellung und jeden Alters. Ist unsere Lebenszeit zu knapp bemessen? Non accipimus brevem vitam, sed fecimus, nec inopes eius, sed prodigi sumus. (brev. vit. 1, 4) Wir erhalten kein kurzes Leben, sondern wir haben es dazu gemacht. Wir sind nicht arm an Lebenszeit, sondern gehen verschwenderisch mit ihr um.

Inwiefern? Quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura, quae per neglegentiam fit. Et, si volueris attendere, maxima pars vitae elabitur male agentibus, magna nihil agentibus, tota vita aliud agentibus. (ep. 1, 1) Ein Teil der Zeit wird uns entrissen, ein anderer uns heimlich entwendet, ein dritter verrinnt einfach. Am schändlichsten ist indes der Zeitverlust, der durch eigene Nachlässigkeit entsteht. Schau nur genau hin: Der größte Teil des Lebens entgleitet uns mit schlechten Taten, ein großer Teil durch Nichtstun, das ganze Leben damit, dass wir etwas anderes tun, als wir eigentlich tun sollten.

Das klingt hübsch zugespitzt-sententiös, ist uns aber zu wenig konkret. Womit verplempern wir unsere Lebenszeit nach Ihrer Meinung? Vita, si uti scias, longa est. Alium insatiabilis tenet avaritia, alium in supervacuis laboribus operosa sedulitas; alius vino madet, alius inertia torpet; alium defetigat ex alienis iudiciis suspensa semper ambitio, alium mercandi praeceps cupiditas circa omnis terras, omnia maria spe lucri ducit; multos aut affectatio alienae formae aut suae cura detinuit, plerosque nihil certum sequentis vaga et inconstans et sibi displicens levitas per nova consilia iactavit; quibusdam nihil, quo cursum derigant, placet, sed marcentis oscitantisque fata deprendunt. (brev. vit. 2, 1f.) Wenn du dein Leben zu nutzen verstehst, ist es lang. Aber den einen hält unersättliche Habgier gefangen, den anderen eine anstrengende Betriebsamkeit bei überflüssigen Mühen, der eine versumpft im Weingenuss, der andere erstarrt im Nichtstun; den einen macht ständiger Ehrgeiz fertig,

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der ja vom Urteil anderer abhängt, den anderen führt rastlose Gier, Geschäfte zu machen, in der Hoffnung auf Profit durch Länder und Meere; viele nehmen die Liebe zu fremder Schönheit und die Sorge um die eigene in Beschlag, die meisten, die kein klares Ziel verfolgen, jagt eine unstete, unbeständige, sich selbst misstrauende Haltlosigkeit durch immer neue Pläne; manchen passt nichts, worauf sie den Kurs ihres Lebens ausrichten könnten, sondern das Schicksal packt sie in ihrer Schlaffheit und ihrem ständigen Gähnen.

Könnte man sagen: Es mangelt vielen am Zeit-Bewusstsein? Exigua pars est vitae, qua vivimus. Ceterum quidem omne spatium non vita, sed tempus est. (brev. vit. 2, 2) Es ist nur ein kleiner Teil des Lebens, in dem wir bewusst leben. Die übrige Spanne ist ja nicht wirklich Leben, sondern einfach nur Zeit.

Also eine Zeitverschwendung, die die meisten Menschen gar nicht wahrnehmen? Dum differtur vita, transcurrit. Omnia aliena sunt, tempus tantum nostrum est: in huius rei fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex quo expellit, quicumque vult. (ep. 1, 2f.) Indem es aufgeschoben wird, läuft das Leben sozusagen durch. Alles andere ist fremdes Eigentum, nur die Zeit gehört uns. Die Natur hat uns in den Besitz dieser flüchtigen und schlüpfrigen Sache eingesetzt, aus dem uns jeder x-Beliebige vertreibt.

Wie kommt das? Re omnium pretiosissima luditur. Fallit autem illos, quia res incorporalis est, quia sub oculos non venit ideoque vilissima aestimatur, immo paene nullum eius pretium est. Annua, congiaria homines carissime accipiunt et illis aut laborem aut operam aut diligentiam suam locant; nemo aestimat tempus; utuntur illo laxius quasi gratuito. (brev. vit. 8, 1f.) Mit der wertvollsten Sache von allen spielt man herum. Die Leute lassen sich täuschen, weil die Zeit ein unkörperliches Ding ist, weil sie uns nicht unter die Augen kommt und sie deshalb als überaus wohlfeil gilt. Ja, eigentlich hat sie fast überhaupt keinen Wert. Jahresgehälter und Geldgeschenke nehmen die Menschen mit größter Dankbarkeit an, und dafür wenden sie Arbeit, Mühe oder Sorgfalt auf. Aber keiner misst der Zeit einen Wert bei; man nutzt sie ziemlich entspannt – als wäre sie umsonst.

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Was sie Ihrer Meinung nach nicht ist. Wie stellt sich für Sie das Verhältnis zwischen Lebenszeit und Tod dar? Quem mihi dabis, qui aliquod pretium tempori ponat, qui diem aestimet, qui intelligat se cotidie mori? In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeteriit. Quicquid aetatis retro est, mors tenet. (ep. 1, 2) Wen kannst du mir zeigen, der der Zeit überhaupt einen bestimmten Wert beimisst? Der den einzelnen Tag zu schätzen weiß, der erkennt, dass er tagtäglich stirbt? In dem Punkte irren wir uns ja, dass wir den Tod vor uns sehen: Ein großer Teil von ihm ist schon vorbei. Alles, was an Zeit hinter uns liegt, besitzt der Tod.

Ein Perspektivenwechsel, der aufrütteln könnte oder sollte! Sie nehmen sehr eindringlich gegen die übliche, von Verdrängungsmechanismen begünstigte Zeitverschwendung Stellung. Dürfen wir fragen, wie Sie es persönlich mit Ihrem Zeitmanagement halten? Führen Sie ein Zeit-Sparbuch? Fatebor ingenue: quod apud luxuriosum, sed diligentem evenit – ratio mihi constat impensae. Non possum dicere nihil perdere, sed quid perdam et quare et quemadmodum, dicam: causas paupertatis meae reddam. (ep. 1, 4) Ich beichte es freimütig. Es ist so, wie es bei einem sehr wohlhabenden, aber wenigstens sorgfältigen Menschen üblich ist: Die Buchführung stimmt mit den Ausgaben überein. Ich kann nicht behaupten, dass ich nichts verliere, aber was ich verliere und warum und unter welchen Umständen – das kann ich dir darlegen. Ich kann über die Ursachen meiner Zeitarmut Rechenschaft ablegen.

Das heißt: Sie erfüllen zumindest Ihre eigene Forderung, sich die Zeit in ihrem Ablauf bewusst zu machen. Hat diese Sensibilität im Alter zugenommen? Non solebat mihi tam velox tempus videri; nunc incredibilis cursus apparet, sive quia admoveri lineas sentio, sive quia adtendere coepi et computare damnum meum. Eo magis itaque indignor aliquos ex hoc tempore, quod sufficere ne ad necessaria quidem potest, etiam si custoditum diligentissime fuerit, in supervacua maiorem partem erogare. (ep. 49, 4f.) Früher schien mir die Zeit nicht so geschwind zu enteilen. Jetzt erscheint mir ihr Lauf unglaublich schnell, sei es, weil ich die Grenzlinie nahen spüre, sei es, weil ich angefangen habe, mein Augenmerk auf meinen Verlust

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zu richten und ihn zusammenzurechnen. Umso mehr empöre ich mich daher über Leute, die von dieser Zeit, die nicht einmal für die notwendigen Dinge ausreichen kann, auch wenn sie besonders sorgfältig gehütet wird, den größeren Teil auf Überflüssiges verwenden.

Ganz so überzeugt, dass wir auch bei größerem Zeitbewusstsein genügend Lebenszeit zur Verfügung haben, hört sich das nicht mehr an. Aber gut. Geben Sie uns am Schluss einen konkreten Rat, wie wir das Viel oder Wenig unserer Lebenszeit möglichst ohne die übliche Verschwendung sinnvoll und bewusst nutzen können? Maxima vitae iactura dilatio est. Illa primum quemque extrahit diem, illa eripit praesentia, dum ulteriora promittit. Maximum vivendi impedimentum est exspectatio, quae pendet ex crastino, perdit hodiernum. Quo spectas? Quo te extendis? Omnia, quae ventura sunt, in incerto iacent: Protinus vive! (brev. vit. 9, 1) Der größte Verlust an Lebenszeit ist der Aufschub. Er entzieht uns gerade die nächsten Tage, er entreißt uns das Gegenwärtige, indem er das in der Zukunft Liegende verspricht. Das größte Hindernis auf dem Weg zum bewussten Leben ist die Erwartung. Sie macht sich vom Morgen abhängig und verschwendet das Heute. Wohin blickst du? Wonach streckst du dich aus? Alles, was kommen wird, liegt im Ungewissen: Lebe jetzt!

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Macht Geld glücklich?



„Dann sehen die Leute wenigstens, dass Geld auch im Puff lagert ...“

Glück und Geld gehören für viele Menschen ursächlich zusammen:Wenn ich reich bin, bin ich glücklich – so stellt es sich ja wohl nicht nur für Schlichtgemüter dar. Fateor. (ep. 115, 17) Zugegeben.

Aber? Utinam qui divitias optaturi essent, cum divitibus deliberarent, utinam honores petituri cum ambitiosis et summum adeptis dignitatis statum! (ep. 115, 17) Es wäre gut, wenn sich diejenigen, die sich Reichtum wünschen, vorher mit reichen Leuten darüber berieten, und es wäre ebenso gut, wenn sich diejenigen, die nach Ehrenstellen streben, von Ehrgeizigen und von Menschen, die höchste Würden erlangt haben, beraten ließen.

Warum? Sie machen es ja spannend … Profecto vota mutassent, cum interim illi nova suscipiunt, cum priora damnaverint. Nemo enim est, cui felicitas sua, etiam si cursu venit, satis faciat. (ep. 115, 17) Bestimmt würden sie ihre Wünsche ändern, während ihre Gesprächspartner schon neue Wünsche hegen, nachdem sie ihre früheren verworfen haben. Denn es gibt niemanden, dem sein Glück, auch wenn es im Sturmschritt zu ihm kommt, ausreicht.

Sie meinen: Der materielle Glücksbegriff ist dynamisch, und selbst derjenige, der eigentlich schon genug Geld zum „Glücklichsein“ im landläufigen Sinne zusammenhat, stellt immer höhere Ansprüche, ohne sein „Geld-Glück“ so richtig wahrzunehmen? Neminem pecunia divitem fecit, immo contra nulli non maiorem sui cupidinem incussit. (ep. 119, 9) Noch nie hat Geld irgendjemanden reich gemacht. Ganz im Gegenteil: Es gibt niemanden, dem es nicht eine noch größere Gier nach Geld eingeflößt hätte.

Trotzdem werden Sie fast nur Menschen finden, die sich nichts sehnlicher

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