Antisemitismus in Deutschland: Zum Wandel eines

ist in den letzten Jahren ein Anstieg offener antisemitischer Äußerungen zu verzeichnen, teilweise bedingt durch den Nahostkonflikt und durch die Radikalisie-.
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Diplomica Verlag

THOMAS KÜHNER

ANTISEMITISMUS IN DEUTSCHLAND

ZUM WANDEL EINES RESSENTIMENTS IM ÖFFENTLICHEN DISKURS

Thomas Kühner Antisemitismus in Deutschland: Zum Wandel eines Ressentiments im öffentlichen Diskurs ISBN: 978-3-8366-2532-6 Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010 Covermotiv: view7 / photocase.com

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Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung...........................................................................................................7 2. Zum Begriff des Antisemitismus ...................................................................10 2.1 Definition des Begriffs Antisemitismus .......................................................10 2.2 Theoretische Erklärungsmodelle: Ursachen des Antisemitismus ...............12 2.2.1 Sozioökonomische Begründungen: Krisentheorie, Klassentheorie, Deprivationstheorie .............................................................................12 2.2.2 Theorie psychosozialer Projektion: „Sündenbock-Theorien“...............14 2.2.3 Korrespondenztheorien.......................................................................14 2.2.4 Extremismustheorien ..........................................................................15 2.2.5 Differenztheorien: Identitäts- und Ausgrenzungsmuster .....................15 2.2.6 Antisemitismustheorien der Frankfurter Schule ..................................16 2.2.7 Funktionalistische und kausale Theorieansätze in der Tradition der Frankfurter Schule: Antisemitismus als Personifikation des Abstrakten...........................................................................................19 2.3 Abgrenzung des Antisemitismus von Rassismus und Xenophobie ...........22 2.4 Differenzierung des Antisemitismus in latent und manifest ........................23 3. Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert bis zur Shoa ...............................................................................24 3.1 Christlicher Antijudaismus ..........................................................................24 3.2 Die Judenemanzipation ..............................................................................26 3.3 Der Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich...........................................27 3.4 Der Antisemitismus in der Weimarer Republik ...........................................31 3.5 Der Antisemitismus im Dritten Reich ..........................................................32 3.6 Fazit: Der Antisemitismus vor 1945............................................................34 4. Antisemitismus nach 1945 .............................................................................35 4.1 Neue Bedingungen ab 1945.......................................................................35 4.2 Die Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 bis 1990 ..........................37 4.2.1 Die Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 bis 1990 in der BRD ..........................................................................................38 4.2.1.1 Phase 1: 1945 - 1952....................................................................38 4.2.1.2 Phase 2: 1953 - 1966....................................................................40 4.2.1.3 Phase 3: 1967 - 1979....................................................................42 4.2.1.4 Phase 4: 1980 - 1990....................................................................43 4.2.2 Antisemitismus in der DDR .................................................................45 4.3 Fazit: Der Antisemitismus zwischen 1945-1990 .........................................47 4.4 Die Wiedervereinigung als Katalysator des Antisemitismus .......................49

5. Theoretische Formen des Antisemitismus nach 1945.................................52 5.1 Der Sekundäre Antisemitismus: Schuld – und Erinnerungsabwehr ...........53 5.1.1 Definition des Begriffs „sekundärer Antisemitismus“...........................53 5.1.2 Psychologische Hintergründe des sekundären Antisemitismus..........54 5.1.3 Schuld- und Schamgefühle.................................................................55 5.1.4 Strategien der Entlastung ...................................................................57 5.1.5 Ursachen und Ziele der Schuld- und Erinnerungsabwehr...................60 5.1.7 Fazit ....................................................................................................61 5.2 Philosemitismus .........................................................................................62 5.3 Kommunikationslatenz und Kryptoantisemitismus .....................................65 6. Antisemitismus in öffentlichen Konflikten nach 1990 .................................68 6.1 Goldhagen-Debatte ....................................................................................68 6.1.1 Goldhagens Thesen............................................................................69 6.1.2 Die Reaktionen auf die Studie ............................................................69 6.1.3 Fazit der Debatte ................................................................................71 6.2 Die Walser Debatten ..................................................................................71 6.2.1 Die Rede: „Erfahrungen beim Erfassen einer Sonntagsrede“............72 6.2.2 Reaktionen..........................................................................................74 6.2.3 Auswirkungen und Folgen ..................................................................79 6.2.4 Die zweite Walser Debatte um den Roman „Tod eines Kritikers“ .......80 6.3 Die Debatte um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ ...........81 6.3.1 Meinungen vor der Entscheidung im Bundestag ................................82 6.3.2 Die Bundestagsdebatte am 25. Juni 1999 ..........................................83 6.3.3 Auswirkung und Bedeutung der Debatte ............................................85 6.4 Die Möllemann Affäre .................................................................................86 6.4.1 Die Möllemann – Karsli Affäre ............................................................87 6.4.2 Die Flugblatt-Affäre .............................................................................90 6.4.3 Fazit ....................................................................................................91 6.5 Die Hohmann Affäre...................................................................................92 6.5.1 Die Rede „Gerechtigkeit für Deutschland“ ..........................................92 6.5.2 Die verspäteten Reaktionen und die Folgen .......................................93 6.6 Die geographische Imagination antisemitischer Muster .............................94 6.6.1 Das Konstrukt der jüdischen Weltverschwörung.................................95 6.6.2 Antiamerikanismus .............................................................................97 6.6.3 Antizionismus und Israelfeindschaft....................................................99 6.6.4 Fazit ..................................................................................................102 7. Schlussfolgerung..........................................................................................104 8. Literaturliste...................................................................................................111

1. Einleitung Antisemitismus ist gegenwärtig ein globales Phänomen, das in manchen Ländern mehr, in anderen weniger verbreitet ist. Vor allem in der islamisch-arabischen Welt ist in den letzten Jahren ein Anstieg offener antisemitischer Äußerungen zu verzeichnen, teilweise bedingt durch den Nahostkonflikt und durch die Radikalisierung des Islams. Allerdings hat der Antisemitismus in keinem Land solche Ausmaße und Konsequenzen gehabt wie im nationalsozialistischen Deutschland, wo er erstmalig in der Geschichte eine Art Staatsdoktrin darstellte. Die systematische Judenverfolgung über die eigenen Staatsgrenzen hinaus, gipfelte schließlich in der Shoa 1 , die Millionen von Juden das Leben kostete und für die Geschichte Deutschlands, als auch für die Geschichte des Antisemitismus, einen radikalen Bruch darstellt. Trotz dieser historisch singulären Ereignisse ist Antisemitismus heute in Deutschland kein überholtes Phänomen oder eine Einstellung radikaler Minderheiten. Dies belegt die empirische Sozialforschung und die zahlreichen öffentlichen Debatten der jüngsten Zeit die unter dem Paradigma der „Vergangenheitsbewältigung“ standen und immer noch stehen (vgl. Rensmann 2005: 234 ff.). Im Rahmen dieser Studie sollen untersucht werden, wie sich der Antisemitismus nach der Shoa im öffentlichen Diskurs in Deutschland entwickelt hat. Insbesondere sollen dabei die Debatten nach der Wiedervereinigung 1990, die einen entscheidenden politischen Einschnitt markiert, betrachtet werden. Dabei soll die Rolle des Antisemitismus in der politischen Kultur analysiert werden. Daraus resultierend soll diskutiert werden, was den Antisemitismus gegenwärtig in Deutschland charakterisiert und wodurch er sich auszeichnet. Das Ziel ist eine Konkretisierung des Begriffs Antisemitismus. Im ersten Kapitel wird der Begriff Antisemitismus zunächst allgemein und abstrakt definiert, um eine erste Vorstellung vom Phänomen der Judenfeindschaft zu erlangen. Anschließend werden die gängigen Erklärungstheorien des Antisemitismus skizziert, da dies zum Verständnis und der Wirkungsweise des Ressentiments notwendig ist. In diesem Kontext soll zudem geklärt werden, inwieweit sich Antisemitismus und Rassismus unterscheiden.

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In dieser Arbeit wird der Begriff Shoa dem des Holocaust vorgezogen. Einerseits weil der Begriff Holocaust ursprünglich ein verbranntes Tieropfer bezeichnet, andererseits weil der Begriff mittlerweile aufgrund der inflationären Verwendung nahezu sinnentleert ist. Zur kulturindustriellen Abnutzung des Holocaust-Begriffes siehe Claussen 2005: 7ff..

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Der heutige Antisemitismus ist nur vor dem Hintergrund seiner jahrhundertealten Tradition zu verstehen. Im dritten Kapitel wird deswegen die historische Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland bis zur Shoa rekapituliert. Der Fokus wird hierbei auf die relevanten historischen Erscheinungsformen des Antisemitismus gelegt. Dieses Wissen ist notwendig, um den Wandel des Antisemitismus nach der Shoa nachzuvollziehen zu können. Im darauf folgenden Kapitel werden die neuen gesellschaftlichen Bedingungen dargestellt, die im Jahr 1945 mit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland eingetreten sind. Diese radikalen Veränderungen verdeutlichen, warum die Shoa in vielfacher Hinsicht einen Bruch darstellt und der „nationalsozialistische“ Antisemitismus nicht weiter fortbestehen konnte. Vor dem Hintergrund der neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wird anschließend die Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 in der Bundesrepublik und der DDR bis zur Wende 1990 dargestellt. Die Entstehung der „Berliner Republik“ 2 durch die Wiedervereinigung stellt einen entscheidenden politisch-kulturellen Einschnitt dar, der zugleich, so die These Auswirkungen auf den Antisemitismus hat. Diese Interdependenz wird im letzten Abschnitt des vierten Kapitels erörtert. Basierend auf der Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 werden im fünften Kapitel die gängigen Theorien des Antisemitismus nach der Shoa skizziert. Die Skandale und Debatten der Nachkriegszeit verdeutlichen den veränderten Charakter des Antisemitismus nach der Shoa, der nun einer neuen theoretischen Erörterung bedarf. Mit Hilfe dieses theoretischen Hintergrunds wird im sechsten Kapitel die Bedeutung und die Ausdrucksformen des Antisemitismus in den öffentlichen Debatten der „Berliner Republik“ detaillierter analysiert. Dies wird mittels einer umfassenden Diskursanalyse von einigen ausgewählten Debatten und Skandalen, die im Kontext der „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit standen, untersucht. Im Rahmen eines Exkurses wird im letzten Abschnitt der Wandel der Bezugspunkte des Antisemitismus erörtert. Im Zeitalter der Globalisierung ist der Fokus nicht mehr alleine auf Deutschland gerichtet, sondern antisemitische Agitation richtet sich zunehmend gegen Israel und die USA, forciert durch die Mythen um die Terroranschläge des 11.Septembers 2001 und den Nahostkonflikt. Der Exkurs soll deshalb die Verbindungen und Überschneidungen von Antisemitismus, Antiamerikanismus, Verschwörungstheorien und Israelfeindschaft aufzeigen, um die Brisanz für den aktuellen politischen Diskurs zu verdeutlichen.

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Dieser Begriff bezeichnet das vereinigte Deutschland und wird verwendet, um die neue historische Periode und die neue nationale Identität zu betonen.

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Das Resümee fasst die Entwicklung des Antisemitismus nach der Shoa zusammen, um darauf basierend den Begriff Antisemitismus konkreter zu definieren.

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2. Zum Begriff des Antisemitismus Aufgrund der Komplexität und des stetigen Bedeutungswandels des Begriffs Antisemitismus existiert keine allgemein anerkannte Definition, die all seine Facetten beinhaltet. Als erste Orientierung wird deshalb der Ursprung des Begriffs skizziert, um dann eine allgemeine, wenn auch vorläufige Definition zu erarbeiten. Eine genauere Spezifizierung der verschiedenen Formen des Antisemitismus nach der Shoa wird in Kapitel 5 erfolgen. Um zu verstehen was den Antisemitismus charakterisiert und wie er funktioniert, muss man die psychologischen und soziologischen Hintergründe analysieren, die bei der Genese des Ressentiments bedeutend sind. Die gängigen Theorien der Antisemitismusforschung werden in Kapitel 2.2. vorgestellt. Mit Hilfe dieses theoretischen Hintergrunds lässt sich dann Antisemitismus von Rassismus und Xenophobie differenzieren. Abschließend wird in Kapitel 2.4 der Antisemitismus hinsichtlich seiner Intensität in latent und manifest unterschieden.

2.1 Definition des Begriffs Antisemitismus Das Wort Antisemitismus hat seinen Ursprung im 19.Jahrhundert in Deutschland und wurde wahrscheinlich das erste Mal von dem Antisemiten Wilhelm Marr verwendet, um die alte, religiös motivierte Judenfeindschaft von einer neuen säkularisierten und rassisch begründeten abzugrenzen (vgl. Bergmann 2002: 6). Im Hinblick auf seine Semantik ist der Begriff Antisemitismus ungeeignet, da er sich gegen alle Semiten richtet, zu denen auch die Araber zählen. Semiten sind eine ethnographisch heterogene Völkergruppe, deren Schrift ohne Vokalbezeichnung auskommt. Im wissenschaftlichen Sinn gibt es nur semitische Sprachen, aber keinesfalls semitische Völker wie es der Begriff Antisemitismus impliziert (vgl. Gniechwitz 2006: 11). Mit semitischen Sprachen oder gar „Rassen“ hat der Begriff Antisemitismus nichts zu tun. Er diente damals als ideologisches Konstrukt und bezog sich nur auf die Juden. Trotzdem verbreitete sich der „falsche“ Begriff sehr schnell und wird auch heute noch als Oberbegriff für alle Arten von Judenfeindschaft verwendet. So definiert der Fremdwörterduden Antisemitismus wie folgt: „a) Abneigung od. Feindschaft gegenüber Juden; b) [politische] Bewegung mit ausgeprägten judenfeindlichen Tendenzen“ (Duden Fremdwörterbuch 1990: 69).

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Die Definition ist allerdings unzureichend, da sie die Komplexität und die Dynamik des Antisemitismus nicht einmal annähernd darstellen kann. Antisemitismus ist, wie im Verlauf der Arbeit gezeigt wird, mehr als nur Judenfeindschaft und mehr als eine Form von Xenophobie (vgl. Bergmann 2002: 6). Im Auftrag der EU hat die Wissenschaftlerin Helen Fein eine internationale Definition des Begriffs erarbeitet, die vorerst als Hypothesenrahmen genügen soll. Danach ist Antisemitismus „eine anhaltende latente Struktur feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als Kollektiv, die sich bei Individuen als Haltung, in der Kultur als Mythos, Ideologie, Folklore sowie Einbildung und in Handlungen manifestieren – soziale und rechtliche Diskriminierungen, politische Mobilisierungen gegen Juden und kollektive oder staatliche Gewalt -, die dazu führen und/oder darauf abzielen, Juden als Juden zu entfernen, zu verdrängen oder zu zerstören“ (Helen Fein zit.n. Gniechwitz 2006: 3 f.). Die feindseligen Überzeugungen gegenüber Juden werden vor allem durch Stereotype vermittelt, die genau wie der Antisemitismus selbst, von Wandel und Kontinuität geprägt sind. „Ein Kanon verfestigter Vorstellungen über „die Juden“ ist seit Jahrhunderten überliefert“ (Benz 2004: 65). Entscheidend ist, dass die internalisierten Vorurteile gegenüber Juden nichts mit der Realität zu tun haben. Die Zuschreibungen sind absurd und irrational (vgl. Benz 2004: 234 ff.). Deswegen beschrieb Theodor Adorno den Antisemitismus auch treffend als „[...] das Gerücht über die Juden“ (Adorno 2003: 125). Ein konsistentes, antisemitisches Weltbild kann aus den Stereotypen erst mittels verschiedener Strukturprinzipien entstehen. Nach Thomas Haury gibt es drei elementare Strukturprinzipien des Antisemitismus: Die binäre Einteilung der Welt in Gut und Böse, die Personifizierung und die Konstruktion identitärer Kollektive. Die binäre Codierung der Welt in Gut und Böse, basiert auf dem Grundgedanken eines existenziellen Kampfs des Guten gegen das Böse, bei dem es nur einen Sieger geben kann. Die Personifizierung dient der Identifizierung des abstrakten Bösen in dem man die Schuld konkreten Menschen zuweist. Mittels der Konstruktion identitärer Kollektive wird zwischen einer Wir-Gemeinschaft, wie z.B. der deutschen Nation und einer existentiell bedrohlichen Feindgemeinschaft, wie z.B. „den Juden“ unterschieden (vgl. Haury 2001: 218 f.).

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2.2 Theoretische Erklärungsmodelle: Ursachen des Antisemitismus Aufgrund der Komplexität des Ressentiments existieren sehr viele unterschiedliche Theorien, wobei keine davon so umfassend ist, dass sie den Antisemitismus in all seiner Komplexität erklären kann. Am zutreffendsten und immer noch aktuellsten sind jedoch die Ansätze der Kritischen Theorie. Zusätzlich zu den hier skizzierten Theoriemodellen gibt es noch weitere, die sich nur der Erklärung der Shoa gewidmet haben. Für die Fragestellung der Arbeit sind diese allerdings irrelevant, weswegen auf eine Erläuterung verzichtet wird. Bei Rensmann findet man einen sehr guten Überblick über die Antisemitismusforschung, weswegen seine Einteilung hier größtenteils übernommen wird. Zudem liefert Holz eine etwas eigene, aber durchaus kompakte Übersicht über die Forschungslage. Grob kann man zwischen soziologischen und psychologischen Analysen des Antisemitismus unterscheiden, wobei in der Wissenschaft bisher psychologische Erklärungsmodelle dominieren (vgl. Holz 2001: 16). Eine andere Einteilung, die man bei Holz und Rensmann wiederfinden kann, kategorisiert die Theorien in funktionale, kausale und eine Kombination von beiden. Funktionale Theorien konzentrieren sich auf die projektive Funktion des Antisemitismus. Dies sind z.B. sozioökonomische Ansätze oder die psychologischen Ansätze der Vorurteilsforschung. Kausale Theorien hingegen versuchen den Antisemitismus aufgrund kapitalistischer und psychischer Faktoren zu begründen. Die These lautet, dass es bestimmte soziale und psychologische Bedingungen gibt, die Antisemitismus ermöglichen oder forcieren. Zudem gibt es einige Theorien, die funktionale und kausale Ansätze vereinen wie z.B. die Kritische Theorie, sowie die eng verwandten Theorien von Moishe Postone und Detlev Claussen.

2.2.1 Sozioökonomische Begründungen: Krisentheorie, Klassentheorie, Deprivationstheorie Die Krisentheorie geht von einem Ursprungszusammenhang von Krise und Antisemitismus aus. Wirtschaftliche Krisen führen demnach zu einem Anstieg des Antisemitismus in der Bevölkerung, wobei man klar zwischen Krise und Kriseninterpretation unterscheiden muss. Niemand wird bestreiten, dass Antisemitismus eine Funktion in Krisenzeiten erfüllen kann. Entscheidend ist allerdings, wie die 12

Krise interpretiert wird (vgl. Holz 2001: 56). Zutreffend ist die Theorie, wenn die personifizierte Deutung der Krise „die Juden“ als Schuldige trifft. Obwohl es bestimmte Korrelationen zwischen Krise und Antisemitismus gibt, so lässt sich die These von einer strikten Parallelisierung von beidem nicht aufrecht erhalten. Es kann nicht verleugnet werden, dass Antisemitismus auch gegenwärtig oftmals eine antimodernistische Reaktion auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse darstellt (vgl. Rensmann 2005: 96 f.). Deprivationstheorien führen Antisemitismus auf reale oder wahrgenommene Status- und Existenzkrisen zurück, deren Ursachen auf „die Juden“ projiziert werden. Dies können materielle aber auch immaterielle Deprivationen sein. Theorien relativer Deprivation hingegen beziehen sich nicht auf objektive, sondern auf subjektive Umstände und knüpfen an Theorien zum Statusverlust und zur Statusdiskrepanz an. Ursachen sind Anpassungsschwierigkeiten an eine zunehmend komplexer und dynamischer werdende Welt, Probleme der sozialen Integration, das Gefühl ein Verlierer der Globalisierung zu sein. Diese subjektiven Gefühle werden dadurch verstärkt, dass auf der anderen Seite z.B. in multinationalen Konzernen, dem „Mittelstand“, „dem Finanzkapital“ usw. Globalisierungsgewinner gesehen werden. Soziale Krisen und Deprivationen stellen ein „objektives“ verstärkendes Element dar, aber sind keinesfalls der Ursprung von Antisemitismus (vgl. Rensmann 2005: 97 f.). Ähnlich wie die zuvor beschriebene Krisentheorie basiert die Klassentheorie auf der ökonomischen Situation und bezieht sich stark auf die marxistische Gesellschaftsanalyse. Der Hass auf die Kapitalisten wird von der „herrschenden Klasse“ auf die Juden umgelenkt. So fungieren die Juden für die „abhängige Klasse“ als Repräsentanten des „raffenden Kapitals“ und sind damit die „Sündenböcke“ des Kapitalismus und der kapitalistischen Klassenverhältnisse. Der Antisemitismus entspringt demnach aus falsch wahrgenommenen Klassengegensätzen. Diese Funktion des Antisemitismus mag für bestimmte Situationen und Gruppen zutreffen, trotzdem ist der Ansatz monokausal und ignoriert viele weitere Dimensionen. Die „abhängigen Klassen“ werden nur als Objekt von Manipulation gedacht, während bewusstseins-strukturelle und subjektive Bedingungen missachtet werden (vgl. Rensmann 2005: 98 f.).

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2.2.2 Theorie psychosozialer Projektion: „SündenbockTheorien“ Die sozioökonomischen Theorien beinhalten implizit oder explizit eine „Sündenbock- Theorie“ der zufolge Probleme auf einen konstruierten Sündenbock, in dem Fall die Juden, politisch „abgelenkt“ werden. In diesen Ansätzen werden die subjektiven Mechanismen, welche die Ablenkung erst ermöglichen nicht betrachtet. Dies soll hier kurz skizziert werden und stellt einen wichtigen Bestandteil der Vorurteilsforschung dar. Die Funktion und die Genese antisemitischer Vorurteile muss bei den Antisemiten gesucht werden und nicht bei den konstruierten Sündenböcken, den Juden. Die tatsächliche Schuld, bzw. Ursachen von Problemen sind diesbezüglich irrelevant. Diese Prämisse ist nicht nur entscheidend für diese Theorie, sondern für jede ernst zunehmende kritische Antisemitismusanalyse. „Eigene Triebwünsche, Ängste, Aggressionen und Phantasien werden in Fremdgruppen-Konstruktionen als kulturell oder politisch akzeptierte Projektionsflächen imaginiert; Juden erscheinen dergestalt im psychodynamischen Sinn als „Sündenbock“ für unbewusste eigene Anteile oder sozial wahrgenommene Probleme“ (Rensmann 2005: 100).

Die Herabsetzung des Sündenbocks ist zeitgleich ein Prestigegewinn für die projizierende Gruppe. Problematisch ist, dass in der „Sündenbock-Theorie“ judenfeindliche Vorurteile austauschbar erscheinen, z.B. gegen rassistische Vorurteile. Die Besonderheit der antisemitischen Ideologie wird nicht genauer thematisiert, so dass der konkrete Nutzen der „Sündenbock-Theorien“ für die Erforschung des Antisemitismus gering ist (vgl. Rensmann 2005: 100). Zudem merkt Holz an, dass die Verwendung des Begriffs Sündenbock im Bezug auf die Juden problematisch ist, da der Sündenbock ursprünglich Mitglieder der Wir-Gruppe war und die Schuld der Gruppe auf sich nahm. Die Juden zählen nicht zur Wir-Gruppe und fungieren als Täter und nicht als Opfer (vgl. Holz 2001: 51 ff.).

2.2.3 Korrespondenztheorien Die Korrespondenztheorie geht von einem Zusammenhang zwischen antisemitischen Vorurteilen und „jüdischen Eigenschaften“ aus, weswegen sie den Fokus auf die angeblichen Besonderheiten der Juden richtet. Ausgefeilte und rein korrespondenztheoretische Antisemitismusanalysen existieren nicht, wobei der 14