andererseits 1-2010

Intertextuelle Spiele: Das literarische Zitat bei Wilhelm Raabe als Vorläufer des Kreuzworträtsels ...................................................................25. CAROLINE KITA.
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andererseits  •  Yearbook of Transatlantic German Studies

Ruhrgebietskrimis, Straßen der Kindheit, Schriftsteller-Images … die Themen der ersten Ausgabe von „andererseits“ sind vielfältig, anregend und in mancherlei Hinsicht außergewöhnlich. In 21 Beiträgen werfen Autoren und Autorinnen ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher und kultureller Herkunft ihren je eigenen Blick auf ausgewählte literaturwissenschaftliche Themen.

andererseits Yearbook of Transatlantic German Studies

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Themenschwerpunkte dieses Bandes: • Literatur und Wissen • Ideologie und Intertextualität in der Literatur des 20. Jahrhunderts • Orte und Räume der Literatur – transkulturell und regional • Literaturbetrieb und Gegenwartsliteratur Seit fünf Jahren besteht eine enge fachliche Kooperation zwischen der Germanistik/ Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und dem Department of Germanic Languages & Literatures an der Duke University, Durham NC. Konkrete Formen dieser Zusammenarbeit sind der Austausch von Graduierten und Lehrenden, die gemeinsame Betreuung von Promotionen und Projekten sowie seit 2009 ein gemeinsames Forschungskolloquium, das in Zukunft jährlich stattfinden soll. Die Vorträge dieser ersten Konferenz sowie weitere Beiträge von Teilnehmern, Förderern und Freunden des Programms werden hier vorgestellt.

ISBN 978-3-940251-82-4

1 UVRR – Universitätsverlag Rhein-Ruhr

 of Transatlantic German Studies

andererseits Yearbook of Transatlantic German Studies

UVRR – Universitätsverlag Rhein-Ruhr

andererseits Yearbook of Transatlantic German Studies

Herausgegeben von William Collins Donahue & Jochen Vogt Redaktion Carolin John, Caroline Kita & Lydia Schultchen

Universitätsverlag Rhein-Ruhr, Duisburg

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Umschlaggestaltung Titelgrafik

UVRR © Andreas Erb, 2010 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.ddb.de abrufbar.

Copyright

© 2010 by Universitätsverlag Rhein-Ruhr OHG Paschacker 77 47228 Duisburg www.uvrr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN

978-3-940251-83-1

Satz

UVRR

Druck und Bindung

GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany

Anschriften der Redaktion [email protected]

[email protected]

Carolin John

Sarah Gray

Germanistik/Literatur und Medienpraxis

Department of Germanic Languages & Literatures

Universität Duisburg-Essen

Duke University

45117 Essen

Durham, NC 27708-0256

Tel. 0201-1834323

Tel. 919-660-3160

Informationen zur Kooperation zwischen beiden Universitäten, zu ihrer Zusammenarbeit und den Projekten unter: http://www.german.duke.edu/graduate http://www.uni-due.de/germanistik/doktoranden-austausch

Inhalt

Preface ................................................................................................................ 9 Melanie Beese Gebrochene Utopien der Wa(h)lgesellschaft: Baron von Münchhausen begegnet dem gesellschaftlich-technischen Fortschritt .................................... 11 HugH Ridley Intertextuelle Spiele: Das literarische Zitat bei Wilhelm Raabe als Vorläufer des Kreuzworträtsels ................................................................... 25 CaRoline Kita Sins of the Father: Cain‘s Search for Redemption in Siegfried Lipiner’s Adam .................................................................................. 35 ZsuZsa BognáR Die ironische Struktur in Georg Lukács’ Essayband Die Seele und die Formen ................................................................................ 45 CaRolin JoHn Das Schriftsteller-Image und seine Dekonstruktion: Entwurf einer mythologischen Diskursanalyse ....................................................................... 57 KRisZtina gilyén-déZsi Ungarische Künstler in der Weimarer Republik ............................................... 69 aniKó KuRuCZ Der Pilger und der Konvertit: T. S. Eliot und Alfred Döblin – Stimmen für das christliche Europa ............... 81 CHRistopHe FRiCKeR The Worker‘s Conversion? Ernst Jünger‘s Waldgang ..................................... 95

WilliaM Collins donaHue Kien the Anti-Faust: Canetti’s Debt to Goethe ............................................... 107 steFan gaedtKe Vom Nutzen und Nachteil der Archivarbeit für …: Ein Werkstattbericht ........................................................................................ 119 lydia sCHultCHen Leichen und andere Geheimnisse: Bibliotheken in der Literatur ..................... 131 KatJa stillMaRK Von der Straße der Kindheit in eine Gesellschaft ganz ohne Straßen: Ausblicke in autobiografische und apokalyptische Texte .............................. 145 iRis BäCKeR Einmal Moskau und zurück: Von der Erfahrung einer Selbstdistanzierung ........................................................................................ 159 olga ilJassova-MoRgeR „An Aussteigen war nicht mehr zu denken“ Das Flugzeug als „anderer Ort“ in der Literatur ............................................ 165 daniel Wiegand „It’s kind of lonely in here, man!“ Einsamkeitstopoi im Film .............................................................................. 177 Jan Claas van tReeCK Autor(ität) und neue Oralität .......................................................................... 191 Molly KnigHt Blank Check: Die „Innere Leere“ in Christan Krachts Faserland ................ 201 WeRneR Jung Industrielandschaft mit Menschen: Erasmus Schöfer und das Ruhrgebiet ...................................................................................................... 209

JoCHen vogt „Alles total groovy hier!“ Wie das Ruhrgebiet im Krimi zu sich selbst kam .......................................... 221 steFFen RiCHteR Dichter, Medien, Events: Der deutsche Literaturbetrieb in der Abenddämmerung des Gutenberg-Zeitalters? ................................................ 235 natHalie MälZeR-seMlingeR Bewegliche Ufer: Zum Einfluss von Literatur- und Filmübersetzungen auf die deutsche Gegenwartssprache ............................................................. 249

Autorinnen und Autoren ................................................................................. 259

Preface This yearbook has a simple premise: students and teachers on both sides of the Atlantic, pursuing an array of pedagogies and research interests in the area of German Studies, benefit greatly from concrete and personal exchanges. One can theorize almost endlessly about what constitutes “German Studies” on the one hand, and “Germanistik” on the other. And we plan to contribute to that effort in next year’s edition. But nothing replaces the actual exchange of scholars and transatlantic symposia that constitute the backbone of this yearbook. A founding principal of this cooperation is that of “vertical integration”, that is, the belief that it is crucial to include scholars, teachers, and practitioners at all levels of preparation, as well as from diverse cultural areas – e.g. the universities, research centers, scholarly and mainstream presses, as well as the media at large. In the foreseeable future “Germanistik” will of course retain its various national inflections; and that is very likely a great strength. What makes this diversity even more beneficial, however, is the opportunity for personal scholarly exchange – ranging from dissertation proposals and informal discussions, to conference plans, to more formal scholarly lectures and roundtable discussions. The Yearbook therefore is not only a forum for the annual Duke-DuisburgEssen conference; we actively encourage contributions from others as well, as represented in this case by those of our Hungarian colleagues. This yearbook grows out of an international agreement between the School of Humanities at the University of Duisburg-Essen and the Graduate School of Duke University. We wish to thank in particular the Dean of Humanities at Duisburg-Essen, Professor Erhard Reckwitz, as well as Dean Jo Rae Wright and Associate Dean David Bell at Duke. This would not be possible without their unstinting support. William Donahue

Jochen Vogt April 2010, Durham, North Carolina, USA

Melanie Beese Universität Duisburg-Essen

Gebrochene Utopien der Wa(h)lgesellschaft Baron Münchhausen begegnet dem gesellschaftlichen und technischen Fortschritt

Keinem anderen Tier begegnen wir in den Seeabenteuern des Barons von Münchhausen so häufig wie dem Wal. Er steht in der mythologischen Tradition der Seeabenteuer seit der Antike. Gilt der Wal dort als Symbol für Gefahr und als Bewährungsprobe, so fallen ihm in der christlichen Religion alle Konnotationen des Leviathan zu, ebenso wie die widersprüchlichen Auffassungen über seine Rolle in der Rettung und Bekehrung des Jona. In dem Spiel mit diesen Traditionen werden die Walabenteuer Münchhausens gleichzeitig zu einer Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskussionen aus Gesellschaft und Philosophie, Naturwissenschaft und Technik. Diese erhalten durch die literarisch komponierte produktive Verschränkung verschiedener Diskussionen ihren besonderen literarischen Mehrwert, wobei der Rhetorik der Lüge und Übertreibung als Mittel der Entlarvung und der visionären Spekulation, für die Münchhausen berühmt ist, ein besonderer Stellenwert zukommt. Alle Walepisoden stammen vom Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe (1736-1794), der sie Mitte der 1780er Jahre verfasste, während er als Geologe für den Erfinder der modernen Dampfmaschine James Watt, besser gesagt: für dessen Dampfmaschinenfirma und ihre Betreiber Boulton und Watt in den Bergwerken Cornwalls arbeitet. Diese englische Version wird anschließend von Gottfried August Bürger (1747-1794) übersetzt und verändert.1 In einer der von Raspe verfassten Walgeschichten2 wird Münchhausen samt seinem Schiff und seiner Mannschaft von einem Wal verschlungen und gelangt 1

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Raspe veröffentlicht 1786 anonym seine erste Fassung des „Baron Munchausen“. Innerhalb von drei Jahren erlebt das Buch fünf weitere Auflagen, jede von Raspe um neue Episoden erweitert. In Deutschland veröffentlicht Bürger 1786 auf der Grundlage der zweiten und 1788 wiederum auf Grundlage der fünften Version Raspes seinen „Münchhausen“ – ebenfalls anonym. Rudolf Erich Raspe: Gulliver revived, or The Vice of Lying properly exposed, by Baron Munchausen. London 1789, chapt. XX. Im Folgenden abgekürzt mit: Munchausen.

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Melanie Beese

in sein Inneres. Dort begegnen Münchhausen und seine Reisegefährten einer großen Anzahl Leidensgenossen aller Nationen, die zum Teil seit Jahren in der Gefangenschaft des Wals leben. Sofort hat Münchhausen den rettenden Einfall. Er schlägt vor, den Wal durch eine aus Masten zusammengezimmerte Maulsperre daran zu hindern, seinen Rachen zu schließen. Die Gefangenen aller Nationalitäten gehen daraufhin gemeinsam ans Werk, und die Befreiungsaktion wird problemlos durchgeführt. Als krönenden Abschluss entdecken die Geretteten, dass der Wal sie über unterirdische Wege ins Kaspische Meer gebracht hat.

Von der Wahl im Wal Raspe lehnt seine Walgeschichte explizit an Der Wahren Geschichte des griechischen Satirikers Lukian (2. Jhd. n. Chr.) an.3 Während jedoch bei Lukian zwischen der Welt im Wal und dem übrigen Weltgeschehen durch den offenen Rachen eine enge Verbindung und Licht existiert, ist das Reich, in das Münchhausen und seine Gefährten gelangen, wortwörtlich das Reich der Finsternis. Sie werden vollständig von der Außenwelt abgeschnitten und damit auch von jeder Lichtquelle, die von oben kommen könnte. Schon vorher haben sie ihren Kompass verloren und können ihren Ort nicht bestimmen – ein Topos der fantastischen Reiseliteratur. Im Inneren des Wals haben sie „no sun, no moon, no planet, to make observation from“ (Munchausen, 170). Sie finden keinerlei Fixpunkte am Himmel, keine Orientierung von oben. So finden wir uns in der Abweichung von Lukian direkt in der Aufklärungs-Metaphorik von Licht und Finsternis wieder. In der Finsternis, die sie von allen Seiten umhüllt, vom Himmel herab ebenso wie in der Welt um sie herum, bleibt ihnen nur das Licht, das sie selber entzünden, um sehen und einen Weg finden zu können. „Everything was transacted by torch-light“ (Munchausen, 170), ausschließlich durch eine menschliche Lichtquelle. Das symbolische Licht der Aufklärung können Münchhausen und seine Gefährten in der Finsternis nur durch eigene Aktivität, durch aktive Verwendung des Verstandes erlangen – wie Kant es 1784 in seiner kurz vor dem Münchhausen-Roman erschienenen Schrift Was ist Aufklärung? fordert. Nur so können sie einen Ausweg aus ihrem „confinement in total darkness“ (Munchausen, 172) finden. Auf ihrer Suche begegnen sie einer menschlichen Organisation, die einer gesellschaftlichen Utopie zu gleichen scheint: Weit über zehntausend Menschen aller Nationen leben im Bauch des Wals friedlich zusammen. Sie haben sich demokratisch organisiert und halten regelmäßige Versammlungen unter Leitung eines gewählten Vorsitzenden ab – welch ein Gegensatz zu der Welt aus Krie3

Im Vorwort verweist Raspe auf Lukian als Quelle manch seiner Münchhausengeschichten.

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gen, Partikularismen und parasitären adeligen und kirchlichen Herrschern, die die sonstigen Episoden Münchhausens kennzeichnen; welch ein Gegensatz auch zur damaligen Realität in den europäischen Ländern. Sie lassen sich dabei auch nicht von den Störversuchen ihres Kerkermeisters – des Walfisches – abhalten, der eine erste Versammlung durch plötzliche Überflutung zunächst verhindert, wobei einige Beteiligte nur knapp dem Tode entrinnen. Die Strafe einer kleinen Sintflut hält sie nicht davon ab, sofort nach deren Ende ihre demokratische Versammlung fortzusetzen. Sofort und einstimmig fasst diese den einfachen Beschluss, der sie aus der Gefangenschaft befreien wird – und den selbstverständlich Münchhausen anregt. Der Beschluss wird prompt und erfolgreich in die Tat umgesetzt. So erlegt eine demokratische Versammlung ihre Majestät den Wal, den Herrscher der Meere und damit ihren Leviathan, das Symbol der Hölle, der Unterdrückung und des absoluten Staates. Die Finsternis nimmt ein Ende. Was der Wa(h)lversammlung gelingt, daran scheitert in den 1780er Jahren eines der wenigen bereits existierenden Parlamente, das Parlament in Großbritannien, das Land, in dem der Münchhausen-Autor Raspe lebte. 1783 schafft es hier das Unterhaus, dank einer erdrückenden Mehrheit, König George III. eine Koalitionsregierung aus den Anhängern von Lord North und Charles James Fox aufzuzwingen, obwohl der König einer Regierung unter Fox, dem radikalen Politiker und Verfechter der amerikanischen Unabhängigkeit, feindlich gegenübersteht. Fox und North untergraben die exekutive Gewalt des Königs weiterhin, indem sie selber eine vollständige Namensliste für Kabinett und Regierung erstellen und damit dem König das bisherige Vorschlagsrecht für diese Posten entziehen. Fox geht sogar so weit, in einer Rede vor dem Parlament dem König grundsätzlich das Recht auf Ernennung der Minister abzusprechen. Anders als der Baron von Münchhausen, der sich trotz seines Adelsprädikats und seiner besonderen Genialität von der Versammlung wählen lässt und ihr von innen heraus, als ihr Teil, den Weg nach vorne weist, will sich der englische König dem demokratischen Prinzip nicht unterordnen. Er unternimmt alles, um gegen die Regierung zu intrigieren, die verschiedenen Fraktionen und Abgeordneten gegeneinander auszuspielen und sie auf diese Weise durch Uneinigkeit und Zwietracht zu schwächen. So kann er sie bereits ein halbes Jahr später auf autoritäre Art absetzen und einige Monate darauf sogar das Parlament auflösen. Der neue Premierminister ist königstreu, die Herrschaft des Königs gesichert und der Opposition gelingt es jahrelang nicht, wirkungsvoll dagegen anzugehen. Sie reibt sich weiter in fraktionellen Streitigkeiten auf, statt im Interesse des Gemeinwohls an einem Strang zu ziehen.4 4

John W. Derry: Politics in the age of Fox, Pitt and Liverpool. London 1990; Leslie Mitchell: Charles James Fox. Oxford 1992; Lord Macaulay: Life of William Pitt. Boston 1859.