Aller Tage Abend - Evangelischer Buchpreis

15.05.2013 - und Schriftstellerin, eine Frau, deren Texte in keinem DDR‐Schullesebuch fehlten und die 1959 eine Komödie mit dem Titel „Was wäre wenn“ ...
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Laudatio Jenny Erpenbeck (Evangelischer Buchpreis, 15.5.2013) „Aller Tage Abend“ ist kein Buch wie viele Bücher. „Aller Tage Abend“ ist kein Buch für die leichte Schulter und keines für den lahmen Kopf. Es ist ein Buch mit vielen Rätseln und Verweisen, es verschweigt ebenso viel, wie es benennt. Es ist ein Buch über den Untergang der Utopie vom besseren Menschen. Jenny Erpenbeck braucht fünf Kapitel, die sie „Bücher“ nennt und vier Intermezzi, um auf 282 Seiten diesen inhaltsreichen Roman zu schreiben. Ein Roman über die kurze Ehe zwischen einer schönen Jüdin und einem braven Beamten, viele Fluchten und die Erbarmungslosigkeit des vergangenen Jahrhunderts. Es ist eine Leidens‐Geschichte über unsere Geschichte. Im Mittelpunkt steht eine Frau. Zuerst der Säugling, das junge Mädchen, eine junge und eine alt werdende Frau. Diese Frau wird, weil sich in ihrem Leben Hiobsbotschaft an Hiobsbotschaft reiht, fünfmal sterben, um fünfmal weiterzuleben, bis sie dann wirklich tot im Sarg liegt. Bis dahin werden knapp neunzig Jahre vergangen sein, Kriege werden verloren, Deutschland zweigeteilt und dann wiedervereint sein, und die DDR wird offiziell aufgehört haben zu existieren. Eine Woche lang wird der einzige Sohn, den die Frau Sascha genannt hat, jeden Morgen um 4.17 aufwachen, weil 4.17 die Todesstunde seiner Mutter gewesen ist, und er wird Rotz und Wasser heulen und sich fragen, ob Rotz und Wasser, Krämpfe und Stöhnen wirklich alles sind, „was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.“ Jenny Erpenbeck hat in ihrem bisherigen Leben viel erlebt, viel zugehört, vieles ausprobiert und sieben kompakte, ebenso klug ineinander verzahnte, eigensinnige und vielfältig zu interpretierende Bücher geschrieben. Erzählt werden in diesen Büchern



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Geschichten die, wie sie einmal schrieb, „bereit liegen und ans Licht gebracht werden müssen“. Um sie ans Licht zu bringen, helfen ihr Sprichwörter. „Alles im Eimer“ steht als ironischer Kommentar über ihrer ersten 1999 veröffentlichten „Geschichte vom alten Kind“. Eine alleingelassene, stumme Vierzehnjährige mit einem „Mondgesicht“ sitzt nachts da mit einem leeren Eimer auf einer Geschäftsstraße, was ist das für ein Symbol? Ein privates? Ein politisches? Ein Deutsch‐Deutsches? Der leere Eimer als einziger Besitz – oder alles im Eimer. Die „Geschichte vom alten Kind“ landete damals wie ein Stein im wiedervereinigten Deutschland. Kritik und Leser waren beides zugleich: verwirrt und beeindruckt. In ihrem neuen Buch hat Jenny Erpenbeck den Ausruf des römischen Geschichtsschreibers Titus Livius „Es ist noch nicht aller Tage Abend“ in den doppeldeutigen Titel „Aller Tage Abend“ verkürzt. In ein Sowohl als Auch. Bedeutet „Aller Tage Abend“ das Ende der Welt für alle, oder nur das Ende des Lebens für einen einzigen Menschen. Jenny Erpenbeck interessiert nicht so sehr das individuelle Schicksal, obwohl sie es benutzt. Der oder die eine ist der Stellvertreter von vielen. Sie erzählt weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Ihr Interesse gilt der Möglichkeitsform, dem Konjunktiv: „ob das Reich Gottes“, fragt sie „ schon hier auf der Erde zu finden sei, wenn man nur den Blick dafür habe, ob also vielleicht mitten unter den Menschen das Rätsel des Lebens versteckt sei, oder doch erst im Jenseits...“. In „Aller Tage Abend“ spart sie nicht mit existentiellen, schwer oder nicht endgültig zu beantwortenden Fragen. Und zitiert die beiden biblischen Schwerstgeprüften Hiob und Lot. Denn ihre Fragen greifen tief. Sie fragt nach der Verhältnismäßigkeit von Zeit und Ewigkeit, Leben und Sterben, nach der Belastbarkeit des Menschen und den Zustand



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seiner Standhaftigkeit, nach der Realisierung und den Auswirkungen von Ideologien. Denn was sich ein Mensch oder mehrere Menschen ausdenken, verwandelt den einen möglicherweise in einen Diktator und die anderen in Verängstigte, Verfolgte, Unfreie und Unmündige. Bei der in Ost Berlin aufgewachsenen Jenny Erpenbeck ‐ das ist in fast all ihren Büchern so – prägte die politischen Systeme den Lebensweg eines Menschen. Jenny Erpenbeck, die einmal Buchbinderin werden wollte, die Theaterstücke schreibt und Opernregie führt, weil sie das bei Ruth Berghaus gelernt hat, hält sich nicht mit dem Nebensächlichen auf. Wenig Dekoration, aber viel Materie. Nicht die Handlung treibt ihre Texte voran, sondern das Denken. Wer solche Bücher schreibt, muss genau sein. An ihren oft namenlosen Figuren macht sie deutlich, wie Zeitgeschichte den Menschen und sein Dasein prägt. Denn ein und dieselbe Ursache können tausenderlei verschiedene Wirkungen haben. Ein geniales Phantasiefeld für die Literatur. Aber was ist der Grund, weshalb kam die heutige Preisträgerin auf die Allmachtsidee, ihre Hauptperson fünfmal vom Tod zurückzuholen? Hat sie das getan, um Hiobs Klage „warum starb ich nicht bei meiner Geburt?“ weiterzuerzählen, oder schrieb sie die Geschichte der fünfmaligen Wiederkehr, weil sie eine Spur verdecken wollte? Weil sie mit dieser Geschichte (in dem großartigen Roman „Heimsuchung“ übrigens auch) Bruchstücke aus dem Leben ihrer prominenten Großmutter Hedda Zinner beschreibt. Eine mit den großen Staatspreisen der DDR ausgezeichnete Schauspielerin, Journalistin und Schriftstellerin, eine Frau, deren Texte in keinem DDR‐Schullesebuch fehlten und die 1959 eine Komödie mit dem Titel „Was wäre wenn“ geschrieben hat. Ist dieses „was wäre wenn“ in den kleinen wie in den großen Zusammenhängen nicht der eigentliche Angelpunkt des Romans? Wären, fragt der Erzähler an einer Stelle, die Kommunisten



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und Sozialisten nicht gemeinsam in der Lage gewesen, Hitler zu besiegen? „Hätten sie, die Sozialdemokraten die Frontlinie nicht zwischen sich und den Kommunisten gezogen, sondern mit den Kommunisten eine Front gegen die Nationalsozialisten gebildet, hätte es keine Mehrheit gegeben für Hitler.“ Der durch fünf Tode und fünf Wiedergeburten unterbrochene Lebensweg einer namenlosen Frau, die einmal Genossin H., und am Ende Frau Hoffmann heißt hilft, der Erzählerin, ihre eigenen Fragen an die Gesellschaft zu schärfen. Mit all den geographischen und biographischen Stationen, vom galizischen Städtchen Brody nach Wien, Prag, Berlin, Moskau und wieder zurück nach Berlin, wird eine durch Judentum, Armut, politische Emigration für das 20. Jahrhundert typische Wanderung beschrieben. „Was wäre wenn“ , oder wie es im Märchen heißt, wenn sie nicht gestorben...., und so weiter, und so immer fort, Sie kennen das alle. Wäre der Säugling, der da zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Brody stirbt, oder wie Jenny Erpenbeck im ersten Intermezzo schreibt, im richtigen Augenblick durch eine Handvoll Schnee wieder zum Leben erweckt worden, ja, „was hätte werden können“, und was ist geworden. All das: Betteln und Hungern in der Not des Krieges, Eintritt in die Kommunistische Partei, Übersiedlung nach Moskau, Liebe zum Genossen H., einem Dichter, der 1936 in Gegensatz zu ihr in die KPdSU aufgenommen worden war, Geburt eines Sohnes, Verhaftung des Genossen H. im Oktober 1938, vergebliches Warten, vergebliche Fragen in der Geheimdienstzentrale, vergebliches Anstehen vor dem Gefängnis, eigene Verhaftung.



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„Aller Tage Abend“ ist ein Buch über Verluste. Es ist ein illusionsloses Buch, weil noch niemand erfolgreich Krieg gegen den Krieg geführt hat, weil das Gute, Kluge und Gerechte „ob des Übermuts der Bösen“, wie es in Hiobs Geschichte steht, nur um einen unmenschlich hohen Preis zu erreichen ist. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder, der ein gewichtiges Buch über die Vernichtungspolitik von Nationalsozialismus und Stalinismus geschrieben hat, sagte kürzlich in einem Zeitungsinterview, dass es darauf ankomme, welche Fragen gestellt werden und dass wir in den ersten sechzig Jahren nach einem so gewaltigen Ereignis sowieso nichts verstehen. Der britische Hitlerbiograph Ian Kershaw bemerkt, dass Geschichte und Erinnerung immer in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Jenny Erpenbeck bewegt sich im Spannungsfeld der unbeantworteten Fragen. Der Roman ist nicht nur ein Buch über den Verlust, sondern auch ein Buch über den Zweifel. Alles in Frage zu stellen, selbst den Tod, nicht aber die Liebe, ist das Privileg der Autorin. Jenny Erpenbecks reflexiver Stil, nüchtern und klar, öffnet den Blick. Die Vergangenheit ist real nicht mehr veränderbar, sie kann aber durch Nachdenken produktiv gewendet werden. „Aller Tage Abend“ ist ein denkendes Buch, ein Buch, das, wie es in Hiobs biblischer Geschichte heißt, „das Unglück auf die Waage legt“. Der Roman beginnt mit der Geburt und endet mit dem Sterben. „Die Zukunft“, heißt es, „ geht nicht mit dem Preis herunter, schon gar nicht in diesen Zeiten, nur mit der Vergangenheit lässt sie sich kaufen.“ Es gibt also keine Zukunft ohne die Vergangenheit, und das ist die Antwort auf die Frage, weshalb wir Vorbildtexte wie die 42 Kapitel über das Schicksal Hiobs brauchen und Bücher wie „Aller Tage Abend“. Sie konfrontieren uns mit den vielen Möglichkeiten, das Leben zu überleben, auch wenn aus den 7000 Schafen ‐ anders als bei Hiob ‐ am Ende nicht doppelt so viele geworden sind.



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Jenny Erpenbeck hat mit „Aller Tage Abend“ ein biblisches Buch geschrieben. Es ist genau, raffiniert komponiert, geschichtshaltig und lebensklug. Wir haben allen Grund, uns dafür bei der Autorin zu bedanken. Verena Auffermann



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