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70 ist er jetzt also geworden. 70 - und er lebt, jedenfalls dem äußeren Anschein nach, immer fast noch so wie mit 20: Den Großteil des Jahres ist er auf Tournee, "on the road", wie man so schön auf Neudeutsch sagt, oder er ist mit anderen Projekten beschäftigt, die mit ihm und seiner Musik zu tun haben. Sein. Privatleben ...
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Last Thoughts on Bobby Dylan

70 ist er jetzt also geworden. 70 - und er lebt, jedenfalls dem äußeren Anschein nach, immer fast noch so wie mit 20: Den Großteil des Jahres ist er auf Tournee, "on the road", wie man so schön auf Neudeutsch sagt, oder er ist mit anderen Projekten beschäftigt, die mit ihm und seiner Musik zu tun haben. Sein Privatleben aber ist mittlerweile weitgehend tabu, es gibt keine Interviews von und schon gar keine Homestories oder Skandalgeschichten über ihn. Aus seiner näheren persönlichen Umgebung dringt so gut wie keine Information nach außen. Nördlich von Los Angeles, im Prominenten-Vorort Malibu, hat er ein großes Grundstück mit einem nicht einsehbaren Haus auf einer Klippe mit weitem Blick über den Pazifik. Dort soll er sich die meiste restliche Zeit des Jahres aufhalten. Aber so ganz genau weiß das eigentlich niemand. Alte Rostlauben sollen sich auf dem weitläufigen Gelände befinden und auch mal ein stinkendes Mobilklo. Kein Ort also, der Besucher oder Einbrecher wirklich anlockt. Ende März 2011, kurz vor der momentanen Asien-Australien-Europa-Tour, tauchte das Foto eines bleichen, fast depressiven Bob Dylan beim Besuch einer Synagoge in

ge Figur; sah aus wie ein Mensch, dessentwegen die Anwohner die Polizei alarmieren, weil sie keinen Obdachlosen in ihrem Viertel haben wollen - eine Situation, mit der Dylan umgehen kann, weil er sie schon erlebt hat; wo ihn weder die junge Polizistin, die ihn in ihr Auto lud, erkannt hatte, noch deren Chef. Wo sich erst an den Tourbussen das "Missverständnis" aufklärte. An der Synagoge ist ihm das nicht widerfahren, die berühmt-berüchtigte Festnahme war im Jahre 2009 in New Jersey. Allerdings wird gerätselt, was der augenscheinlich so niedergeschlagene Dylan in dem Gotteshaus über eine Stunde lang gesucht hat: Trost für seine einen Monat zuvor verstorbene Jugendliebe Suze Rotolo, die ihn Anfang der 1960er Jahre zu etlichen Songs, vor allem den politisch-protestierenden, angeregt hat und die das schöne, sich an ihn kuschelnde, frierende Mädchen an Dylans Seite auf dem Cover von "The Freewheelin' Bob Dylan" (1963) war? Oder trauerte er um die soeben verstorbene Schauspielerin Liz Taylor, mit der ihn möglicherweise mehr verband, als man gemeinhin so ahnt? Ob er wohl auch mitbekommen hat, dass der wichtigste deutschsprachige Dylan-Autor, der Soziologe und Aufklärer Dr. Günter Amendt ("Sexfront"), unter schrecklichen Umständen bei einem Verkehrsunfall in Hamburg ebenfalls im März 2011 ums Leben gekommen ist? Manchmal muss sich der 70-jährige Dylan, so darf man mutmaßen, ziemlich einsam fühlen.

Los Angeles auf. Er hatte seine berühmte Kapuze übergezogen und machte eine trauri-

Dennoch dürfte Bob Dylan selten von Langeweile geplagt werden. Mit der Malerei

von Axel Jost

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(Aquarelle und Acrylbilder) hat er in den letzten Jahren erst so richtig angefangen, seine erste Ausstellung von Aquarellen und Gouachen fand 2007 in Chemnitz statt. Mittlerweile malt er eher großformatige, bunte Werke, auf denen Menschen oder Landschaften zu sehen sind, irgendwo zwischen Realismus, Impressionismus und Expressionismus. Die Bilder (zum Beispiel "The Brazil Series", ausgestellt 2010 in Dänemark) sind teuer, verkaufen sich aber wohl gut und werden von der etablierten Kunstkritik als "ohne jeden künstlerischen Wert" oder immerhin als "durchschnittlich" verrissen - was Dylan, wenn er dies überhaupt zur Kenntnis nimmt, höchstens zu weiteren malerischen Aktivitäten anregen dürfte. Eine neue Platte mit neuen Songs ist derzeit nicht im Gespräch (das kann sich, so kennt man Dylan, aber auch schnell ändern denn immerhin hat er in den letzten 10 Jahren insgesamt drei hervorragende neue Alben auf den Markt gebracht); dafür gräbt man tief in Dylans musikalischer Vergangenheit. 2010 gab es "The Bootleg Series Vol. 9: The Witmark Demos: 1962-1964", die es immerhin auf Platz 24 der deutschen Charts geschafft hatte und unter anderem frühe und alternative Versionen späterer Welthits enthielt. Zudem kamen ebenfalls gegen Ende des Jahres 2010 seine ersten acht Alben in gesammelter Form als Mono-Box-Set (9 CDs) heraus: "The Original Mono Recordings (Limited Edition)" sind trotz Limitierung bei Amazon immer noch für relativ kleines Geld als CD zu haben. Auch dieses Produkt hat es in die deutschen Charts geschafft (Platz 58, die weltweit wohl höchste Platzierung überhaupt) und wurde und wird

sehr gelobt. Auch das derzeit aktuellste Dylan-Produkt passt in diese Linie; es ist ein Live-Konzert (sieben Songs) an der BrandeisUniversity im US-Bundesstaat Massachusetts anlässlich eines Folk-Festivals von 1963, als Dylan noch weit davon entfernt war, der Headliner der Veranstaltung zu sein ("The Freewheelin' Bob Dylan", die Platte also, welche Dylan später zum Durchbruch verhalf, sollte erst zwei Wochen später erscheinen). Die "Brandeis"-Aufnahmen gab es bei bestimmten Online-Händlern bereits als GratisCD-Beilage zur "Bootleg Series Vol. 9: The Witmark Demos". Nun kann man sie mit besserer Ausstattung als reguläre Veröffentlichung kaufen. Es handelt sich dabei um einen sehr raren, professionell aufgenommenen Konzertmitschnitt aus Dylans früher Phase, der viele Jahre vergessen im Archiv eines Musikjournalisten gelegen hatte. Der zweite Band seiner auch in der etablierten Literaturszene hochgelobten Autobiografie "Chronicles Volume One" aus dem Jahr 2004 ist längst überfällig. Im ersten Teil berichtete er in einer sehr lebendig erzählenden, gut lesbaren und farbigen Sprache von etlichen Ereignissen aus seinem Leben, die seinen zahlreichen Biografen zuvor verborgen geblieben waren. Er bestätigte manches und widerlegte vieles, was diese über ihn in Umlauf gesetzt hatten, auch wenn sein Buch sich nur mit wenigen nicht-chronologischen Ausschnitten aus seinem Wirken und Schaffen beschäftigte. Daher also das Warten der Fans und Musikliteratur-Interessierten auf Band 2 (von drei projektierten), für dessen Erscheinen relativ konkrete Daten genannt werden (bereits 2011, so sagen manche); aber das

(2008) bestätigt, dass er an dem zweiten Band arbeitet. Man darf im Übrigen durchaus unterstellen, dass Dylans Chancen auf den eigentlich längst überfälligen Literatur-Nobelpreis durch ein Nachlegen der "Chronicles" weiter wachsen werden. Doch kehren wir nun noch einmal zu Dylans Kerngeschäft seit vielen Jahren, dem Tournee-Business, zurück. Aktuell befindet er sich in Australien, im Mai wird er nach einigen Wochen Pause in Europa (beispielsweise in Mainz und Hamburg) erwartet. Begonnen hatte die Tournee Anfang April 2011 in Taiwan. Dank der Zeitverschiebung und dank solch umtriebiger Webseiten wie Karl-Erik Andersens "Expecting Rain" konnte man hierzulande schon am Nachmittag erfahren, was Dylan am Abend gespielt hatte. Wer genug Zeit hat, der kann sich in das Expecting-Rain-Forum einklinken und in den "Live Setlist"-Threads mitlesen, welcher Song gerade dran ist. Mitunter werden sogar aktuelle Foto-Schnappschüsse aus dem Konzert in das Forum gepostet. Es fehlt buchstäblich nur noch, dass jemand aus dem Publikum vor Ort parallel zu diesem Geschehen einen Live-Stream der Musik ins Netz beamt - aber auch dies dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein. Im Moment muss man sich noch mit Youtube-Videos begnügen oder den - oft kompletten - AudioTracks, die mit einer Verspätung von nur wenigen Tagen auch den Daheimgebliebenen einen kleinen Eindruck der jeweiligen DylanShow vermitteln. Dylan ist derzeit in guter, seine Band (mit dem zurückgekehrten Charlie Sexton an der Gitarre) in hervorragender Verfassung. Die Setlists sind derzeit nicht ganz so wechselhaft

ten abschließen, etwas langweiliger. Dafür aber beherrscht Dylan auch seine textlich komplexeren Songs deutlich besser als noch vor einigen Jahren, er traut sich auch öfter hinter seinem Keyboard mit den dort versteckten Textblättern hervor, um wieder häufiger "center stage" zur Gitarre und Mundharmonika zu greifen und den Bandleader herauszukehren. Die Shows umfassen bis zu 17 Songs und dauern etwa zwei Stunden. Geboten wird ein Lieder-Mix aus den vielen Jahrzehnten Dylanschen Schaffens: Songs von den frühen Alben wechseln sich ab mit Spätwerken; den Zugabeteil beschließen dann die Klopfer von "All Along the Watchtower" bis "Like A Rolling Stone". Zwischen den Songs spricht Dylan wenig bis gar nichts; er stellt lediglich kurz und knapp seine Band vor und reißt manchmal dabei ein paar Witze. Das macht er mittlerweile seit Jahrzehnten so, und für Leute, die Dylans Konzertabläufe seit 1988 kennen, ist all dies nicht weiter überraschend. Wohl aber offenkundig für diejenigen Zeitungsschreiber aus der etablierten amerikanischen Presse, die sich nach Jahrzehnten wieder einmal mit Bob Dylan beschäftigen mussten, weil dieser nach der Taipeh-Show mehrere Konzerte in China gab - zum ersten Mal in seinem Leben. Begonnen wurde in Peking. Und es zeigte sich bei dieser Gelegenheit einmal mehr, wie wenig Ahnung die USMedien von Bob Dylan, ihrem vermutlich größten und bedeutendsten lebenden Autor, immer noch haben. Denn plötzlich war die Rede davon, dass Dylan seine Setlists der chinesischen Zensurbehörde habe vorlegen müssen (wofür bis heute jeder Beleg fehlt),

allenthalben für das wuchtige Klangbild oder, alternativ, für seine homogene Heimeligkeit

geht eigentlich schon seit Jahren so. Immerhin hat sein Verlag bereits vor geraumer Zeit

wie früher, das macht die Sache für die Setlist-Exegeten und diejenigen, die darauf Wet-

dass er dadurch (im Gegensatz zu früher) quasi käuflich geworden sei und es ihm nur

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darum gegangen sei, schnell einen Haufen "kommunistischen Geldes" zu machen. Eine sich besonders schlau vorkommende Autorin versah ihren diesbezüglichen Kommentar auch noch mit der Überschrift "Blowing in the Idiot Wind", offenkundig ohne das geringste Wissen darüber, dass Dylans Song "Idiot Wind" sich 1974 in der Tat mit den Zumutungen der Presse auseinandersetzte - und dessen Kernaussage "they're planting stories in the press" nun ein weiteres Mal exakt bestätigt wurde. Man habe eine politische Stellungnahme von Dylan zur Situation der Menschenrechte in China vermisst, und Songs wie "Blowing in the Wind" oder "The Times They're A-Changin" seien offenkundig der Zensur zum Opfer gefallen. Übersehen hat man dabei freilich, dass Dylan - siehe oben - sich quasi auf der Bühne nie zu irgendwelchen Themen äußert und dass er die angemahnten Songs auch ansonsten eher selten spielt (mal ganz davon abgesehen, dass jedenfalls der "Times"-Song überhaupt nicht auf die Situation in China passen würde). Aber er hat ja eine ganze Reihe Songs in China gespielt. Diese aber müsste man als Journalist und Kritiker halt kennen, um darin enthaltene, mehr oder weniger offene oder versteckte Botschaften deuten zu können. Doch dieses Wissen ist bei den etablierten amerikanischen Medien nicht vorhanden. Die herrschende schreibende Zunft kennt nur die paar "Protest"-Songs aus den Sechzigern, und wenn diese in China fehlen, dann wird halt mal wieder von "Ausverkauf" gesprochen. Leider machten auch Dylans mediale Verteidiger in dieser Angelegenheit nicht den allerbesten Eindruck, weil

terfragten. Dabei ist prinzipiell jeder DylanSong ein Protestsong, und insofern kann Dylan gar nicht zensiert werden, wenn man ihn denn erst einmal auftreten lässt (was im Jahr zuvor nämlich noch nicht der Fall gewesen war). Man hätte halt einfach mal hinhören sollen: Mit "Gonna Change My Way of Thinking" (aus seiner "christlichen" Periode übrigens) beispielsweise hat er bislang fast jedes Konzert der aktuellen Tour begonnen, auch sämtliche Konzerte in China. "Gonna change my way of thinking", heißt es darin zu Beginn, "gonna make myself a different set of rules" das ist doch, wenn man so will, die pure Aufforderung zum "change", zur Veränderung, zu neuen Gesetzen; vielleicht nur nicht ganz so platt, dass es auch die Herrschaften in den Redaktionsstuben der "New York Times" verstehen. Die chinesischen Zensoren - so es sie denn gab - haben demnach die Sprengkraft dieser Worte ebenfalls nicht erkannt. Als letzte Zugabe seiner Konzerte in China schenkte Bob Dylan von der Bühne herab seinen Zuhörern den Song "Forever Young", den er 1974 für eines seiner eigenen Kinder geschrieben hatte, um es mit vielen guten väterlichen Segenswünschen auf das künftige Leben vorzubereiten. Wie kein zweiter Song in Dylans umfangreicher Liederbibliothek drückt gerade dieser in jeder Zeile seine bedingungslose Liebe zu den im Song angesprochenen Menschen aus. In einer Textstelle darin heißt es "may you have a strong foundation / when the winds of changes shift": Die Veränderungen sie werden kommen, sagt er (und sicherlich nicht nur in China), man muss sich darauf vorbereiten, und man muss stark sein. Wie kul-

sie die Behauptung, Dylan habe in China keine Protestsongs gesungen, erst gar nicht hin-

tur- und wie sprachlos, wie blind und wie taub ist man eigentlich in den US-Medien, um eine

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solch klare Botschaft, die aus Peking, aus Shanghai und aus Hongkong von Dylan nach China und dem Rest der Welt gesendet wurde, zu überhören und zu übersehen? In ihrer Wahrnehmung und in ihrem Verstehen von Bob Dylan als Künstler und Person unterscheiden sich diese großen Leitartikler daher nicht im Geringsten von den kleinen kulturund ahnungslosen Polizeibeamten in New Jersey. Und dabei haben wir die ebenfalls in China gespielten Songs "Ballad of a Thin Man" oder "A Hard Rain Is Gonna Fall" noch nicht einmal erwähnt. Vor vielen Jahren forderte Günter Amendt Bob Dylan einmal auf, wenigstens für eine Zeit lang aus Amerika wegzugehen und sich in Europa niederzulassen. Gerade die unglaublich stupide, ignorante und durch und durch törichte Reaktion der US-Presse auf Dylans Auftritte in China lassen die Berechtigung dieses Anliegens noch einmal sehr deutlich werden. Du bist jetzt 70, Bobby. 2007 hast du dir ein Haus in Schottland gekauft. Schottland ist schön. Europa ist schön. Du willst und du sollst noch viel von deinem europäischen Haus und unserem Kontinent haben. So come on over Bobby, just for a while! AJ

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