9783732552511 Voeller Der Anfang


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Über dieses Buch Anna und Sebastiano sind zurück! Das Traumpaar der Zeitenzauber-Trilogie hat einen kühnen Plan: eine eigene ZeitreiseAkademie in Venedig, dem Ort, wo das Abenteuer ihrer Liebe begann. Doch das Rekrutieren neuer Schüler stellt sich als unerwartet gefährlich heraus. Ihr erster Novize heißt Ole und ist ein waschechter und ziemlich rücksichtsloser Wikinger, der völlig andere Pläne verfolgt als Anna und Sebastiano. Ehe die beiden sich versehen, stecken sie bis zum Hals in Schwierigkeiten und müssen nicht nur um Oles Leben kämpfen, sondern auch um ihr eigenes. Kurzroman als Auftakt zur neuen Jugendbuch-Reihe Time School von Eva Völler (mit Leseprobe aus dem 1. Band »Auf ewig dein«).

Über den Autor Eva Völler war zuerst Richterin und Rechtsanwältin, bevor sie die Juristerei an den Nagel hängte und sich ganz für das Schreiben entschied. Nach zahlreichen Romanen in der Belletristik erschien 2011 ihr Jugendbuchdebüt Zeitenzauber. Die Trilogie, die 2014 abgeschlossen wurde, hat bis heute zahlreiche Fans. Mit Time School schließt die Autorin an diese Geschichte an.

EVA VÖLLER

Der Anfang Time School

BASTEI ENTERTAINMENT Digitale Deutsche Erstausgabe Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Für die Originalausgabe: Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Anna Hahn, Trier Covergestaltung: U1berlin, Patrizia Di Stefano unter Verwendung von © Anna Gorin/getty-images, © Michael Rosskothen / 123RF.com und nach einer Vorlage von Sandra Taufer, München eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln ISBN 978-3-7325-5251-1 Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Auf ewig dein« von Eva Völler. Für die Originalausgabe: Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln Redaktion: Anna Hahn, Trier Covergestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von © Collaboration JS/Arcangel Images sowie einer Collage aus Motiven von shutterstock.com: © Irena Kofman; Gl0ck; Shukaylova Zinaida; Gwoeii; anna42f; Eisfrei; fractal-an www.be-ebooks.de / www.bastei-entertainment.de www.lesejury.de

Norwegen, 986 Vor Kälte schlotternd betrachtete ich aus unserem Versteck heraus das unübersichtliche Schlachtengetümmel. Ich kam mir vor wie in einem alten Historienfilm, nur dass hier niemand Regie führte. Es gab keine Kameraleute, keine Schauspieler und keine Beleuchter. Die Männer, die sich dort unten auf den Schiffen gegenseitig die Köpfe einschlugen, waren keine Komparsen, sondern echte Wikinger. Obwohl das Ganze aussah wie eine große Ansammlung schwankender, schäbiger Kähne, um die sich ein paar Hundert Männer zankten, beobachteten Sebastiano und ich hier eine bedeutsame Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im historischen Norwegen. Den Überlieferungen zufolge handelte es sich um die Schlacht von Hjørungavåg, ein unaussprechlicher Name für einen dünn besiedelten Landstrich. Eine Minderheit unter den Historikern war zwar der Ansicht, es hätte diese Schlacht nie gegeben, da es sich nur um eine Sage handle, aber wir hockten hier hinter einem Felsen und konnten mit eigenen Augen verfolgen, wie sich Horden wilder Nordmänner einen blutigen Kampf lieferten. Sebastiano und ich waren über tausend Jahre in der Zeit zurückgereist, um einen jungen Mann aus der Vergangenheit in die Zukunft zu bringen. Allerdings ahnte der noch nichts von seinem Glück, deshalb würden wir ihm erst einmal alles erklären müssen. Bis jetzt hatten wir ihn noch nicht entdeckt, doch nach allem, was wir wussten, konnte es nicht mehr lange dauern, bis er in Erscheinung trat – es würde kurz vor dem 5

Ende dieser Schlacht geschehen. Wüstes Kampfgebrüll hallte über den felsigen Küstenabschnitt zu uns herüber. Etliche Boote dümpelten in Strandnähe – Wikingerschiffe besaßen kaum Tiefgang. Auf den meisten hatte man die gestreiften Segel eingeholt und die Masten umgelegt. Die Wikinger kämpften auf äußerst archaische Weise – sie enterten die jeweils feindlichen Schiffe mithilfe von großen Haken, und dann droschen sie unermüdlich mit Streitäxten und Schwertern aufeinander ein. Teilweise wurden auch Bogenschützen eingesetzt, die dafür sorgten, dass ein todbringender Regen aus Pfeilen auf die weiter entfernten Gegner niederging. Die Angreifer waren Dänen. Ihre Flotte segelte unter dem Befehl eines Königs namens Harald Blauzahn; die Invasoren hatten den Auftrag, den hier regierenden Jarl – das war so eine Art Oberhäuptling der in dieser Gegend ansässigen Siedler und gleichzeitig ein abtrünniger Statthalter von Harald Blauzahn – zu entmachten und die Herrschaft über Land und Leute an sich zu reißen. Einer der jungen Wikinger, die an dieser Schlacht teilnahmen, war unsere Zielperson. Sein Name war Ole, er war der Sohn ebenjenen Jarls. Hoffentlich tauchte er bald auf. »Es ist wahnsinnig kalt«, sagte ich mit klappernden Zähnen zu Sebastiano. Es war zwar erst September, aber in diesen nordischen Breiten fühlte es sich wie Dezember an, vor allem im Vergleich zu Venedig, wo wir heute Morgen noch draußen auf der Loggia gefrühstückt hatten. Der Wind peitschte mit unerbittlicher Schärfe über uns hinweg, und ich fror bis auf die Knochen. Und an anderen Stellen, wo es schmerzhafte Folgen nach sich ziehen konnte. »Wenn wir hier noch lange hocken müssen, kriege ich eine Blasenentzündung.« Meine Zäh6

ne klapperten lauter. »Du hättest den Pelzumhang anziehen sollen«, antwortete Sebastiano. »Dann würdest du jetzt nicht so frieren.« »Pelz finde ich nur an Tieren gut. Außerdem hat José gesagt, es würde nicht lange dauern. Wir warten hier aber jetzt schon bestimmt seit einer Stunde.« »Das kommt dir nur so vor. Es sind höchstens zwanzig Minuten.« Sebastiano legte den Arm um mich und zog mich zu sich heran. »Komm her, wärm dich ein bisschen an mir. Mir ist nicht kalt.« Ihm war fast nie kalt, denn es entsprach seinem Naturell, nur sehr selten zu frieren. Vielleicht lag das an all den Muskeln, die seinem Körper eine Art zusätzliche Isolationsschicht verliehen. Und natürlich trug er einen fellgefütterten Umhang, während ich mich für die tierschutzfreundlichere Wollvariante entschieden hatte. »Schau«, sagte er. Vorsichtig lugte er über den Rand unserer Deckung. »Jetzt scheint Bewegung in die ganze Sache zu kommen!« Die Anzahl der kämpfenden Männer hatte stark abgenommen, lange konnte die Schlacht nicht mehr dauern. An zwei oder drei Schiffen brannten die Segel; die jeweilige Besatzung versuchte hektisch, mit Kübeln voller Seewasser die Flammen zu löschen, während um sie herum die Schlacht weitertobte. Scharenweise sprangen Männer über Bord und retteten sich an Land. Genau diesen Szenenausschnitt hatten wir in unserem magischen Spiegel gesehen. Dieser zeigte uns in einer Art Vorausschau Bilder aus der Zukunft. Zusätzlich hatte José uns eingeschärft, besonders auf der Hut zu sein, sobald der Mann, den wir retten sollten, unseren Weg kreuzte. José war der Chef unserer kleinen Zeitreisetruppe. Seine neueste Idee war die Er7

öffnung einer Zeitreise-Schule. Erst vor Kurzem hatte er uns damit überrascht, dass er extra zu diesem Zweck einen alten Palazzo in Venedig angemietet hatte, in den wir mit Sack und Pack umgezogen waren. Uns fiel nun die Aufgabe zu, Schüler für die frisch eröffnete Akademie zu rekrutieren, und zwar in unterschiedlichen Epochen der Vergangenheit. Dass wir ihnen anschließend auch noch alles beibringen sollten, was es über das Thema Zeitreisen zu wissen gab, war eine andere Sache, aber José hatte behauptet, es würde uns garantiert eine Menge Spaß machen. Ich persönlich fand die ganze Sache gar nicht so übel. Vielleicht bekamen wir dadurch Gelegenheit, eine etwas ruhigere Kugel zu schieben als bisher. Der Job als Zeitwächter konnte nämlich ziemlich aufreibend sein. Von den vielen Gefahren ganz zu schweigen. »Das muss dieser Ole sein«, sagte Sebastiano. Angespannt beugte er sich vor. »Der große Blonde da.« »Welcher von denen?«, fragte ich. Beunruhigt sah ich, wie ein ganzer Trupp Männer sich näherte. Sie waren sehr groß und sehr blond, bis auf einen, der rote Haare hatte, und einen weiteren, dessen Schädel kahl rasiert war. Mindestens die Hälfte der Typen war im passenden Alter, nämlich ungefähr zwanzig. Dann wurde mir klar, wen Sebastiano meinte. Einer der Typen wurde von den anderen verfolgt – er rannte vor ihnen weg und sah aus wie der Ole in unserem Weissagungsspiegel. Er hatte ein enormes Tempo drauf, aber die anderen waren auch nicht viel langsamer. Ich zählte sie rasch – es waren fünf Männer, vor denen er davonrannte, und es sah ganz danach aus, als hätte er allen Grund dazu. Er war verletzt. Blut strömte über seine Stirn und sein Gesicht, und obwohl er wahrscheinlich eine Reihe von Geschwindigkeitsrekorden gebrochen hätte, wenn jemand seine Zeit gestoppt hätte, entging mir nicht, 8

dass er ab und zu stolperte. Ob es daran lag, dass das Blut seine Sicht behinderte oder daran, dass die Wunde ihn benommen machte, war in dem Fall egal – wenn die Kerle ihn schnappten, wäre unser Rekrutierungsversuch bereits zu Ende, ehe er überhaupt beginnen konnte. Ich hörte Sebastiano fluchen und fragte mich ängstlich, was er vorhatte. Er konnte es unmöglich mit fünf Männern gleichzeitig aufnehmen. Schon gar nicht mit solchen von diesem Kaliber. Keiner von ihnen war kleiner als eins achtzig, und alle waren sie gebaut wie Kleiderschränke – und machten einen äußerst gewalttätigen Eindruck. Ihre Oberkörper waren in schartige Lederharnische gehüllt, und in ihren Fäusten schwangen sie mörderisch aussehende Waffen. Der Älteste der Gruppe – jedenfalls sah er für mich aus wie der Älteste, es war der mit den roten Haaren – schleuderte aus vollem Lauf eine enorme Wurfaxt auf den fliehenden Ole und verfehlte ihn höchstens um fünf Zentimeter. Ein lautes Aufbrüllen begleitete den Beinahe-Treffer. Es war ein Schrei des Triumphs, denn die Waffe hatte Ole zwar verfehlt, doch die Axt war nur ein paar Schritte vor ihm im Geröll gelandet und geriet ihm auf seiner Flucht zwischen die Füße. Er stolperte und stürzte der Länge nach hin, kaum zwanzig Meter von unserem Versteck entfernt. Im nächsten Moment hatten seine Verfolger ihn umringt. Keine Chance, ihn auf die Schnelle einzusammeln und zur Zeitmaschine zu bringen, mit der José hinter dem nächsten Hügel auf uns wartete. »Was machen wir denn jetzt?«, flüsterte ich. »Nichts«, gab Sebastiano ebenso leise zurück. »Den Mund halten und warten.« Nach Lage der Dinge blieb uns auch gar nichts anderes übrig. Immerhin brachten die anderen ihr am Boden liegendes Opfer nicht sofort um, sondern beschränkten sich darauf, es 9

wütend anzubrüllen. Meine Zähne schlugen abermals aufeinander, diesmal nicht nur wegen der Kälte, sondern vor Furcht. Zwischen uns und diesen angriffslustigen Wikingern befanden sich nur ein paar Felsen, die mir auf einmal sehr niedrig vorkamen. Hastig schob ich mir einen Zipfel meines Umhangs zwischen die Zähne, um mich nicht durch das laute Klacken zu verraten. Sobald die Typen ein paar Schritte nach rechts oder links machten, würden sie uns entdecken. Sebastiano war natürlich bewaffnet – er würde nie ohne entsprechende Ausrüstung zu so einem Einsatz aufbrechen – aber das Schwert und der Dolch an seinem Gürtel kamen mir im Vergleich zu den riesigen Äxten dieser Männer auf einmal sehr winzig vor, fast wie Kinderspielzeug. Ole hatte sich aufgesetzt und rieb sich das Blut aus den Augen. »Warum wollt ihr mich töten?«, fragte er. »Seid ihr zum Feind übergelaufen?« »Hüte deine Zunge!«, rief der Glatzkopf sichtlich entrüstet. »Ich bin der treueste Gefolgsmann des Jarls und wünsche mir nichts sehnlicher, als das Meer mit dem Blut dieser Dänen zu tränken! Ich würde alles für unseren Sieg tun!« »Aber auch ich will den Sieg des Jarls, denn er ist mein Vater!«, schrie Ole ebenso empört zurück. Er wandte sich an den Rothaarigen. »Wieso hast du versucht, mich zu töten?« »Weil dein Vater es befahl. Die Götter verlangen dieses Opfer von ihm, damit das Kriegsglück ihm hold ist.« Ole sah vollkommen entgeistert aus. »Er befahl meinen Tod, weil er mich den Göttern opfern will?« »Ja, denn dein Tod wird Odin gnädig stimmen, und der Sieg wird Håkon zum obersten Herrscher des Landes machen. Er wird die Angreifer hinwegfegen.« Die übrigen stimmten ein wüstes Zustimmungsgeschrei an. Der Glatzkopf hatte einen Schild dabei, auf den er zur Unter10

malung seiner Meinung mit seinem Schwert einhämmerte. Für diese Burschen schien es völlig selbstverständlich zu sein, dass Ole geopfert werden musste, um die Chancen auf einen Sieg seines Vaters gegen die Dänen zu verbessern. Sebastiano und ich konnten jedes Wort klar und deutlich verstehen, denn die Unterhaltung wurde sehr laut geführt, fast brüllend – zum einen, weil sie von Aggressionen aufgeladen war, zum anderen aber auch, um den brausenden Wind zu übertönen. Der Himmel hatte sich noch stärker zugezogen als bei unserer Ankunft, die Wolken über uns waren fast schwarz. Natürlich sprachen die Männer Altnordisch, aber wir hatten trotzdem keine Probleme, sie zu verstehen – das war ein äußerst nützlicher Nebeneffekt bei den Zeitreisen. Es wurde automatisch alles in eine für uns verständliche Sprache übersetzt. Dasselbe galt auch umgekehrt, wenn wir uns mit den Einheimischen der betreffenden Epoche unterhalten mussten. Manchmal kamen komische Wendungen und altertümlich klingende Worte heraus, wenn man versuchte, moderne Begriffe zu verwenden, aber im Großen und Ganzen funktionierte es sehr gut. »Wenn du in deinem Vater den wahren Herrscher unseres Landes siehst, solltest du dein Schicksal annehmen. Zum Ruhme von Håkon Ladejarl!« »Zum Ruhme von Håkon Ladejarl!«, wiederholten die anderen Männer brüllend die Worte des Glatzkopfs. Ole rappelte sich hoch. Er hatte sein Schwert gezogen und machte keinen besonders opferbereiten Eindruck. »Wir werden die Schlacht so oder so gewinnen!«, schrie er den Glatzkopf an. »Das wissen allein die Götter.« »Dazu muss man nur Augen im Kopf haben!« Zornig deutete Ole hinaus auf die sturmgepeitschte Bucht. »Sieh doch – sie 11

fliehen bereits! Das Hauptschiff segelt davon, und den Flottenführer Búi habe ich selbst vorhin an den Strand waten sehen, mit zwei Kisten, die sicher bis obenhin voll mit Gold sind, dem Verräterlohn von Harald Blauzahn!« Der Glatzkopf hielt das anscheinend für einen Trick. Er drehte sich nicht zu den Schiffen um, sondern starrte Ole unverwandt an. »Nimm Vernunft an, und lass uns unsere Aufgabe erfüllen, damit wir deinem Vater Ehre bereiten können.« »Ich töte mindestens drei von euch, ehe ihr mich besiegt«, kündigte Ole an. »Vielleicht auch vier oder sogar euch alle. Dann sterbt ihr mit mir zusammen, was Odin sicher noch besser gefallen wird als der Tod eines einzigen Mannes.« »Dann wäre es kein Opfer«, gab der Glatzkopf zu bedenken. »Für euch schon, weil ihr damit auch euer Leben hingebt. Ihr wisst, dass ich niemals anders sterben werde als im ehrlichen Kampf, und sei es auch allein gegen viele. So wird mein Tod im Gegensatz zu dem euren ein ruhmreicher sein, der mich in die ewigen Gefilde Walhalls bringen wird.« Die Männer wechselten unschlüssige Blicke. »Håkon hat Oles Tod befohlen, also muss er sterben«, sagte der Rothaarige barsch, und damit war die Entscheidung offensichtlich gefallen. Ole war erledigt. Und unsere Mission gescheitert. * Sebastiano schien meine Einschätzung der Lage nicht zu teilen, denn ohne jede Vorwarnung erhob er sich hinter unserem Felsen, sodass die Männer ihn sehen konnten. »Bleib unten, und rühr dich nicht«, sagte er zwischen den Zähnen zu mir. »Ich regle das.« Den konsterniert dreinblickenden Wikingern teilte er mit 12

hallender Stimme mit: »Wisset, ihr Männer Håkon Ladejarls, ich bin ein Seher! Ich bin an diese Gestade gekommen, um euch den wahren Willen der Götter kundzutun. Haltet inne, und hört mich an.« Vermutlich hatte er es in Wahrheit nicht ganz so blumig ausgedrückt; die poetisch klingende Umwandlung war das Ergebnis der automatischen Übersetzung, die unseren Worten stets einen angemessen höflichen und würdigen Anstrich verlieh, wenn man es so meinte. »Niemand von euch muss Blut für die Gunst der Götter vergießen«, sprach er in getragenem Tonfall weiter. »Denn es gefällt Odin, eurem Jarl auch ohne Opfer zum Sieg zu verhelfen.« Er reckte einen Arm gen Himmel und streckte zwei gespreizte Finger aus. Ich unterdrückte nur mit Mühe ein hysterisches Kichern, denn es sah aus wie ein Victory-Zeichen. »Höret, dies ist Odins Wille: Ein Hagelsturm wird die Schiffe der Dänen endgültig in die Flucht schlagen. Doch diesen göttlichen Beistand gegen eure Feinde wird Odin nur dann gewähren, wenn ihr das Leben von Ole Håkonson schont. Handelt ihr Odins Willen zuwider, wird er den Sturm weiter anschwellen lassen, bis sämtliche Schiffe auf dem Grund des Fjords liegen, auch die euren.« Das war perfektes Timing, denn genau in diesem Moment traf mich das erste Hagelkorn. Natürlich hatten wir vorher gewusst, dass es gleich einen Hagelsturm geben würde – nicht nur, weil er Eingang in die Überlieferungen gefunden hatte, sondern weil José es uns gesagt hatte. Der darauf basierende Plan sah nämlich vor, dass wir im Schutze dieses Sturms gemeinsam mit unserem ersten Schüler Ole zur Zeitmaschine eilten und ins einundzwanzigste Jahrhundert zurückkehrten. »Er ist bestimmt ein Spion der Dänen, ein Gefolgsmann von Harald Blauzahn«, schrie der Wikinger mit den roten Haaren. 13

Sein Gesicht oberhalb des zotteligen – und ebenfalls roten – Vollbarts war von Narben zerfurcht, und er hatte nur noch ein Ohr. Das andere war ihm zweifellos in einem brutalen Kampf abhandengekommen. »Wir sollten ihm den Kopf abschlagen!« »Es fängt an zu hageln«, rief ein anderer Mann. Er hielt die flache Hand wie eine Schale und fing ein paar der eisigen Körner auf. »Vielleicht hat dieser Seher recht.« Es klang verunsichert. Durch den Felsspalt dicht vor mir konnte ich erkennen, dass er Sebastiano in einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht anstarrte. »Es sind nur ein paar winzige Körner«, brüllte der Rothaarige. »Ich werde ihn töten, wenn ihr es nicht tun wollt!« »Was kann es schaden, wenn wir noch eine Weile warten«, meinte der Typ neben dem Rotschopf. Sein Bartwuchs war noch spärlich, er war erkennbar der Jüngste dieses Trupps und schien keine Lust zu haben, heute zu sterben, schon gar nicht für einen Sieg, der auch ohne Blutopfer zu haben war. »Ich drücke mich vor keinem Kampf«, rief Ole kriegerisch aus. »Kommt nur alle her, wenn ihr meinen Tod wollt!« Doch auch er sah Sebastiano aus den Augenwinkeln auf eine Weise an, die seine Unsicherheit und Verblüffung zum Ausdruck brachte. »Seht doch nur!«, rief der jüngere Mann aus, der zum Abwarten geraten hatte. Er duckte sich, als um ihn herum unvermittelt ein heftiges Geprassel einsetzte. »Das ist wirklich ein Hagelsturm!« »Und die Schiffe der Dänen segeln tatsächlich davon!«, fügte der Glatzkopf ungläubig hinzu. Er schützte sein kahles Haupt mit seinem Schild gegen den immer stärker werdenden Hagel, während er forschend über die von zerklüfteten Felsen eingerahmte Bucht blickte. »Oles Tod scheint nicht mehr nötig zu sein. Die Götter haben uns Beistand gewährt!« Er brüllte es 14

heraus, um das zunehmende Geprassel und den heulenden Wind zu übertönen. Ole nickte nur gelassen, er schien dem Glatzkopf und den anderen Typen das ganze Komplott nicht wirklich nachzutragen. Mit einem Mal wirkte er deutlich selbstbewusster – wie der Sohn eines mächtigen Herrschers, der er ja auch war. Ohne den Versuch zu machen, sich vor dem heftigen Hagelschlag zu schützen, wandte er sich mit befehlsgewohnter Stimme an Sebastiano. »Wer hat dich geschickt, Fremdling?« »Natürlich die Götter«, behauptete Sebastiano. Er hatte die pelzverbrämte Kapuze seines Umhangs hochgeschlagen. Harte weiße Hagelkörper prallten nach allen Seiten von ihm ab und landeten zum Teil auch auf mir, zusätzlich zu denen, die mich sowieso schon erwischten. Manche von den Dingern waren so groß wie Walnüsse und taten gemein weh. Ich konnte bloß so weit wie möglich den Kopf einziehen, denn ich hatte leider keine Kapuze. Davon abgesehen wagte ich nicht, mich zu bewegen, aus Angst, dass die Typen mich sonst entdeckten. »Ich wurde entsandt, um dich nach Walhall zu bringen«, fügte Sebastiano hinzu. Dass er so laut schreien musste, um den Hagel zu übertönen, ließ seine Worte leider nicht besonders göttlich klingen. »Dort wirst du ein besseres Leben haben als hier!« »Es drängt mich, die Wahrhaftigkeit deiner Worte zu überprüfen, Fremdling. Oder dachtest du etwa, dass ich einfach so mit dir mitgehe?« Ole reckte sich bei diesen Worten zu seiner vollen Größe (die ich auf etwa eins neunzig schätzte). Zum ersten Mal sah ich ihn genauer an. Trotz des blutverschmierten Gesichts und des wuchernden Barts war zu erkennen, dass er in jeder Beziehung dem Klischee eines fabelhaft aussehenden Wikingers entsprach. Er hätte Chris Hemsworths alias Thors jüngerer Bruder sein können. 15

Und allem Anschein nach schien es ihn nicht im Mindesten zu berühren, dass Sebastiano ihm gerade das Leben gerettet hatte. Dankbarkeit war jedenfalls für ihn definitiv ein Fremdwort. »Ergreift ihn!«, befahl er den anderen Wikingern. Und das taten sie ohne Umschweife. Leider fanden sie dabei auch mich. * Zu meiner grenzenlosen Erleichterung unternahm Sebastiano gar nicht erst den Versuch, sich zu wehren. Ihm war klar, dass er gegen sechs kampferprobte Wikinger auf jeden Fall den Kürzeren ziehen würde. Drei Männer hätte er vielleicht außer Gefecht setzen können, sogar ganz ohne den Einsatz von Waffen (wozu hatte er einen Schwarzen Gürtel in Karate und einen in Judo), aber spätestens dann wären ihm die Wurfäxte um die Ohren geflogen. Der Glatzkopf nahm ihm eigenhändig die Waffen ab und band ihm mit einem Strick die Hände hinterm Rücken zusammen. Bei mir machten sich die Männer gar nicht erst die Mühe, mich zu fesseln. Anscheinend sah ich nicht besonders gefährlich aus. »Kann ich sie haben, Ole?«, fragte der rothaarige Einohrige, während er mich von oben bis unten taxierte. »Wen?«, erkundigte ich mich erschrocken. »Mich?« »Ich sehe hier keine anderen Weiber.« Der Typ grinste mich an. Er hatte kaum noch Zähne. Sicherlich hatte er die fehlenden zusammen mit dem Ohr verloren. »Wehe euch, wenn ihr Hand an sie legt!«, brüllte Sebastiano. »Ich habe vergessen zu erwähnen, dass sie die Tochter eines Königs ist!« »Lass das Mädchen in Ruhe, Bjarni«, befahl Ole. Es klang 16

gelangweilt. Er schien nun, nachdem sein Opfertod nicht mehr ganz oben auf der To-do-Liste stand, die Befehlsgewalt der Gruppe innezuhaben. Der einohrige Bjarni trat murrend einen Schritt zur Seite. »Sie sieht nicht aus wie die Tochter eines Königs. Ihre Kleidung ist schlicht wie die einer Bauersfrau.« »Zu Hause habe ich jede Menge Pelze«, behauptete ich. »Ich wollte sie bloß nicht anziehen, weil mir die Tiere leidtun. Und weil ich verkleidet hier bin.« Eigentlich hatte ich nicht verkleidet, sondern inkognito gesagt, aber anscheinend gab es dafür im Altnordischen kein wirklich passendes Wort, also wurde es in ein anderes umgewandelt, das halbwegs zutraf. »Hörst du, was für einen Unsinn sie von sich gibt?«, sagte Bjarni. »Wenn sie überhaupt jemandes Tochter ist, dann die eines Lügners.« Ole sprach ein Machtwort. »Solange wir nicht wissen, was Wahrheit und was Lüge ist, wird ihr kein Haar gekrümmt.« Mir entwich ein erleichterter Seufzer. Möglicherweise war er ja doch ein guter Kerl. José hätte ihn sonst sicher nicht als unseren ersten Schüler ausgewählt. »Sie könnte ein ordentliches Lösegeld einbringen«, ergänzte Ole. »Und wenn irgendwer sie vorher haben darf, dann nur ich selbst. Sie ist ein sehr ansehnliches Weib. Falls sie keine Königstochter ist, nehme ich sie zur Sklavin. Schließlich habe ich sie gefangen genommen.« »Ich mag es nicht, wenn mich jemand Weib nennt«, informierte ich ihn. »Und als Sklavin bin ich völlig ungeeignet. Außerdem bin ich verlobt.« »Das stört mich nicht«, erklärte Ole. »Wag es ja nicht, sie anzufassen!«, schrie Sebastiano ihn drohend an. »Sonst breche ich dir mit bloßen Händen das Genick!« Das war das Letzte, was er für geraume Zeit sagte, denn 17

Ole verpasste ihm einen Kinnhaken und teilte ihm danach mit kalter Stimme mit, dass er mich beim nächsten Einwand, egal ob von mir oder von Sebastiano, töten und den Seevögeln zum Fraß überlassen würde. Also stolperten wir in angespanntem Schweigen einen von Flechten überwucherten Trampelpfad entlang, bewacht und flankiert von einem halben Dutzend rabiater Nordmänner, ohne die geringste Ahnung, wohin sie uns brachten. Sie hatten kurz die Köpfe zusammengesteckt und sich besprochen, jedoch so leise, dass wir es nicht verstanden. Und dann waren wir losmarschiert, weg vom Meer und der Schlacht, die aber inzwischen sowieso aufgehört hatte. Soweit die Angreifer nicht rechtzeitig hatten fliehen können, wurden sie von den siegreichen Verteidigern an Ort und Stelle massakriert. Wir selbst bekamen nichts mehr davon mit, und auch die Schreie konnten wir auf unserem Weg landeinwärts nicht hören, aber wir kannten den Ausgang der Schlacht ja aus den Überlieferungen. Von daher war ich sehr froh, dass wir das nicht mit ansehen mussten, sondern uns vom Ort des Geschehens entfernten. Der Hagel hatte vor einer Weile aufgehört, oder genauer gesagt – er war schlagartig in strömenden Regen übergegangen. Es war immer noch kalt, nur, dass wir jetzt im Gegensatz zu vorher auch noch nass wurden. Selbst wenn ich es gewollt hätte – das Klappern meiner Zähne konnte ich nicht mehr abstellen, denn mein gesamter Körper bestand nur noch aus Gänsehaut und Schlottern. Mittlerweile schien sogar Sebastiano zu frösteln – was allerdings kein Wunder war, denn der Glatzkopf hatte ihm nicht nur die Waffen, sondern auch den Umhang weggenommen und ihn sich wie eine Trophäe um die Schultern gelegt. Zum Glück hatte Sebastiano noch ein sehr dickes Wams aus mehrlagig gestrickter Wolle an, womit er sogar noch wärmer angezogen war als unsere Begleiter. Ole trug beispiels18

weise unter seiner Fellweste nur ein grobes Leinenhemd, wirkte jedoch kein bisschen verfroren, genauso wenig wie Bjarni, Glatzkopf und die anderen. Als Wikinger waren sie wettertechnisch wahrscheinlich wesentlich härter im Nehmen als normale Leute, zumal die richtig kalte Jahreszeit erst noch bevorstand. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie kalt es hier in zwei, drei Monaten sein würde. Die meiste Zeit führte der Weg bergauf. Als wir den Hügelkamm passierten, sahen wir in einiger Entfernung die Zeitmaschine. Sie stand immer noch da, wo wir sie zurückgelassen hatten – zwischen Geröll und struppigen Sträuchern inmitten der Einöde. Den Männern fiel sie zum Glück nicht auf, was daran lag, dass sie gut getarnt war. Von außen sah sie aus wie ein windschiefer, morscher kleiner Schuppen, der höchstens dazu taugte, ein paar Fischernetze oder etwas Winterholz aufzubewahren. Stumm stapften wir weiter den rutschigen, regennassen Pfad entlang, hin und wieder vorwärtsgeschubst von den schlecht gelaunten Wikingern. Mehrmals glitt Sebastiano auf einem besonders unebenen Wegstück aus und konnte sich wegen der Fesseln nicht abstützen, was zur Folge hatte, dass er mit dem Gesicht im Schlamm landete und Schwierigkeiten beim Aufstehen hatte. Das trug ihm beim dritten Mal einen Tritt des rothaarigen Bjarni ein. »Was soll das?«, empörte ich mich. »Er kann wegen der Fesseln schlecht laufen! Siehst du das nicht, du Grobian?« Bjarni baute sich vor mir auf. »Was war das gerade?« Er holte aus, und im nächsten Moment hatte ich mir eine Ohrfeige eingefangen. »Lass das!«, befahl Ole. Während ich noch überlegte, ob er damit mich oder Bjarni meinte – ich traute diesem Kerl, der eigentlich unser Schüler 19

werden sollte, alle möglichen Gemeinheiten zu  –, fügte Ole hinzu: »Sie ist meine Gefangene und gehört mir. Ich kann es nicht leiden, wenn mein Eigentum beschädigt wird. Nur unversehrt bringt sie genug ein.« Ich setzte an, ihn darüber aufzuklären, dass ich niemandem gehörte, vor allem nicht ihm, aber dann verkniff ich es mir lieber. Solange Ole glaubte, mein Eigentümer zu sein, bot mir das wenigstens ein Minimum an Schutz vor den anderen Kerlen. Sichtlich wütend stapfte Bjarni ein Stück voraus, und als wir weitergingen, fingen die anderen an, miteinander zu tuscheln. Ich konnte nicht hören, was sie sagten. Ole beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Schweigend fiel er einige Schritte zurück und starrte grüblerisch vor sich hin. Ab und zu knuffte er Sebastiano in den Rücken, zum Zeichen, dass er einen Zahn zulegen sollte. Oder einfach nur, weil ihm danach war. Sebastiano ertrug es allerdings keineswegs klaglos. Nach jedem Schubs ließ er – ohne Rücksicht auf Oles vorangegangene Androhung, mich den Seevögeln zum Fraß vorzuwerfen – ein Lamento vom Stapel: Wie unerhört es doch sei, als Mann von Ehre und Adel so behandelt zu werden, zumal er seine seherischen Gaben so selbstlos in den Dienst des Jarls gestellt habe. Und wie zornig der König von Anglia sein würde, wenn er hörte, dass seine Lieblingstochter von einem heidnischen Nordmann geschlagen worden sei. Nach einer Weile merkte ich, dass er damit eine bestimmte Taktik verfolgte: Er wollte Informationen ausstreuen, die unsere raubeinigen Begleiter davon abhielten, uns noch schlechter zu behandeln als bisher schon. Und natürlich wollte er nachdrücklich seine seherischen Fähigkeiten hervorheben, die er ja immerhin bereits unter Beweis gestellt hatte. Wikinger glaubten fest an Weissagungen. Jeder noch so unwichtige Häuptling beschäftigte mindestens einen eigenen Experten auf diesem 20

Gebiet, und vor jeder Unternehmung ließ man sich aus Runensteinen oder den Eingeweiden von Opfertieren die Zukunft lesen. Abgesehen von solchem Aberglauben waren die Wikinger ausgesprochen praktisch veranlagt. Sie waren überzeugt von der Macht ihrer Schwerter, Äxte und Fäuste, und weil sie dieser Überzeugung unverrückbar anhingen, würden sie mit ihren schnellen Langbooten auch noch die nächsten paar hundert Jahre kreuz und quer durch Europa und sogar bis Nordamerika und Vorderasien segeln und überall dort, wo sie einen Fuß an Land setzten, Angst und Schrecken verbreiten. Sie waren Männer der Tat und nahmen sich, was sie wollten. Warum sollten sie sich mit Ackerbau und Viehzucht herumplagen, wenn sie das, was sie zum Leben brauchten, einfach in anderen Ländern klauen konnten? Frauen, Kinder und Greise blieben zu Hause und brachten sich mit Fischfang und etwas Landwirtschaft über die Runden, während die kampfstarken jungen Männer auf Raubzug gingen und regelmäßig mit reicher Beute heimkehrten. Gnade erwiesen sie ihren Gefangenen nur selten. Wenn, dann höchstens deshalb, weil sie sich davon noch mehr Gewinn versprachen, etwa, indem sie sie als Sklaven verkauften oder gegen einen Haufen Lösegeld freiließen. Erpressung war sozusagen ihr zweites Standbein. Und dieses Bein trug momentan auch Sebastiano und mich. Wir konnten nur hoffen, dass es nicht zu wacklig war, denn als anderes Bein hatten wir bloß Sebastianos seherische Gaben, und ich hatte den Eindruck, dass Ole ihm diese Rolle nicht so ganz abkaufte. Schließlich hatte er schon vor Sebastianos Weissagung bemerkt, dass die dänischen Angreifer abhauten. Und vielleicht hatte er auch schon vor dem prophezeiten Hagelsturm ein paar der kleinen Eiskörner abgekriegt. Ich fragte mich, wie lange wir noch weitermarschieren soll21

ten und wohin unser Weg führte. Hoffentlich nicht zu weit weg von der Zeitmaschine! Der Himmel hatte sich nach dem Unwetter wieder aufgehellt, vereinzelt kamen sogar Sonnenstrahlen durch und spendeten einen Hauch von Wärme. Die Fjord-Landschaft um uns herum war von erhabener Schönheit – hoch aufragende, schroffe Felshänge wechselten mit weiten grünen Niederungen und gletscherblauen Wasserläufen, die sich tief ins Landesinnere zogen. Ich hätte mich stundenlang für dieses herrliche Panorama begeistern können, wenn ich es unter weniger beängstigenden Umständen hätte betrachten dürfen. Oberhalb eines Meeresarmes erstreckte sich eine von Felsformationen durchsetzte Hügellandschaft. Schon von Weitem war zu sehen, dass sich hier das Ziel unserer Wanderung befand. Vor uns lag eine verstreute Ansammlung von Gehöften. Ein riesiges Haupthaus bildete den Mittelpunkt dieser Ansiedlung. Vereinzelt stieg Rauch von Herdfeuern auf. Das musste das Dorf der in dieser Gegend ansässigen Wikinger sein – Oles Heimat. Vor unserer Ankunft trennten sich unsere Wege – Glatzkopf, Bjarni und ein Dritter zogen in Richtung des Dorfzentrums davon, während die beiden Jüngeren sich Ole anschlossen. Für uns ging es weiter in Richtung eines kleineren Gehöfts, das am äußeren Rand der Siedlung auf einem Hügelplateau lag. Das letzte Wegstück führte eine ziemlich steile Anhöhe hinauf. Sosehr ich vorher gefroren hatte, jetzt geriet ich ordentlich ins Schwitzen. In der Zwischenzeit hatten die Wolken sich vollständig verzogen, und Sonnenlicht überflutete die Berghänge. Es war weit davon entfernt, richtig warm zu sein, aber nach dem anstrengenden Marsch hatte ich das Gefühl, unter meinem regenfeuchten Umhang zu dampfen. Beim Näherkommen waren weitere Einzelheiten des vor 22

uns liegenden Wikingerhauses zu erkennen – die langgestreckten, fensterlosen Seitenwände aus grob behauenen Baumstämmen, das tief gezogene, mit Grassoden gedeckte Dach, die gekreuzten Giebelbalken an den Stirnseiten. Auf der Wiese vorm Haus spielten Kinder. Eine ältere Frau kam mit einer Trage voller Feuerholz aus einem benachbarten Schuppen. An einer langen Leine neben dem Haus hingen Fische zum Trocknen. Als wir näherkamen, schlugen ein paar große, sehr bissig aussehende Hunde an. Sie zerrten an ihren Stricken und empfingen uns mit wütendem Kläffen. Die Bewohner des Hauses – insgesamt waren es rund zwei Dutzend Personen, hauptsächlich Frauen, ältere Männer und Kinder – liefen zusammen und starrten uns neugierig an. Ole und die beiden anderen Wikinger wurden mit Fragen bestürmt. Nachdem das Wichtigste beantwortet war – die Schlacht war gewonnen, und die beiden Fremdlinge (also Sebastiano und ich) waren zwei zufällig unterwegs erbeutete Sklaven –, wurden wir ohne großes Federlesen in den Vorraum des niedrigen, von Rauchschwaden durchzogenen Langhauses getrieben, wo Ole mir die Hände fesselte und das Ende des Stricks an einem dicken Balken festband. Ich wagte nicht, mich zu wehren, denn schon seine gelegentlichen Schubse hatten mir einen Eindruck von seiner immensen Körperkraft vermittelt. Wenn überhaupt jemand Ole außer Gefecht setzen konnte, dann höchstens Sebastiano. Der schien jedoch die ganze Situation erst mal in Ruhe abwägen zu wollen – ganz abgesehen davon, dass er ja ebenfalls gefesselt war. »Du kannst gehen«, sagte Ole zu ihm. »Du hast Zeit bis morgen.« »Zeit wofür?«, mischte ich mich verdattert ein. »Ich schätze, um mit dem Lösegeld zurückzukehren«, sagte Sebastiano langsam. »An wie viel dachtest du denn so, Ole?« 23

Ole schien im Geiste meinen Gegenwert zu überschlagen. »Hundert Goldstücke.« Er schien zu erwarten, dass Sebastiano versuchte, das Lösegeld runterzuhandeln, aber der hatte ganz andere Sorgen, und zwar dieselben wie ich. »Welche Gewähr habe ich für Annas Sicherheit, solange ich weg bin?« »Ah, sie heißt Anna.« Ole betrachtete mich eingehend und nickte dann. »Der Name passt zu ihr.« Er wandte sich wieder an Sebastiano. »Ich gebe ihr Nahrung und Obdach, und wenn sie folgsam ist, werde ich sie nicht schlagen.« »Sicherheit bedeutet für mich, dass keiner sie anrührt. Auch du nicht.« Wieder nickte Ole. »Ich werde sie in Ruhe lassen, denn ich sehe, dass sie dein Weib ist.« Sein Blick war wachsam. Ungeduldig scheuchte er die Bewohner des Hauses weg, die uns immer noch anstarrten und miteinander tuschelten. Anscheinend hatte Ole hier das Sagen – alle zogen sich hinter den Vorhang aus schwerer, filziger Wolle zurück, der den offenen Vorraum vom Rest des Hauses abteilte. Auch die beiden jüngeren Männer, die mit Ole in der Schlacht gekämpft hatten, verschwanden hinter dem Vorhang. Andere Bewohner ließen sich nicht so leicht vertreiben – ein blondes Kleinkind, das sich an Oles Bein klammerte und quengelnd darauf beharrte, hochgehoben zu werden, ein blökendes Schaf, ein halbes Dutzend Hühner und ein quiekendes Ferkel wetteiferten darum, wer am lautesten war. Ole nahm das kleine Kind auf den Arm und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Man konnte schlecht sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Es trug ein Gewand aus Sackleinen, das mit einem Strick um den Bauch befestigt war. Leicht erschrocken fragte ich mich, ob das womöglich sein Kind war. Er wür24

de es nicht mitnehmen können, wenn er mit uns kam. Es würde sich nicht mal an ihn erinnern können, sobald er weg war. Die Existenz von Leuten, die wir aus ihrer eigenen Zeit holten und in eine andere brachten, wurde komplett ausgelöscht. Nichts von ihnen blieb zurück, weder persönliche Gegenstände noch Erinnerungen in den Köpfen ihrer Mitmenschen. Zeitreisende konnten nur eine feste Basis haben. In allen anderen Zeiten waren sie flüchtige Erscheinungen. Im selben Moment, in dem Sebastiano und ich wieder gemeinsam mit José in unsere eigene Zeit zurücksprangen, würden Glatzkopf, Bjarni und die übrigen uns für immer vergessen. Das galt auch für Ole, wenn wir ihn mitnahmen – er würde für die hier lebenden Menschen nicht mehr existieren. Das würden wir ihm selbstverständlich erklären müssen, bevor er mit uns kam. Sofern er überhaupt mit uns kam. Ich beobachtete ihn, während er das Kind absetzte und ihm nachschaute, wie es fröhlich brabbelnd über die Wiese davonwackelte. Was die Lösegeldbeschaffung anging, machte ich mir keine allzu großen Sorgen. José hatte genug Gold für diese lächerliche Erpressung, wir führten immer ausreichende Mengen auf unseren Zeitreisen mit uns. Die Frage war nur, ob nicht zwischenzeitlich weitere Wikinger aus dem Gefolge des Jarls hier auftauchten und die Beute für sich beanspruchten. Dann stand niemand mehr zwischen mir und dem rabiaten Bjarni. Völlig unerwartet zog Ole seinen Dolch und setzte ihn mir an den Hals. Ich zuckte erschrocken zusammen, aber die Klinge berührte nur leicht meine Haut. »Verschwinde, und besorg das Gold«, befahl er Sebastiano. »Nimm es von dem Verräter Búi, in dessen Diensten du stehst und der sich zweifellos in der Nähe versteckt hält, bis er eine Gelegenheit zur Rückkehr in seine Heimat auskundschaften kann.« 25

»Du glaubst doch selber nicht, dass wir Dänen sind, Ole.« Sebastiano sah ihn eindringlich an. Eine Spur von Verunsicherung zeigte sich in Oles Miene, doch dann schüttelte er eigensinnig den Kopf. »Erst recht glaube ich nicht, dass Anna die Tochter des Königs von Anglia ist. Ich weiß, dass jene, die euch entsandt haben, nicht weit weg sein können. Und deshalb solltest du jetzt besser sofort gehen und das Gold holen.« Sebastiano setzte zu einer Erwiderung an, doch er brachte kein Wort über die Lippen. Mir war klar, dass er gerade versucht hatte, Ole über unsere wirkliche Mission aufzuklären, doch da sich Uneingeweihte in Hörweite aufhielten, konnte er die Wahrheit nicht aussprechen. Wir nannten es die Sperre. Sie verhinderte automatisch, dass wir Menschen in früheren Epochen etwas über die Zukunft offenbarten. Oder ihnen verrieten, wer wir waren. Ole war davon natürlich ausgenommen, schließlich sollte er mit uns in die Zukunft kommen, weil er dazu ausersehen war, ein Zeitwächter zu werden. Aber wir konnten nur dann mit ihm darüber sprechen, wenn sonst niemand mithörte. Hinter dem dicken Vorhang da drüben hatte jemand offenbar die Lauscher aufgesperrt und damit die Sperre ausgelöst. »Was stehst du noch hier herum? Willst du, dass ich deinem Weib die Kehle durchschneide?«, fragte Ole grob. »Das würdest du ganz bestimmt nicht tun«, sagte ich tapfer. »Du solltest dir da nicht so sicher sein«, versetzte Ole kalt. An Sebastianos Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er sich ebenfalls nicht sicher war. Er schwankte sichtlich zwischen Wut und Sorge. »Geh nur«, sagte ich zu ihm. »Ich finde eine Gelegenheit, ihm alles zu erklären. Und wenn nicht – du weißt ja, wo ich bin.« Ich bedachte ihn mit einem möglichst zuversichtlichen 26

Lächeln. »Ich warte hier.« Sebastiano sah mich lange und forschend an, dann nickte er leicht. »Ich beeile mich und bin im richtigen Moment wieder da.« »Ich weiß.« Es kostete mich alle Kraft, nicht in Tränen auszubrechen. »Bis später. Ich liebe dich!« »Ich liebe dich.« Mit diesen Worten drehte er sich um und lief davon. Als er am Schuppen vorbeikam, brachen die Wachhunde in wütendes Kläffen aus. Sebastiano ließ sich nicht davon beirren. Leichtfüßig rannte er talwärts. Nach ungefähr hundert Metern warf er mit einem einzigen kraftvollen Ruck die Fesseln ab. Er musste schon vorher dafür gesorgt haben, dass sie sich lockerten. War er deswegen auf dem Weg hierher mehrmals hingefallen? Rückblickend konnten diese Stürze nur Absicht gewesen sein, denn er hatte eben erst unter Beweis gestellt, dass er auch mit auf dem Rücken gefesselten Händen sprinten konnte wie ein Top-Athlet. Das war auch Ole nicht entgangen. Er stieß einen Fluch aus. »Dieser Mann bedient sich der geheimen Listen von Loki! Ich werde auf der Hut sein müssen!« »Wir wollen dir wirklich nichts Böses, Ole. Wenn du mich nur erklären lassen könntest …« »Deine Erklärungen will ich nicht hören, denn jedes Wort aus deinem Mund ist Lüge«, unterbrach er mich kurz angebunden. Er machte Anstalten, durch den Vorhang ins Innere des Hauses zu verschwinden. »Was hast du vor?«, fragte ich beunruhigt. »Meine Wunde muss versorgt werden.« Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Der Regen hatte das Blut von seinem Gesicht gewaschen, und den Rest hatte er sich abgewischt. Doch nun sah ich den klaffenden Riss entlang des Haaransatzes über der Stirn. Es musste höllisch wehtun. 27

»Ich kann das nähen«, sagte ich eifrig. »Ich bin der Heilkunst mächtig.« Ich hatte eigentlich ausgebildete Sanitäterin gesagt. Anscheinend gab es immer noch einen Lauscher. Ole schlug mein Angebot kommentarlos aus. Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Haus. * Ich hockte nicht lange allein an meinem Pfosten. Nach einer Weile kam eine ältere Frau hinter dem Vorhang hervor. Sie hatte das kleine blonde Kind auf der Hüfte sitzen und brachte mir ein Brett mit einem Stück Fisch und einem Brotkanten darauf. Ich nahm es mit meinen gefesselten Händen entgegen und bedankte mich höflich, bevor ich es behutsam neben mir auf dem Boden absetzte. Momentan hatte ich keinen großen Hunger, schon gar nicht auf Stockfisch. Außerdem aß es sich mit zusammengebundenen Händen nicht sonderlich komfortabel. »Kann ich auch was zu trinken haben?«, fragte ich. Die Frau ging wieder ins Haus und kam mit einem Tonkrug zurück, in dem sich irgendeine sauer riechende Flüssigkeit befand, vermutlich Molke. Weiter oben am Hang hatte ich grasende Kühe gesehen, und hier im Haus gab es auch welche – wahrscheinlich sogar direkt hinter dem Vorhang, denn wenn man nach dem Geruch ging, befand sich dort ein Stall. Wikinger lebten häufig unter einem Dach mit ihren Tieren. Vorsichtig nahm ich einen Schluck. Es schmeckte gar nicht so übel. Zumindest löschte es den Durst. »Woher kommst du?«, wollte die Frau wissen. »Aus dem Reich der Ostfranken«, sagte ich. »Wie heißt dein Mann?« »Sebastiano.« Ich hielt es nicht für nötig, sie darüber auf28

zuklären, dass Sebastiano und ich noch nicht verheiratet waren. »Bist du eine Spionin der Dänen?« »Nein, natürlich nicht.« Die Frau betrachtete mich mit einer Spur von Belustigung. »Wärest du eine Spionin, würdest du es ohnehin nicht zugeben.« »Wahrscheinlich nicht«, räumte ich ein. »Dafür, dass du aus einem fernen Land kommst, sprichst du unsere Sprache sehr gut.« »In meiner Heimat gibt es Lehrer für alle Sprachen. Ich lerne schnell.« »Und du lügst auch gut.« Da war was dran, aber schließlich befand ich mich in einer Notlage. »Was immer du glaubst – ich führe nichts Böses im Schilde.« »Ole sagte, du und dein Mann wollt, dass er mit euch kommt.« Ihre Miene zeigte einen Ausdruck unverhohlenen Misstrauens. »Nach Walhall.« »Das war nur eine bildhafte Umschreibung für einen besseren Ort als diesen hier.« »Es gibt keinen besseren«, sagte die Frau voller Überzeugung. »Es sei denn, man wäre hier seines Lebens nicht mehr sicher.« Das Gesicht der Frau verdunkelte sich vor Sorgen. Sie hatte ganz offensichtlich erfahren, dass Ole um ein Haar den Opfertod gestorben wäre. »Das Kind – ist es ein Junge oder ein Mädchen?«, wollte ich wissen. »Ein Junge.« Die Frau lächelte stolz. »Er ist mein Enkel.« »Ist Ole dein Sohn?« »Nein, Oles Mutter lebt schon seit vielen Jahren nicht mehr. 29

Er ist mein Bruder. Das Kind ist von meiner Tochter, die auch hier wohnt.« Dann war Ole wohl der Großonkel des Kleinen. Da die Frau mindestens zwanzig Jahre älter war als Ole und von seiner Mutter gesprochen hatte, waren sie vermutlich Halbgeschwister und stammten von verschiedenen Müttern. Das war bei Wikingern nicht ungewöhnlich, denn bedeutende Häuptlinge wie Håkon hatten oft eine ganze Reihe von Frauen, sowohl nacheinander als auch nebeneinander. Ich stellte einfach die Frage, die mir als Nächstes in den Sinn kam. »Die beiden Männer, die mit uns und Ole hier ankamen – sind sie auch mit Ole verwandt?« »Sie sind die Söhne meiner Mutterschwester.« Also Oles Cousins. Vermutlich waren alle hier lebenden Wikinger auf die eine oder andere Weise miteinander verwandt, zumindest entfernt. Den Chroniken zufolge hatte Ole diverse ältere Brüder, die ebenfalls an der Seite ihres Vaters gekämpft hatten. Einer von ihnen – sein Name war Erik – würde seine Nachfolge als Jarl antreten. Ole selbst fand in den historischen Überlieferungen keine besondere Erwähnung, abgesehen von vereinzelten Passagen, in denen es hieß, dass Håkon den Göttern für eine siegreiche Schlacht einen Sohn geopfert habe. Nach einer der Quellen war er bei der Opferung noch ein Kind gewesen, einer anderen zufolge war es nicht nur ein Sohn gewesen, sondern gleich zwei. Wie so häufig gab es zu dem Vorgang unterschiedliche historische Varianten. Details waren genauso wenig verbürgt wie bei den meisten anderen verfügbaren Daten. Das hing damit zusammen, das vieles über das skandinavische Mittelalter erst Hunderte von Jahren später schriftlich niedergelegt worden war. Manches stammte aus zweiter oder dritter Hand, wobei die Quellen oft nicht besonders zuverlässig waren, denn ihr Inhalt speiste sich aus alten 30

Heldenepen oder Geschichten, die über Generationen weitergegeben wurden und obendrein von Sagen und Legenden durchwirkt waren. Von daher war es hilfreich, mit einer Zeitmaschine direkt vor Ort alle Hintergründe recherchieren zu können. Dank Josés Instruktionen wussten wir ziemlich genau, was passieren würde (passiert wäre), wenn Ole sich dafür entschied, hierzubleiben. Umso wichtiger war es, ihn von einem Zeitenwechsel zu überzeugen. Die Frage war nur – schaffte ich es, bevor Håkon vollendete Tatsachen schuf? Wir hatten bloß diesen einen Versuch. Klappte es nicht, war das einzige nutzbare Zeitfenster nach der Schlacht für uns geschlossen – eines der unergründlichen Geheimnisse der Anti-Paradoxon-Gesetze. Der Versuch, in eine Zeit zu reisen, in der man sich bereits aufhielt, konnte mit Selbstauslöschung enden. »Darf ich deinen Namen erfahren?«, wollte ich von der Frau wissen. »Ich heiße Ragnhild. Und du bist Anna, nicht wahr?« Ich nickte. Dann fragte ich freundlich: »Kann ich mal auf die Latrine?« Ich hatte Toilette gesagt, es wurde in einen zeitgenössisch besser passenden Ausdruck umgewandelt. »Natürlich«, sagte Ragnhild. Doch anscheinend war das kein Grund, mich von den Fesseln zu befreien, um mir das Aufsuchen des Örtchens zu ermöglichen. Ragnhild verschwand im Haus und kam kurz darauf zurück – ohne das Kind, dafür aber mit einem hölzernen Kübel. Den stellte sie wortlos hinter dem Balken ab, an dem ich festgebunden war, ehe sie sich genauso schweigend wieder ins Haus zurückzog. Der Kübel schien dem Gestank nach schon häufig für den Zweck benutzt worden zu sein, zu dem Ragnhild ihn mir hingestellt hatte. Mangels anderweitiger Auswahl hockte ich mich darüber (in solchen Fällen sind lange, weite Röcke wirklich vorteilhaft) und erledigte mein kleines Geschäft, in der Hoffnung, dass ich diesen Ort 31

verlassen konnte, bevor ich das Ding noch einmal benutzen musste. Nach und nach ging der Nachmittag in den Abend über, und es wurde immer kälter. Diese Wikinger hatten doch nicht etwa vor, mich hier draußen übernachten zu lassen? Unruhig stampfte ich mit den Füßen und schlang beide Arme um mich, aber es half nicht viel  – nach kurzer Zeit war ich völlig durchgefroren. Ich sprang auf und ab, machte dämliche Turnübungen und versuchte auf diese Weise, mich irgendwie warmzuhalten. Zwischendurch bemühte ich mich auch immer wieder, unter Einsatz meiner Zähne sowie durch ruckartige Bewegungen meine Fesseln zu lösen (schließlich hatte Sebastiano es auch geschafft, und bei ihm waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden gewesen!), doch ich kriegte die Knoten nicht auf. Irgendwann erschien Ragnhild mit einem dicken, wolligen Fell, das sie mir umhängte und vor der Brust mit einer hölzernen Nadel zusammensteckte. Es roch sehr streng nach Rauch und noch strenger nach Schaf, aber es war wunderbar warm. Auf meine Frage, ob Ole nicht mal kurz rauskommen könne, schüttelte Ragnhild nur stumm den Kopf. »Ich habe ihm aber etwas sehr Wichtiges zu sagen.« »Ole will dich nicht sehen. Und wir wollen keine Spione in unserem Haus.« »Ich bin keine Spionin!« Entschlossen fügte ich hinzu: »Mein Mann ist ein Seher. Er hat nicht nur den Hagelsturm vorausgesehen, sondern auch Oles Schicksal.« »Was ist das für ein Schicksal?« »Ich kann es nur Ole verraten. Nur ihm allein, und ohne dass jemand lauscht.« »Du und dein Mann, ihr wollt ihn entführen.« Es klang wie eine Anklage. »An fremde Gestade, weit weg von hier. Er, der 32

mein Bruder ist und den ich liebe, wird nie mehr zurückkommen. Ich habe es in den Runen gelesen.« In Ragnhilds Stimme lag Schmerz. »Wirklich?«, fragte ich überrascht. »Bist du auch so eine Art … äh, Seherin?« »Ich kann die Zeichen deuten. Und ich habe die Gefahr gesehen, genau wie du sagst. Aber Ole will nicht daran glauben.« »Schick ihn zu mir raus, und sorg dafür, dass niemand mithört, wenn ich mit ihm rede. Auch du nicht. Das ist seine einzige Möglichkeit zu überleben.« »Vielleicht wäre das erst recht sein Untergang. Es dient Oles Sicherheit, sich von dir fernzuhalten.« »Hast du Angst, ich könnte ihn verzaubern? Ehrlich, zu so was bin ich nicht imstande.« »Aber du könntest sehr wohl eine Spionin der Dänen sein.« Ich betrachtete Ragnhild stirnrunzelnd. »Du hast Ole geraten, mich hier draußen hocken zu lassen und nicht mit mir zu reden, oder? Damit sein Vater ihn nicht verdächtigen kann, mit den Dänen unter einer Decke zu stecken.« »So ist es. Ich habe ihm sogar geraten, dich zu töten.« Ich schluckte, es kostete mich Mühe, halbwegs gefasst weiterzusprechen. »So weit geht deine Fürsorge? Für mich klingt das alles, als würde Ole sich auf sehr dünnem Eis bewegen. Will sein Vater ihn schon länger loswerden?« »Das geht gar nicht von Håkon aus«, brach es aus Ragnhild heraus. »Es ist Eriks Mutter Gunilla, die nichts unversucht lässt, alle anderen Söhne Håkons aus dem Weg zu räumen. Gunilla hat Håkon eingeflüstert, er möge Ole den Göttern opfern. Die Entscheidung fiel ihm gewiss schwer. Söhne sind wertvoll für einen Jarl, vor allem, wenn sie so gute Kämpfer sind wie Ole. Håkon hat nicht so viele Söhne, als dass er ihre Anzahl so leichtfertig verringern würde. In den letzten Jahren sind ihm 33

keine mehr geboren worden. Håkon hätte ohne Gunillas unselige Einflussnahme einfach nur ein Pferd geopfert, oder höchstens eine von seinen Töchtern.« »Tolle Alternative«, murmelte ich. »Was?« »Nichts. War nicht so wichtig. Ich hatte nur ganz vergessen, dass bei Wikingern die Mädchen nicht so viel zählen. Sonst würde man sie ja wohl kaum gleich nach der Geburt aussetzen.« »Das geschieht nicht oft und meist nur in Zeiten von Hunger und Not.« »Ja, das entschuldigt es natürlich.« Ragnhild schien meinen Sarkasmus nicht zu registrieren. »Gunilla verabscheut nicht nur Ole, sondern auch mich und den gesamten Zweig unserer Familie. Früher lebten wir im Haus des Jarls, aber sie hat alles darangesetzt, uns an den Rand der Siedlung zu verdrängen. Wenn es nach ihr ginge, hätten wir längst sterben sollen. Sie hat es geschafft, dem Jarl einzureden, dass alle Missstände und Fehlschläge der letzten Jahre allein unsere Schuld seien, weil die Götter uns als Unheilstifter ausgesandt hätten.« »Klingt nach einer sehr hässlichen Verschwörung. Von Vaterliebe keine Spur, oder?« Ragnhild musterte mich verständnislos, anscheinend war ihr zwar der Begriff bekannt, aber nicht die praktische Bedeutung. Was wohl wiederum damit zusammenhing, dass bei den Wikingern die meisten Männer immer nur alle paar Jahre zu Hause vorbeischauten, weil sie den größten Teil ihres Lebens damit zubrachten, andere Länder auszuplündern. »Diese Frau wird ihre Ränke so lange spinnen, bis sie ihr Ziel erreicht hat«, schloss Ragnhild verbittert. »Und sie hat sich frühzeitig Verbündete gesucht. So hat sie einen Skalden des 34

Jarls und einen der Seher auf ihrer Seite. Es ist kein Geheimnis, dass sie jeden, der die Nachfolge ihres eigenen Sohnes Erik gefährden könnte, für immer loswerden will.« Mit anderen Worten, Ragnhild ahnte ziemlich genau, was Ole blühte, wenn er sich nicht in Acht nahm. »Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit dir über all das rede«, erklärte Ragnhild schroff. »Mit dir, einer völlig Fremden!« »Die außerdem vielleicht noch für die Dänen spioniert«, warf ich ein – eine völlig überflüssige Bemerkung, wie ich sofort an Ragnhilds argwöhnischem Blick bemerkte. »Das war natürlich ein Scherz«, beteuerte ich. »Ich kenne überhaupt keine Dänen. Und du erzählst mir all das, weil du spürst, dass ich Ole retten will.« Hinter Ragnhild wurde der Vorhang zurückgeschlagen, und Ole erschien. Gleichzeitig erhaschte ich einen Blick auf das Innere des Hauses. Wie ich schon aufgrund der durchdringenden Gerüche vermutet hatte, befanden sich vor dem Wohnbereich eine Reihe von Verschlägen, in denen Tiere gehalten wurden. Man hörte das Meckern von Ziegen und das dumpfe Grunzen eines Schweins. Im Winter würde es da drin wahrscheinlich richtig voll werden, denn sobald der Frost einsetzte, würden die Bewohner auch sämtliche Pferde und Rinder hier unterstellen, die jetzt noch draußen auf den Hängen weideten. »Ich will mit ihr sprechen«, sagte Ole. »Allein und ungestört. Geh ins Haus, Ragnhild.« »Du könntest damit einen schweren Fehler begehen.« »Geh ins Haus.« Anscheinend besaß sein Wort genug Gewicht, um sie von weiteren Diskussionen abzuhalten. Vielleicht ahnte sie auch, dass es ein Fehler gewesen wäre, nicht mit mir zu sprechen. Jedenfalls verschwand sie ohne ein weiteres Wort und ließ mich 35

mit Ole allein. Ich betrachtete die frisch verarztete Wunde an seinem Haaransatz. Jemand hatte sie mit ziemlich groben Stichen genäht. »Das müssen wir als Erstes mit reichlich Jod einpinseln, wenn wir zu Hause sind«, kündigte ich an. »Ich weiß nicht, was Jod ist, und es ist mir auch einerlei. Verrate mir nun endlich, wer du bist und woher du stammst.« »Wir sind keine Dänen und haben auch nichts mit denen zu tun, das kann ich dir schon mal vorab versichern. Na ja, damit komme ich jetzt zu dem Teil, der dir womöglich … ähm, seltsam erscheinen wird. Ich hoffe, du stehst rätselhaften Erscheinungen aufgeschlossen gegenüber. Aber als Wikinger bist du in diesen Dingen sicher unvoreingenommen. Ihr glaubt ja schließlich auch an eine Götterwelt namens Asgard und an die ewige Ruhmeshalle Walhall. Haltet ihr nicht sogar das Nordlicht für den Widerschein von Mondschimmer auf den Rüstungen dieser legendären Walküren?« »Willst du etwa bestreiten, dass es die Walküren gibt?« Oles Miene verdüsterte sich bedrohlich. »Nein, nein«, versicherte ich hastig. »Es herrscht ja Religionsfreiheit! Wir haben zwar eine wissenschaftliche Erklärung für das Nordlicht, aber die ist sehr kompliziert, da ist eure Erklärung viel netter.« »Woher stammst du?«, fuhr Ole mich an. Ich holte tapfer Luft. »Gut, dann sage ich es dir einfach. Auch wenn es bestimmt sehr schwer zu glauben ist. Denn Sebastiano und ich, wir kommen aus der Zukunft. Aus einer Zeit, die über tausend Jahre nach dieser liegt.« Ole starrte mich perplex an. Vorsichtig fuhr ich fort: »Wir sind so eine Art … Hüter. Wir wachen über den Ablauf des Zeitstroms, über die Ordnung der Jahrhunderte, und manchmal ergibt es sich dabei, dass wir 36

Menschen von einer Zeit in eine andere bringen. Wir wollen dich zu uns in die Zukunft holen.« Ich sah Ole nach diesen Erklärungen an, gespannt, wie er das alles aufnahm. Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf einen Holzklotz neben meinem Balken. Mittlerweile war es fast dunkel. Die Sonne war bereits untergegangen. Die heraufziehende Dämmerung malte tiefe Schatten auf sein Gesicht, doch ich konnte sehen, dass sich widerstreitende Gefühle darin abzeichneten – Ungläubigkeit, unterdrückte Angst, aber zugleich auch Neugierde und eine Spur von Ehrfurcht. Trotzdem hatte er sich hervorragend unter Kontrolle. Seine Frage klang ganz sachlich. »Warum wollt ihr, dass ich mit euch komme?« »Das hört sich jetzt wahrscheinlich ebenfalls ziemlich eigenartig für dich an, aber wir sind auf der Suche nach geeigneten Schülern. Wir wollen Menschen aus anderen Epochen zu Zeitwächtern ausbilden, und uns wurde gesagt, du seist ein passender Kandidat. Na ja, und was dein künftiges Leben in dieser Zeit hier angeht – darauf baust du besser nicht. Deine einzige Option besteht darin, mit uns zu kommen, wenn du weiterleben willst.« Ole hatte meinen Schilderungen unbewegt gelauscht. »Hast du meinen Tod gesehen?« »Ich selbst nicht, aber jemand, dessen Weisheit wir vertrauen, weil er die Zeitströme kennt wie sonst niemand. Er trägt eine Augenklappe und hat sich einen spanischen Namen gegeben – José. Wie er wirklich heißt, wissen nur die Götter.« Rasch fügte ich hinzu: »Natürlich nur im übertragenen Sinne. Diese ganzen Zusammenhänge erkläre ich dir ein anderes Mal. Wichtig ist nur, dass du vorab Folgendes weißt: Wenn du mit uns kommst, wird es für alle Menschen hier so sein, als wärest du nie geboren worden. Keiner wird sich mehr an dich 37

erinnern können, weder deine Schwester noch deren kleiner Enkel.« »Auch nicht mein Vater, der Jarl?« »Auch der nicht. Niemand, nicht einmal deine besten Freunde.« »In Vergessenheit zu geraten ist schlimmer als der Tod«, sagte Ole im Brustton der Überzeugung. »Ich weiß, dass es euch Wikingern viel bedeutet, in möglichst vielen Heldensagen verewigt zu werden, die ihr euch abends am Feuer von euren Skalden erzählen lasst. Aber du wirst in der Zukunft weiterleben! Du kannst neue Freunde finden. Und du musst nicht mehr ständig ums nackte Überleben kämpfen.« »Ich bin zum Kampf geboren.« »Das musst du ja nicht aufgeben. Sebastiano kann dir das Fechten beibringen. Und den Kampf ohne Waffen.« »Ein Kampf ohne Waffen? Wozu soll das taugen?« »Das wirst du merken, wenn du ihm mit einem Schwert in der Hand gegenübertrittst und er dich innerhalb eines Augenblicks mit bloßen Händen außer Gefecht setzt.« »Niemand kann das.« »Sebastiano schon. Und er wird dir zeigen, wie man es macht. Du kannst sein Schüler werden und alles von ihm lernen. Unsere Aufgaben als Zeitwächter erfordern Geschick, Umsicht und Klugheit. Unsere Feinde lauern in allen Epochen.« »Es gibt also Feinde?« Das schien Oles Interesse zu wecken. »Sind sie mächtig?« »Sehr mächtig und sehr hinterlistig. Wir haben viel zu tun.« Ich hatte mir die meisten Argumente schon vorher zurechtgelegt, aber jetzt fielen mir noch weitere ein. »Du wirst in unserer Zeit niemals hungern müssen. Es gibt reichhaltige Mahlzeiten und saubere Kleidung, sooft du es willst. Du kannst 38

täglich baden oder etwas tun, das wir duschen nennen.« Der intergalaktische Translator  – das war meine private, nicht ganz ernst gemeinte Bezeichnung für die automatische Übersetzung – wandelte den Ausdruck nicht um, ebenso wenig wie andere Begriffe, die ich schon vorher im Gespräch mit Ole benutzt hatte und die ihm fremdartig erscheinen mussten – ein sicheres Zeichen dafür, dass er den Einschränkungen der Sperre nicht unterworfen war. Er war nun einer von uns. Das bedeutete jedoch nicht, dass er alles sofort verstand. Vor allem nicht solche Dinge, die ein Wikinger nicht kannte. »Was ist duschen?« »Man wird von Kopf bis Fuß mit warmem Wasser übergossen und kann sich dabei mit duftenden Essenzen waschen. Hinterher ist man sehr sauber und riecht gut.« »Wir übergießen uns ebenfalls manchmal mit Wasser, und im Sommer baden wir im Fjord.« »Ja, schon klar, ich wollte damit nicht sagen, dass ihr Wikinger stinkende Barbaren seid. Aber stell dir vor, du könntest dich täglich nach Lust und Laune jederzeit unter einen warmen Wasserfall stellen und anschließend saubere, weiche Kleidung tragen. Kleidung, die gut riecht und vollständig frei von Ungeziefer ist. Auch unsere Häuser riechen gut, denn wir halten unser Vieh nicht dort, wo wir selbst wohnen. Und wir haben es immer warm, auch im allerkältesten Winter.« Das alles schien ihn nachdenklich zu stimmen, besonders die Sache mit dem Duschen hatte ihn offenbar beeindruckt. Aber ein anderer Punkt interessierte ihn mindestens genauso sehr. »Gibt es auch gute Waffen in eurer Zeit?« »Weit bessere als hier. Sie sind mit allerhöchster Präzision gefertigt und rosten nicht.« Ich verkniff es mir, ihn auf die wirklich effektiven Waffen hinzuweisen, denn mit denen würde er ganz sicher keinen Umgang haben. Jedenfalls nicht, so39

lange ich dabei ein Wörtchen mitzureden hatte. »Ole, es wäre klug, wenn wir beide sofort aufbrechen. Sebastiano ist wahrscheinlich schon wieder auf dem Weg hierher. Wir passen ihn unterwegs ab und gehen dann gemeinsam zurück zu unserer Zeitmaschine.« »Zeitmaschine?« »Das Gerät, mit dem wir durch die Zeiten reisen.« »Wo habt ihr es versteckt?« »Ach, es ist einfach nur gut getarnt, eigentlich sieht es aus wie ein …« Ich hielt inne, denn eine innere Stimme warnte mich plötzlich, ihm zu viel zu verraten. »Es sieht aus wie ein Felsen«, behauptete ich. »Davon gibt es sehr viele hier in der Gegend.« »Eben.« »Wird Sebastiano das Gold auch ganz sicher mitbringen?« »Natürlich. Er liebt mich und würde alles tun, um mich zu befreien.« »Du widersprichst dir selbst«, sagte Ole mit unerwarteter Kälte in der Stimme. »Wozu sollte er dich mit Gold freikaufen wollen, wenn es euch doch angeblich nur darum geht, mich mit in eure Zeit zu nehmen?« Mir war klar, worauf dieses Frage-und-Antwort-Spiel abzielte. Ole lag mehr an dem Gold als an allem anderen, er wollte einfach nur sicherstellen, dass er es in die Finger bekam. Er hatte gar kein Interesse daran, mit uns zu kommen. »Keine Sorge, er wird das Gold dabeihaben«, bemerkte ich spitz. »Denn es könnte ja immerhin sein, dass du unser Angebot für eine bessere Zukunft ausschlägst. Weil du dir vielleicht ausrechnest, als reicher Mann in deiner eigenen Zeit irgendwo anders ein neues und ruhmreiches Leben anfangen zu können.« Es schien ihn zu ärgern, dass ich ihn so leicht durchschaut 40

hatte. Abrupt stand er auf und schickte sich an, ins Haus zurückzugehen. »He«, sagte ich beunruhigt. »Du willst mich doch nicht etwa hier draußen allein in der Kälte sitzen lassen?« »Du hast ein dickes Schaffell umhängen. Zusätzlich hast du von drei Seiten Wände um dich herum und ein Dach über dem Kopf. Drinnen bei uns ist es auch nicht viel wärmer. Außerdem stinkt es dort nach Stall und Rauch und ungewaschenen Menschen.« »Ole, ich wollte dein Zuhause und deine Art zu leben nicht schlechtmachen! Ich fände es wirklich angenehmer, drinnen zu warten statt hier draußen! Dann könntest du mir auch diese blöden Fesseln abnehmen, weil du mich jederzeit im Auge hättest.« »Meine Leute glauben, dass du zu den Dänen gehörst. Sie wollen dich nicht bei sich haben. Am liebsten würden sie dich tot sehen. Nur die Aussicht auf das Gold hält sie ruhig.« »Du willst es mit ihnen teilen?«, fragte ich erstaunt. Meine Frage schien ihn zu verwundern. »Natürlich. Wenn ich nicht mehr da bin, um für sie zu sorgen, werden sie es dringend brauchen.« »Soll das heißen, du kommst mit uns?« »Das wird sich finden.« Mit dieser knappen Antwort verschwand er im Inneren seiner Wikingerbehausung und ließ mich verblüfft zurück. Unwillkürlich lauschte ich, bis das Geräusch seiner Schritte nebenan auf dem strohbedeckten Boden des Stalls verklungen war, während ich versuchte, die unerwartete Wendung unseres Gesprächs zu verdauen. Dieser Wikinger hatte definitiv mehr Facetten, als ich erwartet hatte. Er war dickköpfig und auf seinen Vorteil bedacht, aber er war offenbar auch seiner Familie gegenüber loyal. Und er besaß eindeutig einen gewissen Geschäftssinn, der ihm dabei half, das Nütz41

liche mit dem Unausweichlichen zu verbinden. Wenn er schon von hier verschwinden musste, um sein Leben zu retten – warum nicht noch zusätzlich einen Haufen Gold dafür kassieren? Damit verschaffte er seinen Angehörigen die Mittel, sich von Håkon Ladejarl und der machtbesessenen Gunilla unabhängig zu machen. Sie konnten sich mit allem eindecken, was man zum Auswandern so brauchte, und woanders eine neue Existenz gründen – beispielsweise in Island, wohin viele norwegische Wikinger gegen Ende dieses Jahrhunderts übergesiedelt waren, um dort ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Frage war nur: Würde Ole mit ihnen gehen – oder mit uns? * Wenig später stellte ich mir eine ganz andere Frage, die viel existenzieller war, nämlich die, ob ich überhaupt lebend aus dieser ganzen Nummer rauskommen würde. Ole war kaum zu seinen Leuten ins Haus zurückgekehrt, als sich ein Fackelzug näherte. Ich zählte mindestens acht Lichtpunkte, die den Hang heraufkamen, und jeder von ihnen signalisierte Gefahr. Das war in dem Fall keine Schwarzmalerei, denn ich spürte es an dem beginnenden Jucken im Nacken. Dieses Jucken war eine Art übersinnliche Begabung bei mir – es tauchte immer auf, wenn es wirklich brenzlig wurde. Dann war Abhauen meist die beste Alternative. Blöd nur, wenn das nicht möglich war, etwa, weil man zufällig gerade mit einem Strick an einem Balken festgebunden war. Ole hätte besser auf mich hören und gleich mit mir verschwinden sollen, als ich es ihm vorgeschlagen hatte. Aber er musste ja unbedingt diese Erpressungsmasche durchziehen, 42

um an das Gold zu kommen. Dass er es nicht für sich selber wollte, änderte nichts an der beängstigenden Situation. Die Neuankömmlinge waren fast da. So laut ich konnte, schrie ich Oles Namen, um ihn zu warnen. Er kam aus dem Haus geschossen wie der Blitz, in der einen Hand ein riesiges Schwert, in der anderen eine gewaltige Streitaxt. Die übrigen Bewohner des Hauses folgten ihm auf dem Fuß. Ein paar Tiere aus dem Stall gesellten sich auch noch dazu. Es gab einen Heidenlärm, denn die Hunde hatten ein ohrenbetäubendes Gebell angestimmt. Es klang furchterregend, und halb hoffte ich, die Biester würden sich losreißen und über die ungebetenen Besucher herfallen, doch nach einer Weile beruhigten sie sich, und es kehrte Stille ein. Hoffnungslose Stille. Mit den acht Männern, die der Jarl geschickt hatte, konnten Oles Leute es nicht aufnehmen. Ganz abgesehen davon, dass sie das sowieso nicht vorhatten, denn das Wort von Håkon Ladejarl war hier Gesetz. Sogar Oles zwei Cousins hatten bedenkenlos seinen Befehl befolgen wollen, Ole den Göttern zu opfern. Nicht mal Ole selbst würde sich gegen ihn auflehnen – dass er sich nicht freiwillig hatte ermorden lassen, war vermutlich seine bisher erste und einzige Rebellion gewesen. Und wie es schien, wollte er sogar diese nachvollziehbare Aufsässigkeit am liebsten vergessen. Seine Reaktion beim Anblick der Besucher ließ jedenfalls darauf schließen. »Ihr seid es nur«, meinte er gelassen. »Dem Geschrei dieser Dänin nach musste ich glauben, dass unsere schlimmsten Feinde anrücken.« Das dachte diese Dänin wirklich, denn die Besuchergruppe bestand zum Teil aus denselben Typen, die mir auch schon am Vormittag eine Heidenangst eingejagt hatten – Einohr Bjarni, Glatzkopf und einer der anderen Brutalos. Bjarni starrte mich 43

an, als könnte er es gar nicht erwarten, mich irgendwo allein im Dunkeln zu erwischen. Und mittlerweile war es dunkel. »Was wollt ihr hier?«, fragte Ole, immer noch im Tonfall zuvorkommender Freundlichkeit. Glatzkopf antwortete genauso zuvorkommend. »Der Jarl hat angeordnet, dass du zu seinem Fest erscheinst und die gefangenen Dänen mitbringst.« »Ich habe nur noch die Frau. Den Mann habe ich weggeschickt, damit er das Lösegeld besorgt.« Glatzkopf nickte, anscheinend fand er das völlig logisch, weil es die übliche Vorgehensweise war. »Dann kommst du eben nur mit der Frau. Håkon will sie verhören. Aber zuerst wollen wir alle feiern. Ein Ochse dreht sich schon am Spieß, und die Trinkhörner sind bereits mit dem allerbesten Met gefüllt. Du hast tapfer in der Schlacht gekämpft und dem Jarl große Ehre erwiesen. Die Skalden werden dich besingen. Denn du bist Ole Håkonson.« Ole nickte stolz. Anscheinend nahm er dieses ganze scheinheilige Gesülze für bare Münze. Ich öffnete den Mund, um ihn zu warnen, dass diese Feier böse für ihn enden konnte (von mir selbst gar nicht zu reden), doch Ragnhild verpasste mir einen Rippenstoß und brachte mich zum Schweigen. Nur wenige Minuten später waren wir auch schon unterwegs zu Håkons Siegesfeier. Die Einladung galt nur für Ole und mich. Alle anderen mussten dableiben. Ragnhild stand neben den übrigen Bewohnern des Hauses und blickte uns mit sorgenvoller Miene nach. Ole zog mich einfach kurzerhand am Strick hinter sich her, während wir gemeinsam mit den Männern des Jarls den Hang hinunterstapften. Bjarni ging mit seiner Fackel voraus, aber ab und zu warf er einen Blick zurück, als wollte er sich vergewissern, dass sein künftiges Eigentum noch da war. 44

Unter anderen Umständen wäre ich wahrscheinlich vor Furcht und Entsetzen in einen Dauerheulkrampf verfallen. Doch kurz vor diesem Aufbruch ins Ungewisse hatte ich etwas gespürt, was den anderen entgangen war, weil nur Zeitreisende es wahrnehmen konnten – dieses geheimnisvolle, unirdische Summen, das kein richtiges Geräusch war, weil man es nur tief im Inneren hören konnte. Es kündete das Eintreffen der Zeitmaschine an. Sebastiano und José waren hier, ganz in der Nähe. Sie würden uns folgen und über mich wachen. Und wenn es hart auf hart kam, würden sie eingreifen und mich retten. Hoffentlich. * Diesmal musste ich nicht draußen unter einem zugigen Vorbau ausharren, sondern wurde gleich in den Stall verfrachtet und dort neben einem Verschlag voller Hühner an einem Balken festgebunden. Es stank zwar betäubend nach Dung und Schweinemist, aber wenigstens war es einigermaßen warm. Vom Stall aus führte ein offener Durchgang in die große Halle des Langhauses, sodass ich ziemlich viel von dem sehen konnte, was sich dort abspielte. Unter dem aus rohen Balken gezimmerten Dach standen ein paar Rauchwolken, und auch die überall brennenden Tranleuchten und das offene Herdfeuer in der Mitte des gewaltigen Raums sonderten Qualm ab. Im Dach gab es zwar eine Öffnung für den Abzug, und auch die großen Tore an den Frontseiten des Langhauses standen offen, aber trotzdem biss die vollgeräucherte Luft in den Augen. Über dem Herdfeuer – eigentlich war es eher eine Art Lagerfeuer innerhalb eines niedrigen Steinwalls – hing an einem Gestell ein großer Topf mit dampfendem Inhalt, von dem eine Frau mit einer Schöpfkelle Portionen in Holzschalen füllte 45

und sie an die Gäste verteilte. Ringsum an den Wänden befanden sich lange Tische, an denen zu Dutzenden die Wikinger saßen – es waren fast nur Männer, die Frauen waren eher fürs Bedienen zuständig – und sich das servierte Essen schmecken ließen. Sie schwenkten ihre Becher und Trinkhörner und schrien und lachten durcheinander. Die Stimmung war regelrecht ausgelassen. Als Ole im Kreis von Glatzkopf und dem Rest des Abholteams den Raum betrat, verstummte der fröhliche Lärm. Alle Köpfe wandten sich ihm zu. Für ein paar Sekunden herrschte peinliches Schweigen, offenbar hatte sich die misslungene Opferung herumgesprochen, und vielleicht ahnten einige auch bereits, dass in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Doch dann setzte die Unterhaltung wieder ein, und wenig später herrschte derselbe Radau wie vorher. Ole hatte mir den Rücken zugewandt, von meiner Position im Stall aus konnte ich nicht sehen, wie er auf die Situation reagierte. Beispielsweise darauf, dass sein Vater Håkon ihm nicht die geringste Beachtung schenkte. Dass der grauhaarige Riese auf dem erhöht angebrachten, thronartigen Sitz der Jarl sein musste, war unschwer festzustellen, und auch Gunillas Anwesenheit stach sofort ins Auge. Sie saß neben Håkon, eine füllige, in Seide gekleidete Blondine mit mehreren goldenen Armreifen und einem zeitlos schönen Gesicht. Auch ihr gemeinsamer Sohn und Erbe Erik saß bei ihnen, die Ähnlichkeit mit seiner Mutter war unverkennbar. Von draußen brachten Knechte und Mägde große Bretter mit dampfendem Fleisch herein. Anscheinend war der Ochse, der draußen über offenem Feuer gegrillt wurde, jetzt gar. Unter begeistertem Gejohle wurden die Bratenstücke in Empfang genommen, und mit zahlreichen Trinksprüchen und Freudenrufen ging die Feier weiter. Der Met floss in Strömen, ständig liefen Bedienstete zwischen den Tischen herum und füllten 46

die hochgereckten Trinkgefäße. Für die Gäste war es allerdings nicht etwa bloß ein nettes Besäufnis. Denn Met, vor allem der wertvolle höherprozentige, der nur zu wichtigen Feierlichkeiten kredenzt wurde, galt als Göttertrank. Dieses vom Jarl veranstaltete Siegesgelage war also zugleich eine Art zeremonielle Opferhandlung. Mit ihren Opferriten schienen es die Wikinger wirklich genau zu nehmen: Mir war immer noch ein bisschen übel von dem Anblick des draußen vorm Haus aufgespießten, ausgebluteten Pferdes, das mir vorhin bei unserer Ankunft gleich als Erstes ins Auge gefallen war  – ebenfalls eine kultische Opfergabe des Jarls an die Götter, zum Dank für die gewonnene Schlacht. Allerdings gab ich mich nicht der Hoffnung hin, dass das Pferd ein angemessener Opferersatz für Ole war. Dafür sah diese Gunilla eine Spur zu heimtückisch und zu selbstzufrieden aus, und der Jarl hatte ein bisschen zu betont in eine andere Richtung geschaut, als Ole hereingekommen war. Die beiden hatten für Ole noch irgendwas Übles auf der Karte stehen, und mittlerweile musste das auch Ole selbst klar sein – wenn er es nicht schon vorher vermutet hatte. Er saß ein wenig abseits auf einer Bank zwischen Glatzkopf und Bjarni Einohr und blickte stumm in die Runde. Von dem Fleisch, das ihm gereicht wurde, aß er nur wenig, aber dafür kippte er umso mehr Met herunter. Die anderen Gäste ließen ihrer Feierlaune freien Lauf. Während munter weiter gefuttert und geschwätzt wurde, hatte der Skalde seinen großen Auftritt. Skalden waren altnordische Geschichtenerzähler, die aus dem Stegreif epische, kunstvoll verschachtelte Gedichte vortrugen, die sich meist um sagenhafte Heldentaten von Menschen und Göttern drehten. Obwohl ich dank der automatischen Übersetzung alles verstand, klang es für mich langatmig und etwas verschroben, aber vie47

le der Anwesenden lauschten gebannt und fasziniert den endlosen, gestenreich vorgetragenen Strophen. Bei manch einem war jedoch der Kopf bereits vornüber gesackt, und nicht wenige hockten mit glasigen Augen da und bekamen kaum noch was mit. Zwischendurch stand immer wieder mal einer auf und wankte durch den Stall an mir vorbei ins Freie, wo er sich würgend übergab und danach auf seinen Platz zurückkehrte, um dort unbeschwert weiterzufeiern. Einmal kam auch Bjarni in den Stall. Er blieb dicht vor mir stehen und schob sein hässliches, rotbärtiges Gesicht so dicht vor meines, das ich an der Seite seines Kopfes das narbig verwachsene Loch sehen konnte, wo früher mal sein linkes Ohr gesessen hatte. »Morgen gehörst du mir allein«, flüsterte er mir mit metgeschwängertem Atem zu. Ich machte mich bereit, ihn dahin zu treten, wo es richtig weh tat, doch er fasste mich nicht an, sondern ging einfach weiter nach draußen, um dort zu pinkeln. Anschließend stapfte er wortlos an mir vorbei zurück in die Halle, wo er sich wieder neben Ole auf die Bank setzte. Ole starrte in meine Richtung, und ich hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Hand. Doch wahrscheinlich konnte er mich gar nicht sehen, denn im Stall war es ziemlich dunkel. Nur eine dürftig flackernde Tranleuchte am Durchgang zur Halle spendete ein bisschen Licht. Das Gedicht des Skalden – es reimte sich allerdings kaum etwas darin – schien kein Ende zu nehmen. Es handelte von der frisch gewonnenen Schlacht und schmückte in unzähligen Variationen die heroische Tapferkeit von Håkon Ladejarl und seinen Mannen aus. Irgendwann kam dann die Stelle mit dem Hagelsturm, den – so jedenfalls die Version des Skalden – die Götter als Prüfung gesandt hatten. Erst, als der Jarl in seiner unendlichen Weitsicht beschlossen hatte, inmitten des toben48

den Kampfes seinen geliebten Sohn als Opfer darzubringen, hätten die Götter ein Einsehen gehabt und ihm den Sieg über den Feind zuteilwerden lassen. Dass bei dieser Auslegung der ganze Ablauf der Ereignisse ein wenig durcheinander geriet, schien keine Rolle zu spielen. Die Zuhörer brachen in Jubel aus und hämmerten ihre Trinkhörner auf den Tisch, bis die Knechte mit flüssigem Nachschub herbeieilten. Ehe der Skalde weitersprechen konnte, stand plötzlich Bjarni Einohr auf und verschaffte sich Gehör. »Die Opferung muss noch vollzogen werden, damit der Sieg wirklich uns gehört!«, brüllte er quer durch den Saal. »Sonst werden die Götter sich betrogen fühlen und uns neue Dänenschiffe auf den Hals schicken!« »Bjarni hat recht, noch ist der Sieg nicht unser!«, brüllte ein anderer, und gleich darauf fielen noch ein paar Männer in das Geschrei ein, bis von allen Seiten lautstarke Zustimmung ertönte. »Harald Blauzahn wird uns heimsuchen und uns vernichten!« »Búi ist mit viel Gold entkommen und kann davon neue Kämpfer anwerben!« In der Art ging es noch eine Weile weiter. Erregte Ausrufe flogen hin und her, aber es waren auch einzelne Stimmen zu vernehmen, die zur Besonnenheit aufriefen. Ole schien durchaus ein paar Freunde und Fürsprecher unter den Leuten des Jarls zu haben, ganz egal, wie sehr die intrigante Gunilla sich im Vorfeld abgemüht hatte, um diese Show zu inszenieren. Ole saß einfach nur da und tat so, als würde ihn die ganze Sache nichts angehen, aber trotz der dürftigen Beleuchtung konnte ich sehen, wie es in seinen Augen loderte. Der Erste, der versuchte, ihn anzurühren, wäre ein toter Mann. 49

Håkon Ladejarl erhob sich von seinem Häuptlingsthron und ließ ein durchdringendes Gebrüll hören, das sofort den Rest der Halle zum Verstummen brachte. »Schluss mit dem Gezeter!«, rief er mit dröhnender Stimme. »Es ist wahr, das Opfer muss noch vollzogen werden, aber es muss bei Tageslicht geschehen, denn wie sollen die Götter es sonst sehen? Heute Nacht soll Ole mit uns feiern, denn er ist der Sohn des Jarls und hat gekämpft wie ein Held!« Das fanden die Anwesenden offenbar ebenso logisch wie großmütig, denn sie quittierten Håkons Äußerung mit begeistertem Johlen und einer wahren Salve von Trinksprüchen. Nur Gunilla schaute ziemlich verbissen drein; sie hätte eine sofortige Opferung zweifellos vorgezogen. Ole wurde von allen Seiten mit Glückwünschen zu seinem Heldenmut und seiner Opferbereitschaft überhäuft, und jemand drängte ihm ein volles Trinkhorn auf, das er auf Ex runterkippen musste. Gleich darauf folgten ein zweites und ein drittes. Nach allem, was er vorher schon weggebechert hatte, konnte das nicht gutgehen. Als er zwischendurch aufstand, um seinem Vater zuzuprosten, schwankte er und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Nach dem vierten Trinkhorn kam er, von Glatzkopf und Bjarni gestützt, in den Stall gestolpert. »Ich schaff’s schon allein«, lallte Ole. »Ihr könnt ruhig wieder reingehen.« »Damit du fliehen kannst?«, höhnte Bjarni. »In der Tat«, sagte Sebastiano. Er trat aus der Dunkelheit und schlug Bjarni mit dem Griff seines Dolchs nieder. Ich brach umgehend in Tränen der Erleichterung aus. »Du bist wieder da!« Diese überflüssige Feststellung beantwortete er mit einer rhetorischen Gegenfrage, während er mit einem raschen 50

Schnitt meine Fesseln durchtrennte. »Hast du etwa daran gezweifelt?« Er küsste mich kurz, aber intensiv, dann warf er Ole einen zweiten Dolch zu. Ole fing ihn ziemlich geschickt mitten im Flug auf und schob ihn sich in den Gürtel. Er war anscheinend längst nicht so betrunken, wie ich angenommen hatte. »Du hast lange gebraucht«, sagte er zu Sebastiano. Seine Stimme klang viel deutlicher als vorhin. »Hast du das Lösegeld mitgebracht?« »Im Moment hast du ganz andere Sorgen, mein Junge. Geh mal bitte ein Stück zur Seite, damit ich mich um den da kümmern kann.« Mit katzenartigen Schritten bewegte Sebastiano sich auf Glatzkopf zu, den Dolch locker in der Rechten. Ich hatte ihn schon oft kämpfen sehen. Glatzkopf war so gut wie tot. Doch im nächsten Moment überlief es mich eiskalt, denn Glatzkopf hatte plötzlich ein riesiges Messer in der Hand. »Du kannst mit mir kämpfen und dich von mir töten lassen, Fremder. Du kannst jedoch ebenso gut einfach wieder gehen und Ole und das Mädchen mitnehmen. Ich kann euch etwas Vorsprung verschaffen, aber nicht viel.« Sebastiano musterte ihn abwägend, dann nickte er langsam. »Etwas Vorsprung wird uns reichen.« »Moment mal.« Verwirrt massierte ich meine Handgelenke, dann deutete ich auf Glatzkopf. »Gehörte der Kerl nicht eben noch zu der kompromisslosen Opferungs-Fraktion?« Der intergalaktische Translator übersetzte es sehr blumig mit jenen, die um jeden Preis den Göttern mit Blutgaben huldigen wollen. »Mein Vater wünscht, dass ich fliehe«, erklärte Ole knapp. »So ist es doch, oder, Ivar?« Ivar – offenbar war das Glatzkopfs Name – nickte widerstrebend. »Die Seher sind sich uneinig. Gunillas Seher will deut51

liche Zeichen für die Notwendigkeit des Opfers erkannt haben. Håkons Seher legt die Botschaft anders aus, er sieht Versöhnung und Eintracht und hält eine nachträgliche Opferung für einen Fehler, der den Zorn der Götter erst richtig entfachen könnte. Nun denkt Håkon, wenn du fort bist, kannst du nicht mehr geopfert werden, dann hätten höhere Mächte es entschieden. Er sprach mit mir darüber, dass er nichts dagegen hätte, wenn du die erstbeste Gelegenheit zum Verschwinden nutzt und ich dabei etwas nachhelfe.« »Wenn Ole hierbliebe, würde er aber getötet, oder was?«, hakte ich nach, weil ich nicht so recht an eine unerwartete Aufwallung väterlicher Zuneigung glauben mochte. Ivar zuckte nur mit den Schultern, womit die Sache klar war. Håkon vertraute zwar seinem Seher mehr als dem von Gunilla, doch deswegen mit ihr herumstreiten wollte er auch nicht. Also ging er einfach den Weg des geringsten Widerstands und setzte darauf, dass Ole abhaute und sich nie wieder blicken ließ. Immerhin konnte Ole sich nun in dem Glauben wiegen, dass sein Vater es gut mit ihm meinte. Diese schöne Vorstellung würde ich ihm ganz bestimmt nicht vermasseln. Bjarni bewegte sich stöhnend, er kam allmählich wieder zu sich. Von draußen waren Stimmen zu hören. Durch das offene Tor spähten ein paar neugierige Gesichter herein. Zwei Mägde lugten um die Ecke, und zu allem Überfluss kam im nächsten Moment auch noch ein betrunkener Wikinger aus der großen Halle in den Stall getorkelt. Ivar stützte ihn fürsorglich auf seinem Weg zur Abfallgrube. »Besser, ihr verschwindet jetzt«, zischte er uns über die Schulter zu. Und genau das taten wir dann auch. * 52

Wir rannten so schnell wir konnten den Hügel hinauf. Dabei stellte sich die nächtliche Dunkelheit als größtes Hindernis heraus. Wir hatten keine Lampe mitnehmen können, weil unsere Flucht dann sicherlich rascher bemerkt worden wäre. Unsere einzige Lichtquelle war der nahezu volle Mond, der die Umgebung mit seinem geisterhaft bleichen Schein überzog. Tatsächlich kann man nachts bei klarem Himmel und Mondlicht ziemlich weit sehen, vor allem, wenn sich das Auge erst mal richtig auf die Lichtverhältnisse eingestellt hat, aber das funktioniert meist nicht auf Anhieb, sondern dauert eine gewisse Zeit. Zeit, die wir nicht hatten. José wartete zwar in der Nähe auf uns, etwa auf halber Strecke zwischen dem Anwesen des Jarls und dem Haus, in dem Ole lebte, doch schon auf den ersten zweihundert Metern fiel ich mindestens dreimal der Länge nach hin. Auch Ole stolperte häufig und landete mehrmals unsanft auf der Nase, obwohl er den Weg von uns dreien am besten kannte. Offenbar zeigte der Alkohol durchaus Wirkung. »Komm schon«, sagte Sebastiano ungeduldig zu Ole, der soeben ein weiteres Mal hingeknallt war und sich fluchend hochrappelte. »Ein paar dieser Kerle folgen uns bereits, wie dir sicher nicht entgangen ist. Unser Vorsprung schmilzt mit jedem Schritt. Du bist einfach zu langsam!« Ich hielt mir schwer atmend die stechenden Seiten und bezog seine Zurechtweisung zumindest zum Teil auch auf mich. Im Sprinten war ich eine Niete. Erst recht bei Nacht und unebenem, steilen Gelände. Besorgt blickte ich zurück. Auf halber Höhe des Hügels waren Fackeln aufgetaucht, und sie kamen näher. Mein Nacken fing an zu jucken. »Ich bin berauscht«, ächzte Ole. »Ein Zustand, den du selbst verschuldet hast«, blaffte Sebastiano ihn an. »Dümmer geht es kaum noch!« »Er hatte doch keine andere Wahl«, stieß ich schnaufend 53

und im Rhythmus meiner Schritte hervor, während wir weiter den Hügel hinaufhetzten. »Wenn Ole sich nicht so zugeschüttet hätte, hätte er ja keinen Vorwand gehabt, nach draußen zu gehen.« »Nein«, sagte Ole keuchend. »Ich sprach dem Met zu, weil es ungebührlich ist, den vom Jarl dargebotenen Siegestrunk zu verweigern. Und frevelhaft gegenüber den Göttern.« Richtig, das hätte ich beinahe vergessen. Um ein Haar wäre ich damit herausgeplatzt, dass es in der Zukunft mit der Sauferei vorbei wäre, doch das verkniff ich mir gerade noch. Vernünftiger Umgang mit Alkohol war nur eine von unzähligen Lernetappen, und nicht mal die wichtigste. Deutlich weiter oben auf der langen Liste standen noch ein paar andere Dinge. Etwa höfliches Benehmen gegenüber Frauen. Oder ein sachliches, weniger emotionales Verhältnis zu Waffen. Dann hatten wir es endlich geschafft, unser Ziel befand sich in Sichtweite – zwischen einer Gruppe von Felsen etwas abseits des Wegs stand die windschiefe kleine Holzhütte. Schon von Weitem sah ich das flimmernde weiße Licht. José hatte die Zeitmaschine bereits angeworfen. Wir würden gleich starten können. Warum juckte dann auf einmal mein Nacken so heftig? Im nächsten Moment wusste ich es. Ole schnappte mich und umklammerte mich mit einem Arm, während er mit der freien Hand den Dolch zog und ihn mir an den Hals hielt. Sebastiano hörte meinen unterdrückten Schrei und fuhr herum. »Was zum Teufel … Ole, bist du verrückt geworden?« »Ich will das Gold«, sagte Ole mit wilder Entschlossenheit. »Jetzt sofort. Wir hatten es ausgemacht. Anna kommt erst frei, wenn du es mir gibst.« Er presste mich dicht an sich. Sein Arm war so fest um meinen Körper geschlungen, dass es sich an54

fühlte wie eine Eisenklammer. Ich konnte kaum atmen, weil er mir die Rippen zusammenquetschte. Meine Füße baumelten ein Stück über dem Boden. Während ich voller Panik überlegte, welche Selbstverteidigungsmaßnahmen sich in dieser Situation anboten, spürte ich in meinem Rücken Oles rasenden Herzschlag. Sein Atem kam stoßweise, und ich roch förmlich seine Verzweiflung. Sebastiano blieb ruhig, aber ich hatte die jähe Angst in seiner Miene gesehen – Angst um mich. Ihm war klar, in was für einem Ausnahmezustand Ole sich befand. Sein bisheriges Leben war vorbei, und er wusste nicht, ob es wirklich ein anderes für ihn geben würde. Er hatte niemanden mehr, nur noch zwei Fremde, die ihm verstörende Dinge erzählt hatten und ihn in eine Welt mitnehmen wollten, die nicht die seine war. Das alles machte ihn unberechenbar. Ich hörte auf zu strampeln und versuchte vorsichtig, meinen Kopf zu ihm umzudrehen, ohne mich an der Messerschneide zu verletzen. »Ole, wir halten unsere Versprechen, du kriegst das Gold auf alle Fälle«, sagte ich leise, als ich aus den Augenwinkeln sein Gesicht sah. Im Mondlicht war es verzerrt vor Emotionen, die er wahrscheinlich selber nicht richtig einordnen konnte. »Das Gold ist da drüben«, sagte Sebastiano. »Dort bei der Zeitmaschine.« »Wo?«, schrie Ole. Sein Blick glitt über die Felsen rund um die Hütte. Er hatte genau wie wir die flimmernde Lichtspur gesehen, konnte sie aber nicht genau zuordnen. »Welcher Felsen von denen ist es?« Ich tauschte einen raschen Blick mit Sebastiano. Er verzog keine Miene. »Gleich der erste. Dahinter liegt das Gold. Ich sorge dafür, dass deine Leute es bekommen, sobald wir in Sicherheit sind. Du hast mein Wort.« 55

»Hol es her.« »Ole, du musst dich entscheiden. Kommst du nun mit uns oder nicht?« Ole warf einen Blick über die Schulter. Fackellicht bewegte sich den Hügel hinauf. Weit waren die Verfolger nicht mehr entfernt. »Hol das Gold«, presste er zwischen den Zähnen hervor, während er demonstrativ mit dem Dolch vor meinem Gesicht herumfuchtelte. Sebastiano ging kein überflüssiges Risiko ein. Er rannte zu den Felsen und kam gleich darauf mit einem Lederbeutel zurück, den er Ole vor die Füße warf. Ole setzte mich ab, drückte mir aber die Spitze des Messers in die Seite. Zu meinem Schrecken spürte ich, wie die Wolle meines Umhangs unter der scharfen Klinge aufriss. »Öffne den Beutel«, befahl er mir. Ich gehorchte und war erleichtert, als im Mondlicht der satte, leuchtende Glanz von Gold zu sehen war. Ole gab ein Geräusch von sich, das halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Lachen klang, dann stieß er mich von sich, sodass ich auf allen vieren im Dreck landete, während er selbst den Beutel aufhob. Hastig rappelte ich mich hoch und lief zu Sebastiano hinüber, der mich rasch abtastete und sich vergewisserte, dass ich unverletzt war. »Ich werde dir jetzt beibringen, dass niemand so mit meinem Mädchen umgeht«, sagte er zu Ole. Seine Stimme klang gelassen, doch ich hörte den Unterton mörderischer Wut heraus. »Bei dieser Gelegenheit begreifst du vielleicht auch, wer von uns beiden das Sagen hat.« »Ja, lass es uns austragen. Darauf freue ich mich schon die ganze Zeit.« Ole schob mit der Linken den Beutel in eine Felltasche, die er am Gürtel trug, während seine Rechte ein paar 56

Kunststückchen mit dem Dolch vollführte – er warf ihn mehrmals lässig in die Luft und fing ihn so mühelos wieder auf, als hätte er es ewig lange vorher geübt. Seine Koordinationsgabe war wirklich beeindruckend. Und das nach all den gut gefüllten Trinkhörnern. Sebastiano machte keine Anstalten, seinen Dolch zu ziehen. Er ging ruhig auf Ole zu. Der wirkte leicht verunsichert. »Was ist? Wieso lässt du dein Messer stecken?« »Für dich brauche ich keines«, sagte Sebastiano. »Da reicht mir meine starke Faust.« Sofort warf Ole seinen Dolch zur Seite. »Mir ebenfalls.« Ob mit oder ohne Waffe – gegen Sebastiano hätte er ohnehin keine Chance gehabt. Bei all seiner Körperkraft war Ole jemandem, der ein jahrelanges, intensives Training in allen möglichen Kampfsportarten genossen hatte, rettungslos unterlegen. Drei Sekunden später lag er flach auf dem Rücken und rang nach Luft. Sebastiano wandte sich mir zu. »Geh rüber zu José und sag, dass er herkommen soll. Kann sein, dass wir seine Hilfe brauchen, wenn die Kerle gleich hier eintreffen und in der Überzahl sind. Die Alternative wäre, dass ich Ole bewusstlos schlage und wir ihn zur Maschine schleppen, aber ich fürchte, der Bursche ist zu schwer für uns beide. So oder so, wir brauchen José.« »Ich werde dir zeigen, wer hier wen bewusstlos schlägt!« Ole stemmte sich vom Boden hoch und ging wie ein wütender Stier auf Sebastiano los. »Das war ein falsches Spiel, Fremder!«, schnaubte er. »Du hast mich nur zum Stolpern und Hinfallen gebracht! Das war gar kein Faustschlag!« »Den Faustschlag kann ich gern nachliefern.« Mit einem gekonnten Judogriff ließ Sebastiano Ole über seine Schulter segeln und verpasste ihm als Dreingabe einen Hieb in den So57

larplexus. Ole landete erneut hilflos japsend auf dem Rücken. Diesmal würde er nicht so schnell aufstehen können – Sebastiano hatte ihn an einer Stelle getroffen, die vorübergehend das Atemzentrum lähmte. »Nun geh schon«, sagte Sebastiano ungeduldig zu mir. »Worauf wartest du? Hol José!« »Nicht nötig«, sagte José, der wie aus dem Nichts hinter mir in der Dunkelheit aufgetaucht war. »Ich bin schon da.« * Ole erholte sich früher als erwartet und war mit beachtlicher Schnelligkeit wieder auf den Beinen. Und er hatte dazugelernt, denn er schnappte sich den Dolch, den er vorhin weggeworfen hatte. Noch einmal wollte er sich wohl nicht ohne Gegenwehr von Sebastiano aufs Kreuz legen lassen. »Ole«, sagte ich beschwörend. »Du kannst Sebastiano nicht besiegen, sieh es doch endlich ein!« »Das ist noch lange nicht entschieden«, gab Ole ruppig zurück. »Doch für den Moment wollen wir diese Frage offenlassen, da eine andere Auseinandersetzung ansteht. Weib, zieh dich zurück, wenn du nicht zwischen die Kampflinien geraten willst.« Ich fuhr erschrocken herum und sah, was er meinte – die Männer, die uns verfolgten, kamen direkt unter uns den Hügel herauf. Einer ging mit einer Fackel voraus, die beiden anderen stapften hinterdrein. Das Mondlicht hatte mir einen falschen Eindruck von den Entfernungen vermittelt, ich hätte nicht gedacht, dass sie schon so nah waren. Zwischen ihnen und uns lagen höchstens noch hundertfünfzig Meter. Und einer der Typen war Bjarni. Im Fackellicht sah man sein rotes Haar. »Dieser junge Bursche hier muss sich jetzt entscheiden«, 58

sagte José. »Wir können nicht bleiben, um mit ihm gegen seine Feinde zu kämpfen. Es würde nicht gut ausgehen.« Ich wusste, dass er recht hatte. Mein Nacken stand förmlich in Flammen. Bleiben bedeutete den Tod. Bjarni und seine beiden Kumpane waren jetzt so nah, dass man ihre Stimmen hören konnte. Genauer – ihr Kampfgebrüll. »Komm mit uns, Ole«, sagte ich beschwörend. »Ich werde nicht feige fliehen, sondern kämpfen.« José musterte ihn mit seinem gesunden Auge, das im Mondlicht geheimnisvoll funkelte. Das andere lag wie immer unter der schwarzen Augenklappe verborgen. »Was ist, wenn du bei dem Kampf stirbst, Junge?« »Dann ziehe ich glorreich in Walhall ein.« »Und das Gold teilen sich dann Bjarni und Gunilla?« Damit hatte José eindeutig einen wunden Punkt berührt. Ole wirkte plötzlich unsicher. Die drei Verfolger waren jetzt so nah, dass ein gut gezielter Wurf mit einer Streitaxt uns hätte treffen können. »Die Zeit läuft ab«, sagte José. »Es ist deine Entscheidung, und du musst sie freiwillig treffen, sonst können wir hier nichts mehr für dich tun.« An mich und Sebastiano gewandt, setzte er hinzu: »Wir gehen. Sofort.« Und schon trabte er in Richtung Zeitmaschine davon. Sebastiano ergriff meine Hand und zog mich mit sich. Ich blickte über die Schulter zurück. Ole stand einfach nur reglos da und starrte uns hinterher. »Ole!«, rief ich. »Du musst mit uns kommen! Sonst wirst du sterben! Sebastiano hat dir versprochen, dass Ragnhild das Gold bekommt, und er hält immer seine Versprechen! In dieser Zeit hier wartet nichts mehr auf dich, nur noch der Tod!« Als hätten meine Worte es heraufbeschworen, kam wie aus dem Nichts eine Wurfaxt angesaust. Sie flog nur eine Handbreit an Oles Kopf vorbei und landete wenige Schritte hinter 59

mir und Sebastiano auf dem Boden. Das war knapp gewesen! Bjarnis zorniges Gebrüll zerriss die Nacht, und ab diesem Moment blickte ich nicht mehr zurück. Ole hatte seine Wahl getroffen. Es zerriss mir das Herz, dass er nicht mit uns kommen wollte, denn auf eine unerfindliche Weise hatte ich angefangen, ihn zu mögen, auch wenn er sich mir gegenüber die meiste Zeit wie der letzte Obermacho benommen hatte. José stieß die Tür der Hütte auf, und einen Augenblick später waren wir über die Schwelle gestürmt. Die Tür knallte hinter uns zu. José tippte auf dem Bedienfeld der Zeitmaschine herum – wenn sie gerade nicht in Betrieb war, sah sie wie ein harmloser schwarzer Marmorblock aus – und stellte die Koordinaten für den Sprung ein. Mein Nacken juckte und brannte immer noch, die Gefahr, die von den Verfolgern ausging, war noch nicht gebannt. Der Zeitsprung begann. Ich spürte, wie die Luft vibrierte. Das flimmernde Licht breitete sich flächig aus und erfüllte die Hütte. In diesem Moment hämmerte es von draußen heftig an die Tür. »Macht mir auf!«, schrie Ole. »Lass ihn rein«, rief José Sebastiano zu. Sebastiano riss die Tür auf, und Ole kam mit solchem Ungestüm hereingestürzt, dass er von seinem eigenen Schwung vorwärtsgetragen wurde und mich dabei fast umwarf. Ich erhaschte gerade noch einen Blick auf Bjarnis wutverzerrtes Gesicht und sein blinkendes Schwert, ehe Sebastiano die Tür wieder zuschmetterte und sich mit der Schulter dagegenstemmte. Von draußen wurde wuchtig gegen die Bretter getreten, die Tür erzitterte in ihren Angeln. Ich schrie entsetzt auf, als sich dicht neben Sebastianos Wange Bjarnis Schwert durch das Holz bohrte. Das Vibrieren wurde zu einem Dröhnen, und 60

plötzlich war das gleißende Licht überall und hüllte mich ein. Eine alles verschlingende Kälte erfasste mich und drang in die tiefsten Schichten meines Seins vor, und für einen furchterregenden Moment kam es mir vor, als sei ich in der Ewigkeit festgefroren und der Weg nach Hause für alle Zeiten abgeschnitten. So ähnlich fühlte es sich für mich immer an, wenn wir sprangen. Meine Angst vor diesem grauenhaften Augenblick hatte bisher nicht nachgelassen, und diesmal war es besonders schlimm, weil Sebastiano mich nicht umarmen konnte, wie er es sonst immer tat, sondern die blöde Tür zudrücken musste und außerdem fast einem heimtückischen Schwertstoß zum Opfer gefallen wäre. Zu allem Überfluss stieß Ole ohne Unterlass wildes Kampfgeschrei aus – wahrscheinlich kriegte er sich kaum ein vor Angst, ich konnte es ihm sehr gut nachfühlen – und hielt sich dabei an mir fest. Genauer gesagt, er umklammerte meinen Oberarm mit solcher Kraft, dass ich davon garantiert noch wochenlang blaue Flecken haben würde. Das Dröhnen mündete in einem gewaltigen Knall, und damit war der Sprung zum Glück vorbei. Wir waren heil und gesund gelandet. Stille kehrte ein, ich holte zitternd Luft und stützte mich an der Wand ab, weil mir nach dem überstandenen Chaos die Knie wackelten. Das Schwert steckte immer noch in der Tür, aber natürlich war niemand mehr draußen. Bjarni und die anderen Typen waren in ihrer eigenen Zeit zurückgeblieben und würden sich vermutlich fragen, wieso sie mitten in der Nacht eine Mondscheinwanderung unternahmen. Sie würden sich weder an Ole noch an uns erinnern, geschweige denn an die Hütte. Auch für Ragnhild hatte Ole nie existiert. Sie würde sich zwar sicher sehr über das Gold freuen, das wir ihr zukommen lassen würden, aber dass sie einen jüngeren Bruder namens Ole hatte, würde 61

sie nicht mehr wissen. Ob es diese trostlose Aussicht war, die ihm den Entschluss so schwergemacht hatte? Aber letztlich hatte er sich doch noch fürs Mitkommen entschieden, nicht nur, weil er für die Seinen das Beste gewollt hatte, sondern weil er uns geglaubt hatte. Obwohl er uns nicht kannte, vertraute er uns, und wir standen nun in der Verantwortung, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen. »Wir sind da, mein Junge«, sagte José zu Ole. »Willkommen in der Zukunft. Du hast eine gute Wahl getroffen.« Ole ignorierte ihn. »Werden wir unseren Kampf von vorhin jetzt zu Ende führen?«, wollte er von Sebastiano wissen. Er hatte mich losgelassen und reckte sich herausfordernd. Ich sah, dass er immer noch den Dolch umklammerte. Aber mir entging nicht, wie sehr seine Hand zitterte. »Wir werden schon noch ein paarmal kämpfen, aber bloß zu Übungszwecken«, erklärte Sebastiano. »Und jetzt steck endlich das Messer weg. Du wirst es vorläufig nicht brauchen. Es kommt in unsere Waffenkammer, genau wie das Schwert von diesem rothaarigen Wüterich.« Er klopfte Ole kameradschaftlich auf die Schulter, dann blickte er mich forschend an. »Alles in Ordnung?« Ich nickte stumm. Wahrscheinlich würde ich nachher noch einen Heulanfall kriegen, weil alles so verdammt knapp ausgegangen war und weil ich solche Angst um ihn ausgestanden hatte. Schaudernd betrachtete ich die Schwertspitze, die zwischen den Brettern der Tür hervorragte. Wie üblich merkte Sebastiano, was mich bewegte. Er schloss mich fest in die Arme. Ich schmiegte mich an ihn und spürte sein Herz an meiner Wange hämmern. In seinen Adern rauschte noch das Adrenalin. »Bereit?«, fragte José, die Hand an der Tür. Gleich würden 62

wir aus der Enge der dunklen Hütte heraustreten, in unsere angestammte Zeit. In das Leben des einundzwanzigsten Jahrhunderts, das für Ole ganz neu und fremdartig war. Sobald wir mit ihm durch diese Tür schritten, würden unzählige ungewohnte Eindrücke auf ihn einprasseln. Er würde eine Menge lernen müssen, und unser Job würde es sein, ihm alles beizubringen, damit er eines Tages ein Zeitwächter werden konnte wie wir. Ole straffte sich. »Bereit«, sagte er. »Zeigt mir eure Welt.« *

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Leseprobe

»Auf ewig dein«

Wenn das mal gut geht«, murmelte ich, während ich mich anstrengte, einen Blick auf den Herrscher und seine Ehrengäste zu erhaschen. Es befanden sich einfach zu viele Leute hier. Das Gedränge in dem großen Saal war unbeschreiblich. Ich stand inmitten der Menge und reckte mich auf die Zehenspitzen, um die große Tafel auf dem Podest an der Stirnseite der Halle besser sehen zu können, aber mehr als ein paar wippende Federn auf hohen Hüten oder perlenbestickte Kappen edler Damen konnte ich beim besten Willen nicht erkennen. Angeblich waren im sechzehnten Jahrhundert die meisten Menschen deutlich kleiner als die in der Gegenwart. Doch das nützte mir im Moment auch nicht viel, denn ich gehöre zu den Leuten, die etwas kleiner sind als der Durchschnitt. Somit war ich in diesem gewaltigen Festsaal genauso groß wie viele der anwesenden Frauen, aber dummerweise immer noch ein gutes Stück kleiner als die Mehrzahl der um mich herumwuselnden Männer. »Ist Sebastiano hier irgendwo?«, fragte ich Ole, der rechts neben mir stand. Ole war über eins neunzig groß und damit für einen Wikinger aus dem zehnten Jahrhundert ein Riese. Hier in diesem Saal überragte er jedenfalls sämtliche Gäste um Haupteslänge und hatte daher die volle Übersicht. »Nein«, antwortete er mit seiner tiefen Stimme. »Vor fünf Minuten habe ich ihn noch gesehen, aber jetzt kann ich ihn nirgendwo entdecken.« 64

»Ist er rausgegangen?« »Mag sein. Wenn ja, habe ich es nicht bemerkt.« »Und da vorn am Tisch des Königs? Kannst du da irgendwas erkennen?«, erkundigte ich mich. »Ich sehe den ganzen Tisch.« »Und was genau siehst du dort?«, fragte ich. »Lauter edle Damen und Herren. Sie sind maskiert, wie die übrigen Gäste im Saal.« »Ja, weil das hier ein Maskenball ist«, sagte ich um Geduld bemüht. Unwillkürlich berührte ich meine eigene Maske, ein hübsches Accessoire aus roter Seide und frei von jeglicher Magie. Kein Vergleich mit der schwarzen Katzenmaske, die mir auf meinen früheren Abenteuern schon nützliche Dienste geleistet hatte, ehe sie mir während eines Einsatzes abhandengekommen war. »Siehst du auch den König?« Ich musste lauter sprechen, weil oben auf der Galerie ein Orchester Stellung bezogen hatte, um mit Laute, Viola, Tamburin und Flötengedudel die Gäste zu erfreuen. »Ich sehe den König«, bestätigte Ole. »Auch er trägt eine Maske. Aber kein Mensch könnte ihn aus dieser Entfernung verwechseln. Er ist fett wie ein Walross und frisst ohne Unterlass. Ein Wunder, dass sein Thron nicht unter ihm zusammenbricht.« Ich blickte mich leicht erschrocken um. Das Schloss hatte wie jedes große Herrscherhaus der Renaissance Augen und Ohren, und Majestätsbeleidigung war sowieso in allen Zeiten ein Grund für drakonische Strafen gewesen. Wer hier den Mund zu voll nahm, konnte schnell den Kopf verlieren. Buchstäblich. Heinrich der Achte war dafür bekannt, dass er Leuten, die ihm gegen den Strich gingen, gern den Kopf abschlagen ließ. »Du bringst uns mit deinem unvorsichtigen Gerede in Ge65

fahr«, flüsterte ich. Ole gab einen verächtlichen Laut von sich und reckte sich in Wikingermanier. »Ich sehe hier weit und breit niemanden, der es wagen würde, mich, den Sohn eines Jarls, in Eisen zu legen!« Tatsächlich schien außer mir niemand Oles respektlose Bemerkung gehört zu haben. Was keineswegs selbstverständlich war, denn allein schon wegen seines Aussehens zog er eine Menge Aufmerksamkeit auf sich, vor allem weibliche. Genauer gesagt starrten die Frauen, die seinen Weg kreuzten, ihn an wie ein Fabelwesen, aber auch manche Männer konnten kaum ihren Blick von ihm wenden. Groß und breitschultrig wie ein nordischer Kriegsgott war Ole in der Tat eine ungewöhnlich männliche Erscheinung, daran vermochten auch die feinen Seidenstrümpfe und das taillierte Samtwams nichts zu ändern. Er selbst fand sich allerdings in diesen historischen Kleidungsstücken tuntig – eines der ersten Worte, die er in der Gegenwart gelernt hatte, nachdem Sebastiano und ich ihn aus dem zehnten ins einundzwanzigste Jahrhundert geholt und neu eingekleidet hatten. Die Trennung von seiner alten Fellweste und den abgeschabten Lederbreeches war ihm sichtlich schwergefallen. Aber natürlich musste er sich genau wie wir an die modischen Gepflogenheiten in den von uns besuchten Epochen halten, wenn er mit uns durch die Zeit reiste. Stirnrunzelnd betrachtete ich die klobigen Stiefel, die er trug. Wo kamen die denn auf einmal her? Sie waren ein klarer Stilbruch. Hatten wir nicht elegante Lederschuhe mit Silberschnallen für ihn eingepackt? Ich hätte besser darauf achten müssen, was er zu diesem Fest anzog. Dass er so ehrfurchtgebietend groß und mit seinen zwanzig Jahren nicht viel jünger war als ich, ließ mich manchmal vergessen, dass er mein Schüler war. Ein Schüler, der noch viel lernen musste. Vor allem über die Sitten und Gebräuche der unterschiedlichen Jahrhun66

derte, die wir als Zeitwächter besuchten. »Du musst genau aufpassen, was du sagst«, ermahnte ich ihn. »Du kannst nicht überall, wo du gehst und stehst, den Häuptlingssohn herauskehren. Du musst die Rolle spielen, die du für unseren Einsatz hier übernommen hast.« »Ich verabscheue diese Rolle aber! Wieso kann nicht ich der Lord sein und Sebastiano der Pferdeknecht?« Ich seufzte und fragte mich wieder mal, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, mit Sebastiano zusammen diese Zeitreise-Schule aufzumachen. Bis jetzt hatten wir erst zwei Schüler, Ole und Fatima, aber das ganze Projekt war eine echte Herausforderung. Vor allem mein Job als Lehrerin. Manchmal kam ich mir vor wie das Fräulein Rottenmeier der Zeitreisenden. Es widerstrebte mir, den Besserwisser zu geben, auch wenn es oft nicht anders ging. »Erstens bist du kein Pferdeknecht, sondern ein Knappe«, korrigierte ich Ole. Ich sprach mit gedämpfter Stimme, darauf bedacht, dass niemand sonst mithören konnte. »Ein Knappe ist viel edler als ein Knecht, nämlich so eine Art Ritter-Anwärter. Zweitens wäre eine umgekehrte Rollenverteilung gar nicht glaubhaft, denn du bist jünger als Sebastiano. Drittens bist du noch in der Ausbildung, und Sebastiano und ich sind deine Lehrer. Wir bestimmen, wie die Einsätze ablaufen. Ich dachte, das wäre klar. Es ist doch klar, oder?« Ole gab ein widerstrebendes Grunzen von sich, das mit etwas Fantasie als Zustimmung durchging. Es war offensichtlich, dass ihm sein Part bei diesem Einsatz nicht behagte, aber wenn Sebastiano und ich es nicht schafften, unseren Schülern das kleine und große Einmaleins der Zeitreise-Regeln beizubringen, konnte das für uns alle lebensgefährlich werden. »Was habe ich dir über die Wahrnehmung von Sprache in anderen Epochen erklärt?«, fuhr ich fort. Kleine praktische Übungen 67

zwischendurch konnten schließlich nicht schaden, erst recht nicht, wenn sie sozusagen direkt vor Ort stattfanden, so wie auf diesem Maskenball am Hofe von Heinrich dem Achten im Jahr 1540. »Dass alles, was wir in Hörweite von Menschen anderer Epochen in unserer Muttersprache aussprechen, von diesen Menschen in ihrer eigenen Muttersprache verstanden wird«, leierte Ole gelangweilt herunter. Er rückte seine Maske zurecht, die genauso flaschengrün war wie sein Wams. »Und wenn wir Dinge aus der Zukunft erwähnen, die es in der Vergangenheit noch nicht gibt, werden die betreffenden Worte von ganz allein in Begriffe umgewandelt, die besser zu der Epoche passen, damit es den Menschen beim Zuhören nicht seltsam vorkommt. Zum Beispiel das Wort … Ferrari.« Er sah sich herausfordernd um. Seine Worte waren in dem Stimmengewirr und der Musik um uns herum untergegangen. »Ferrari«, wiederholte er etwas lauter. Offensichtlich hatte es auch diesmal niemand mitbekommen, denn sonst wäre es automatisch in einen zur Epoche passenden Begriff umgewandelt worden. Und dann brüllte Ole plötzlich ohne jede Vorwarnung: »Achtspänner!« Ich zuckte erschrocken zusammen. Diverse Köpfe fuhren zu uns herum. Ein Mann neben uns ließ seinen Trinkpokal fallen. Eine Frau stieß einen leisen Schreckensschrei aus und griff sich an die Brust. Keine Frage, diesmal hatten es alle mitgekriegt. Ole grinste zufrieden. Seine blauen Augen blitzten durch die Sehschlitze der Maske. »Die Wortumwandlung hat funktioniert«, stellte er überflüssigerweise fest. Dann spähte er irritiert zur königlichen Tafel hinüber. »Ich sehe Fatima. Sie steht am Tisch von König Heinrich.« »Wirklich?«, fragte ich besorgt. »Was tut sie da? Sie sollte sich doch im Hintergrund halten!« Kurzentschlossen schob ich mich durch das dichte Gedränge und kämpfte mich unter 68

Einsatz meiner Ellbogen in Richtung des Königs vor. Die ersten Gäste hatten angefangen, sich zum Tanz zu formieren, wodurch sich die Menge ein wenig auflockerte. Heerscharen von Dienern servierten reihum Wein, den die Gäste sich hinter die Binde gossen, als gäbe es kein Morgen. Keine Frage, Heinrich verstand sich aufs Feiern, auch wenn er wegen seines Gesundheitszustands und extremen Übergewichts nicht mehr selbst das Tanzbein schwingen konnte und deshalb lieber zuschaute. Halb entsetzt, halb mitleidsvoll sah ich beim Näherkommen, was Ole mit Walross gemeint hatte. Der König sah aus wie ein sitzender Fleischberg in Samt und Seide. Fettwülste quollen an den Rändern der Maske hervor, die seine Augenpartie bedeckte, und das Wams aus kostbarem Brokat spannte über seinem aufgedunsenen Oberkörper, obwohl es sicher von einem Meisterschneider genau nach Maß gefertigt worden war – Heinrich wuchs vermutlich schneller aus jedem neuen Outfit heraus, als man ihm die nächste Garnitur nähen konnte, weil er sich den ganzen Tag ohne Sinn und Verstand mit Essen vollstopfte. So wie auf dieser Feier. Er futterte immer noch, während sein Hofstaat bereits die Tanzfläche bevölkerte. Gerade spießte er mit seinem Essdolch ein Stück Fasan auf, tunkte es in Soße und verschlang es, wobei ihm das Bratenfett in den Bart lief und vom Doppelkinn herab auf seine speckigen Finger tropfte. Ein Diener flitzte von der Seite heran und legte ihm sofort ein neues Stück Fleisch vor, diesmal ein Kotelett von der Größe eines Tischtennisschlägers. Heinrich machte sich unverzüglich darüber her. Die Männer und Frauen, die mit ihm am Tisch saßen, hatten ebenfalls noch Essen auf ihren Speisebrettern liegen, aber sie pickten nur darin herum – wahrscheinlich aus reiner Höflichkeit und um ihren Herrscher nicht zu brüskieren, indem sie ihn allein vor sich hin mampfen ließen, während sie längst 69

satt waren. Fatima stand am Rand des Podests, direkt gegenüber vom König. Ohne Maske, mit offen herabwallenden schwarzen Locken und einem extrem weit ausgeschnittenen Kleid sah sie aus wie die personifizierte Sünde. Und als wäre das noch nicht genug, klimperte sie auch noch kokett mit den Wimpern. Ich war sofort in Alarmstimmung. »Sag Uns, wer du bist, Mädchen«, hörte ich Heinrich mit vollen Backen zu Fatima sagen, als ich mich möglichst unauffällig von der Seite an sie heranschob. »Ich bin nur eine bescheidene Zofe, Euer Majestät«, säuselte sie mit zuckersüßer Stimme. »Wessen Zofe, du hübsches Kind?« »Meine.« Ich trat drei Schritte vor und stellte mich vor Fatima, als könnte ich damit verhindern, dass der König sie anstarrte. »Und wer seid Ihr, werte Dame?« Heinrich griff nach seinem schweren Pokal und trank ihn gluckernd leer. Er ließ einen dröhnenden Rülpser hören, ehe er weitersprach. »Verzeiht Uns, dass Wir Euch nicht erkennen. Gehört Ihr zu den fünfhundert Gästen oder zum Hofstaat?« »Zu den Gästen, Euer Majestät. Ich bin Lady Anne, die Gattin von Lord Sebastian Foscary.« Bei diesen Worten versank ich in einen formvollendeten Hofknicks, richtete mich aber blitzartig wieder auf, um zu verhindern, dass Heinrich zu viel von Fatima zu sehen bekam. Mir war klar, dass sie exakt in sein Beuteschema fiel. Obwohl er nicht mehr der Jüngste war, ließ er nichts anbrennen. »Hm, Foscary, das sagt Uns gar nichts«, erwiderte der König zerstreut, während er versuchte, um mich herumzusehen, um Fatima genauer in Augenschein nehmen zu können. »Die Familie meines Gatten stammt aus Essex«, behaupte70

te ich, inständig hoffend, dass Heinrich das nicht weiter hinterfragte. Sebastiano und ich hatten unsere Legende nicht besonders gut ausgearbeitet, denn für diesen Einsatz war nicht einkalkuliert worden, von dem König in ein Frage- und Antwort-Spiel verstrickt zu werden. Alles, was ich bisher über uns erzählt hatte, war erstunken und erlogen. Oder wenigstens zurechtgebogen. In Wahrheit war ich Anna Berg aus Frankfurt. Sebastiano hieß Foscari und war waschechter Venezianer, und verheiratet waren wir auch nicht. Jedenfalls noch nicht. Irgendwann demnächst würden wir das bestimmt nachholen. Sobald wir etwas zur Ruhe kamen und mehr Zeit für solche Dinge hatten. Aber Heinrich interessierte sich gar nicht für meinen persönlichen Hintergrund. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich auch einfach stumm durch die nächstbeste Tür verschwinden können. Seine gesamte Aufmerksamkeit richtete sich auf Fatima. Er verschlang sie geradezu mit seinen Blicken, und man brauchte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, was ihm durch den Kopf ging. Er war gerade dabei, seine aktuelle Ehefrau auszusortieren, weil sie ihm zu verbraucht und zu hässlich war. Die arme Person – zufällig eine Namensvetterin von mir, sie hieß ebenfalls Anna – war gerade mal halb so alt wie er, nämlich fünfundzwanzig, und er würde sich in Kürze von ihr scheiden lassen. Als Nächstes würde er die siebzehnjährige Catherine Howard heiraten, eine Hofdame, die sicherlich auch irgendwo hier im Saal herumschwirrte. Fatima war ebenfalls erst siebzehn. Ich konnte unmöglich zulassen, dass der König sie zu seinem Spielzeug machte. Oder, wenn man es realistisch betrachtete, sie ihn zu ihrem. Sie stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert und war die Favoritin eines mächtigen Sultans gewesen, bevor Sebastiano und ich sie aus dem Harem befreit und vom alten Konstantinopel 71

in das Venedig der Gegenwart gebracht hatten. Nach unseren Rechtsvorstellungen war sie minderjährig und musste daher vor einem zudringlichen Lüstling wie Heinrich beschützt werden. Doch zugleich war sie als ehemalige Haremsdame mit allen Wassern gewaschen und hatte einen der mächtigsten Männer ihrer Zeit um den Finger gewickelt. Mir war es noch nicht so richtig gelungen, mit diesem seltsamen Widerspruch klarzukommen. Fatima hätte vom Alter her meine kleine Schwester sein können, und dementsprechend hatte ich oft das Gefühl, mich um sie kümmern und sie behüten zu müssen, aber gleichzeitig war sie mir in gewissen Belangen eindeutig voraus. Sie hatte bereits in ihrer frühen Jugend Haremserfahrungen gesammelt, über die ich gar nicht erst genauer nachdenken wollte. Wenn sie es darauf anlegte, wirkte sie auf Männer wie eine Fackel, an die nur jemand ein Streichholz halten musste, um sie lichterloh zum Brennen zu bringen. Mit dem Effekt, dass sie auf Typen aller Altersklassen eine geradezu magische Anziehungskraft ausübte. »Woher stammst du, schönes Kind?«, wollte Heinrich von Fatima wissen. »Du hast aus Unserer Sicht mehr von einer orientalischen Orchidee als von einer englischen Rose.« Unvermittelt hörte er auf, von sich selbst im Pluralis Majestatis zu sprechen und wurde persönlicher. »Ich finde dich ausgesprochen liebreizend.« Damit rannte er bei Fatima offene Türen ein. Sie ließ sich für ihr Leben gern Komplimente machen. Mit einem gekonnten Augenaufschlag blickte sie zu Heinrich auf. »Ich stamme tatsächlich aus dem Orient, Euer Majestät. Mein Vater war ein Kaufmann von der Schwarzmeerküste.« »Wie hat es dich von dort in die Dienste von Lady Foscary verschlagen?« »Meine Lady und mein Lord retteten mich einst aus den 72

Fängen eines grausamen Sklavenhändlers.« Das war nicht mal gelogen. Nachdem Fatima bei dem Sultan in Ungnade gefallen war, hatte er seinem Chef-Eunuchen befohlen, sie meistbietend als Konkubine zu verschachern. Sebastiano und ich hatten sie gerade noch davor bewahren können, an einen neuen Besitzer ausgeliefert zu werden, über den man sich in Konstantinopel wesentlich schlimmere Dinge erzählte als über ihren bisherigen Herrn. Heinrichs Interesse an Fatima wuchs. Meine Besorgnis auch. Allmählich wurde ich nervös. Das Ganze entwickelte sich in eine sehr ungute Richtung. Wo um alles in der Welt blieb Sebastiano bloß? Auch wenn er mal dringend ein gewisses Örtchen hätte aufsuchen müssen, konnte er dafür doch unmöglich so lange brauchen! Vor allem nicht ausgerechnet jetzt! Er war schon seit mindestens zehn Minuten weg! Ich kramte meine Taschenuhr aus den Tiefen meines Samtbeutels, den ich ganz nach Sitte der Tudorzeit am Gürtel trug. Die Uhr war ein wertvolles Stück aus dem Fundus unserer Requisiten, die uns für unsere Zeitreise-Einsätze zur Verfügung standen – ein Meisterwerk deutscher Handwerkskunst, eigenhändig gefertigt von Peter Henlein, dem berühmten Uhrmacher aus Nürnberg. Und sie ging sehr genau, davon hatte ich mich vor dem Einsatz überzeugt. Bloß noch fünf Minuten bis zum Attentat! Verschreckt sah ich mich um und registrierte nur noch am Rande, dass Heinrich gerade anfing, Fatima mit Komplimenten über ihre strahlenden Augen und ihre schönen Zähne zu überhäufen. Was sollte ich denn um Himmels willen jetzt tun? Vor lauter Nervosität biss ich mir auf die Fingerknöchel. Wir wussten nicht, wer der Attentäter war, also konnten wir bloß warten, bis er in Erscheinung trat. Irgendeiner von den Hunderten maskierten Männern hier im Saal musste es sein. Und 73

praktisch jeder von ihnen kam in Frage. Immerhin waren wir im Bilde darüber, gegen wen sich der Anschlag richtete – nicht etwa gegen Heinrich (obwohl das nahegelegen hätte, denn es gab jede Menge Leute, die ihn nicht leiden konnten), sondern gegen einen seiner Berater, einen gewissen Lord Wykes. Lord Wykes war ein freundlich wirkender, weißbärtiger älterer Herr. Er saß ziemlich weit außen am Tisch. Unser Auftrag lautete, ihn zu retten. Der Attentäter, wer immer es war, würde versuchen, ihn hinterrücks zu erstechen. Den Grund dafür kannten wir nicht, wir wussten nur, dass es passieren würde und dass der Lauf der Zeit dadurch ins Wanken geraten konnte. Das hatten wir in unserem magischen Spiegel gesehen, der den Beginn möglicher gefährlicher Kausalverläufe zeigte – gewissermaßen historische Knotenpunkte, an denen sich die Zeit aufspalten und eine falsche Richtung nehmen konnte. Manche dieser Ereignisse erschienen auf den ersten Blick unwichtig, aber sie konnten die Zukunft so nachhaltig verändern, dass sie instabil wurde – mit anderen Worten, die Welt, wie wir sie in unserer Gegenwart kannten, würde in dieser Form nicht mehr existieren. Wir selbst würden vielleicht nicht mehr existieren. Länder bekämen andere Grenzen, Völker andere Herrscher, die Geschichte nähme einen komplett anderen Verlauf, womöglich bis hin zur völligen Auflösung der Zeit selbst. Dieses bedrohliche finale Chaos nannte sich Entropie, und es war unser Job, das zu verhindern. Das Attentat auf Lord Wykes war so ein Ereignis, das in eine Entropie münden konnte. Der Spiegel hatte es uns gezeigt. Dieser Einsatz war folglich wirklich wichtig. Und die einzige Stelle, an der wir laut der Vorhersage steuernd eingreifen konnten, war der Zeitpunkt des Angriffs. Nicht früher und nicht später, sondern – ich sah noch mal auf die Uhr – in exakt zweieinhalb Minuten. 74

Und Sebastiano war nicht da. Während mir all das zusammenhanglos durch den Kopf schoss, drehte ich mich Hilfe suchend zu Ole um, der die ganze Zeit ein paar Meter entfernt von mir dagestanden und den König nicht aus den Augen gelassen hatte. Beinahe hatte ich den Eindruck, dass er Heinrich gern zu einem Zweikampf herausgefordert hätte. Am liebsten mit Schwertern. Oder genauer: mit dem großen, handgeschmiedeten Bidenhänder, der einzigen Waffe, die ein richtiger Mann seiner Meinung nach im Kampf benutzen sollte. Abgesehen vielleicht noch von der doppelten Streitaxt, messerscharf geschliffen und ebenso gut im Nahkampf wie als Wurfwaffe verwendbar. Aber natürlich hatte er auf diesem Einsatz nichts dergleichen dabei. Er trug nicht mal ein Kurzschwert oder einen Dolch am Gürtel. Sebastiano hatte gemeint, Ole sei noch nicht so weit. Nicht etwa, weil er mit diesen Waffen nicht umgehen könne, sondern weil er erst mal lernen müsse, in Krisensituationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Jetzt hatten wir eine Krisensituation, und mir wäre sehr viel wohler gewesen, wenn Ole eine Waffe dabeigehabt hätte, ob mit oder ohne kühlen Kopf. So wie es aussah, konnte nämlich momentan außer ihm niemand Lord Wykes vor dem Messerstecher beschützen, der sich – ich blickte erneut auf die Taschenuhr – in knapp zwei Minuten auf sein Opfer stürzen würde. Die Musiker stimmten ein schnelleres Stück an, zu dem die Leute eine Gaillarde tanzen konnten. In meinen Ohren klang die Renaissance-Musik immer ein bisschen eintönig, aber die Gäste im Saal fanden sie großartig, wie man an ihren erhitzten, fröhlichen Gesichtern und ihren schwungvollen Tanzbewegungen erkennen konnte. Meine Panik steigerte sich, als ich beobachtete, wie Lord Wykes sich von seinem Platz erhob und mit einer Verneigung 75

vor seinem Herrscher das Podest verließ. Nach ein paar Schritten schien ihm noch etwas einzufallen, und er ging zurück, um mit einem der Wachmänner zu sprechen, die im Hintergrund unweit des Durchgangs zu den Staatsgemächern postiert waren. Es war so weit. Nur noch eine Minute. Wir hatten keine Zeit mehr, auf Sebastianos Auftauchen zu warten. Unauffällig bewegte ich mich in Lord Wykes’ Richtung und gab Ole ein Zeichen, mir zu folgen. Irgendwie mussten wir das Problem gemeinsam lösen. Ole hatte den Ernst der Lage offenbar bereits begriffen und heftete sich unverzüglich an meine Fersen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Fatima vor Heinrich alle FlirtRegister zog, und auf einmal ahnte ich, dass sie nicht zufällig dort vorn am Podest stand und sich von ihm angraben ließ – es schien eher so, als wollte sie den König von dem ablenken, was hier gleich passieren würde. Gutes Mädchen. Ich sollte ihr vielleicht künftig einfach mehr zutrauen! »Ole«, flüsterte ich über die Schulter. »Fühlst du dich imstande, mit mir zusammen den Attentäter auch ohne Hieboder Stichwaffe unschädlich zu machen? Ich weiß, eigentlich wäre das Sebastianos Aufgabe. Schließlich hat er die beste Nahkampferfahrung, und du hast nur … äh, was hast du da?« Ole hatte soeben mit der größten Selbstverständlichkeit einen gigantischen Dolch aus seinem Stiefel gezogen und verbarg ihn in den Falten der ausladenden Pumphose, die er über den Seidenstrümpfen trug, während er mit lockeren Schritten auf Lord Wykes zuging. »Besser, du stellst dich an die Wand da drüben, Weib«, sagte er leise zu mir. »Dann bist du mir nicht im Weg, wenn ich den Killer aufschlitze. Ah, jetzt geht es los!« Bestürzt fuhr ich herum, doch ich sah auf den ersten Blick nur lauter beschwingt herumhopsende Höflinge. Ole musste jedoch von seiner erhöhten Warte aus irgendwas Verdäch76

tiges in der Menge entdeckt haben. Und dann ging plötzlich alles drunter und drüber. Irgendwo zwischen den Tanzenden ertönte ein ohrenbetäubender Knall wie von einem Chinaböller. Gleich darauf merkte ich, dass es wohl genau das gewesen war – beißender Qualm stieg auf, begleitet von dem schwefligen Gestank nach Schwarzpulver. Ein Ablenkungsmanöver!, dachte ich erschrocken, und dann stürzte auch schon mitten aus dem aufsteigenden Rauch eine dunkle Gestalt auf mich zu, ein Mann mit einer tief in die Stirn gezogenen Kappe und einer schwarzen Maske, die sein Gesicht bis zum Kinn verdeckte. Sein weit schwingender schwarzer Umhang reichte bis zum Knie, aber ich konnte trotzdem das Messer aufblitzen sehen, das er mit der rechten Hand umklammerte. Er rannte mit weiten Sprüngen an mir vorbei, und in dem Augenblick, als er sich mit mir auf einer Höhe befand, erfasste mich das absurde Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen. Ich dachte nicht weiter darüber nach, was zu tun war – ich streckte einfach aus einem spontanen Impuls heraus meinen Fuß vor und stellte ihm ein Bein. Der Attentäter fiel nicht hin, geriet aber ins Straucheln und ließ das Messer fallen. Um uns herum erhob sich wildes Geschrei. Ole hatte sich schützend vor Lord Wykes aufgebaut, den Dolch kampflustig vorgestreckt. Die Wachen stürzten zum König hin und umringten ihn. Im selben Augenblick krachte ein weiterer Böller, und der schwarz maskierte Mann war mit einem Mal von dicken weißen Rauchschwaden umgeben. Noch ein Ablenkungsmanöver! Der Schwefelgestank verschlug mir den Atem, der Rauch vernebelte meine Sicht und ließ mir die Tränen in die Augen schießen. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis ich wieder etwas erkennen konnte. Die Frauen in meiner unmittelbaren Umgebung waren kreischend zurückgewichen, einige klammerten sich in Todesangst anein77

ander. Weitere Wachen erschienen wie aus dem Nichts, mit drohend gereckten Spießen formierten sie sich und bildeten eine Barriere vor dem Thron des Herrschers. Der König wurde gerade wie ein riesiger Sack mit zwei nutzlos nachschleifenden Beinen von seinen Leibwachen in seine Gemächer geschleppt. Ein paar kühne Edelmänner kamen angerannt, offenbar in der Hoffnung, sich in einen Kampf stürzen zu können. Mit wildem Blick hielten sie nach dem Angreifer Ausschau. Ich blinzelte die Tränen weg und sah mich ebenfalls nach ihm um. Doch der maskierte Mann, dessen schattenhafte Umrisse ich eben noch inmitten einer dichten Wolke aus stinkendem Pulverdampf gesehen hatte, war spurlos verschwunden.

Als das ganze Chaos sich gelegt hatte, stand ich wie betäubt einfach nur da und versuchte zu begreifen, was mir vorhin beim Anblick des Mannes durch den Kopf gegangen war. Ich hatte nur seine Gestalt gesehen, seine Bewegungen, die Linien seines Kinns unter der Maske, aber trotzdem hatte ich das untrügliche Gefühl gehabt, ihn zu kennen. Wenn ich nicht ohne jeden Zweifel gewusst hätte, dass es völlig unmöglich war, hätte ich darauf wetten mögen, es wäre … Sebastiano. Sofort schüttelte ich nachdrücklich über mich und meine blühende Fantasie den Kopf. Der Typ vorhin war einfach nur ein mordwütiger Attentäter gewesen, was sonst. Inmitten der aufgeregt durcheinanderschnatternden Höflinge sammelte ich meine beiden Schützlinge ein. »Das habt ihr gut gemacht«, lobte ich Fatima und Ole. »Ihr habt ein Menschenleben und die Zukunft gerettet!« Rasch 78

schaute ich mich nach Lord Wykes um, aber er hatte den Saal zwischenzeitlich verlassen. Doch vor ein paar Sekunden hatte ich ihn noch gesehen, er war wohlauf und hatte den ganzen Tumult unbeschadet überstanden. Ole machte einen unzufriedenen Eindruck. »Ich hatte ja gar keine Gelegenheit, irgendwas zu tun! Warum hast du ihm ein Bein gestellt, Anna?« »Um ihn daran zu hindern, Lord Wykes zu töten.« »Hättest du ihn einfach weiterlaufen lassen, hätte ich ihm mein Messer in sein schwarzes Herz gerammt! Dann wäre er jetzt tot statt auf der Flucht!« »Schon klar«, stimmte ich zu. »Aber ganz ehrlich – wir ziehen es bei diesen Jobs immer vor, wenn keiner dabei sterben muss. Das solltest du dir merken, wenn du ein guter Beschützer werden willst.« Ich rieb mir die Augen, die immer noch von der Schwarzpulverexplosion brannten. »Woher hast du überhaupt den Dolch?« Anstelle einer Antwort zuckte Ole mit den Schultern, dann sah er sich mit einem albernen kleinen Grinsen um. »Ein Mann ohne Waffe ist wie ein Ferrari ohne Gaspedal.« Er konnte es ungehindert aussprechen. Die Leute im Saal waren vollauf damit beschäftigt, sich in lärmender Aufregung über den Zwischenfall auszutauschen, keiner konzentrierte sich auf uns  – der unkorrigierte Ferrari war der Beweis. Mit halbem Ohr belauschte ich die Gespräche der Menschen um uns herum. Anscheinend kam die Mehrheit der Anwesenden gerade zu dem Schluss, dass der ganze Vorfall nur eine Art witziger Streich gewesen sein konnte. Womöglich vom König selbst inszeniert. Früher hätte er, so vernahm ich aus dem Gewirr der Bemerkungen ringsum, ein ausgesprochenes Faible für solche Narreteien gehabt, womöglich sei er gerade im Begriff, seinen alten Sinn für Humor neu zu entdecken. 79

»Es war sehr geistesgegenwärtig von dir, den König von mir und Ole abzulenken«, sagte ich zu Fatima, die mit geröteten Wangen und funkelnden Augen in die Runde blickte. Sie wirkte aufgekratzt und hatte ersichtlich gute Laune. Die Gefahr schien sie richtiggehend belebt zu haben. »Ich habe nur das gemacht, was José mir aufgetragen hat«, sagte sie. Ich war erstaunt. »José ist hier im Schloss?« Fatima nickte. »Er winkte mich in den Gang hinaus und sagte, er habe eine wichtige Aufgabe für mich. Ich müsse dem König schöne Augen machen, damit ihm nicht auffällt, was sich an der anderen Seite des Saals tut.« »Das ist dir gut gelungen.« Nachdenklich runzelte ich die Stirn. Keiner von uns hatte gewusst, dass José auch hier sein würde. Er war sozusagen unser oberster Chef und einer von den sogenannten Alten. Mit alt meine ich richtig alt, also mehrere tausend Jahre. José entstammte einer Art Sternenvolk, das so gut wie ausgestorben war – abgesehen von einigen wenigen, die durch die Zeit streiften und gelegentlich Unheil stifteten. Und uns damit eine Menge Arbeit bescherten, weil es unsere Aufgabe war, ihre zerstörerischen Spielchen zu durchkreuzen, unter Anleitung von José – er war einer von den Guten. Er koordinierte unsere Zeitreisen. Außerdem kümmerte er sich in unserer neu gegründeten Zeitreise-Akademie in Venedig um den Bürokram und die historischen Archive, die Verwaltung und Beschaffung von Requisiten und die Planung unserer Einsätze. Nebenher beschäftigte er sich viel mit dem Feintuning und der Weiterentwicklung unserer erst vor Kurzem in Betrieb genommenen neuen Zeitmaschine, mit der wir wesentlich komfortabler durch die Epochen springen konnten als zuvor. Unterstützt wurde er dabei von unserem rothaarigen, sommersprossigen Physikgenie Jerry, mit dem unsere kleine 80

Akademie komplett war. »Oh, da ist die Königin!«, rief Fatima unvermittelt. »Ich muss unbedingt mit ihr reden!« Und schon lief sie los zu einer Gruppe vornehm gewandeter Damen, die an der Stirnseite des Saals tuschelnd die Köpfe zusammensteckten. Ich folgte Fatima und versuchte, das Schlimmste zu verhindern, doch ich kam zu spät: Fatima hatte schon losgelegt, als ich sie endlich eingeholt hatte. »Eure hochwohlgeborene Majestät.« Fatima führte einen anmutigen Hofknicks vor, exakt so, wie ich es ihr beigebracht hatte. Auch die Anrede hätte nicht höfischer und eleganter ausfallen können. Aber damit hörte es auch schon auf. »Ihr solltet einfach alles unterschreiben«, plapperte Fatima drauflos. »Dann kriegt Ihr die Vorzugsbehandlung bis an Euer Lebensende. Schlösser, Kleider, jede Menge Geld und so weiter. Die kleine Schlampe, die an Eurem Stuhl sägt, wird schon sehen, was sie davon hat.« Sie musterte die Hofdamen der Königin eine nach der anderen. »Ist es die da? Nein, die auf dem Bild sah anders aus. Aber egal. Unterschreibt einfach alles, dann passt es. Und geht nicht nach Deutschland zurück. In England habt ihr es viel besser. Alles klar so weit?« Sie starrte die verstört wirkende Königin an, die stocksteif dastand und stumm zurückstarrte. »Verzeiht, Euer Majestät, meine Zofe … Sie leidet manchmal an geistigen Aussetzern … schwere Kindheit … vom Pferd gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen  …«, mischte ich mich stammelnd ein. Ich packte Fatima am Arm und zerrte sie hinter mir her. Sie ließ sich mitziehen, rief aber über die Schulter zurück: »Die Reihenfolge sagt alles! Geschieden, geköpft, gestorben, ge…« An der Stelle versagte ihr gegen ihren Willen die Stimme. Sie brachte schlichtweg kein Wort mehr heraus. Das war einer 81

der Fälle, in denen die Sprachumwandlung nicht funktionieren konnte, denn hier ging es nicht bloß um Bezeichnungen für Dinge, die es erst in der Zukunft geben würde, sondern um künftige Ereignisse. Kein Zeitreisender konnte uneingeweihte Menschen aus der Vergangenheit über Geschehnisse in der Zukunft informieren. Es funktionierte einfach nicht. Dieses natürliche Hindernis nannten wir die Sperre. Den Spruch Geschieden, geköpft, gestorben, geschieden, geköpft, überlebt, der auf ziemlich drastische Weise die Schicksale von Heinrichs sechs Ehefrauen zusammenfasste, hatte Fatima nur bis zur Nummer vier aufsagen können, weil alles Nachfolgende in der Zukunft lag. »Na gut, ich kann’s ihr nicht sagen«, meinte Fatima wegwerfend. »Aber das Wichtigste hat sie mitgekriegt. Wahrscheinlich will sie eh die Scheidung. Sicher hat sie sich schon selber alles so ausgerechnet, sonst hätte die Sperre sowieso verhindert, dass ich es ihr sage. Aber ich dachte mir, sicher ist sicher.« Ich war außer mir vor Empörung. »Du bringst uns noch in Teufels Küche!« »Ich wollte doch nur ihr Bestes«, verteidigte Fatima sich. Sie löste sich aus meinem Griff und rieb sich den Arm. Ihre großen dunklen Augen füllten sich mit Tränen. »Du weißt ja nicht, wie es ist, als hilfloses Mädchen einem hässlichen, alten, fetten, jähzornigen Tyrannen ausgeliefert zu sein! Wie kann ich da nicht versuchen, das arme Ding zu unterstützen!« Ich war bestürzt. Natürlich, sie hatte ja ein ähnliches Schicksal erlitten wie die arme Königin. »Fatima, ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten. Ich weiß, dass du Schreckliches durchgemacht hast …« »Sie tut doch nur so«, meinte Ole, während er sich wieder zu uns gesellte. Er hatte sich ein Stück Braten von der Speisetafel geholt und verzehrte es mit Genuss. Wenn es irgendwo 82

was Leckeres zu essen gab, war er nicht zu halten, er verdrückte zu jeder Mahlzeit wahre Berge. Kauend fügte er hinzu: »Sie erprobt bloß ihre Schauspielkünste an dir.« »Was weißt du schon, du großer Ochse«, sagte Fatima schnippisch. Der jämmerliche Ausdruck war wie auf Knopfdruck von ihrem Gesicht verschwunden. Ole hatte sie anscheinend besser durchschaut als ich. Zutiefst entnervt wandte ich mich zum Gehen. »Stellt bitte mal für eine Viertelstunde keinen Blödsinn an, ja?« Ich wollte endlich nachsehen, wo Sebastiano steckte. Und mit José sprechen, sofern er sich noch in der Nähe aufhielt. Es musste einen Grund geben, warum er uns auf diese Feier gefolgt war. Von José war weit und breit nichts zu sehen, dafür lief ich im Durchgang zum Hof Sebastiano in die Arme. Mir entfuhr ein Seufzer der Erleichterung. »Gott sei Dank! Da bist du ja!« Ich konnte nicht umhin, ihn voller Liebe anzusehen. Er sah einfach großartig aus in diesem azurblauen Wams. Es hatte genau die Farbe seiner Augen. Die eleganten Strümpfe betonten seine strammen Waden, und der weiße Kragen hob seine gesunde Bräune hervor. Wenn Shakespeare, der in gut zwei Jahrzehnten auf die Welt kommen würde, je eine reale Vorlage für seinen Romeo brauchte, musste es eindeutig ein Mann wie Sebastiano sein. »Wo warst du die ganze Zeit?«, wollte ich wissen. Er verzog schmerzvoll das Gesicht. »Im Großen Haus der Erleichterung.« »Du warst auf dem Abtritt?«, fragte ich ungläubig. Eigentlich hatte ich Klo gesagt, aber irgendwer in der Nähe hörte unsere Unterhaltung mit, deshalb war der intergalaktische Translator angesprungen. (Natürlich war intergalaktischer Translator nur eine Fantasiebezeichnung, die ich mir schon vor Jahren 83

für diesen seltsamen, allen Zeitreisen anhaftenden Umwandlungs- und Übersetzungseffekt ausgedacht hatte; einen richtigen Fachausdruck gab es gar nicht dafür.) Die dumme Frage hätte ich mir auch sparen können, zumal sie ohnehin rein rhetorisch gewesen war. Ich wusste ja, dass es sich bei dem sogenannten Großen Haus der Erleichterung um das königliche Klo handelte. Hampton Court Palace – so hieß das Schloss, es war Heinrichs Lieblingsresidenz – verfügte über das ultimative Hygiene-Highlight dieser Epoche: richtige, wassergespülte Klosetts. Heinrich hatte an nichts gespart. Für seine Gäste nur das Beste. Der Nachteil war, dass es nur achtundzwanzig von diesen Toiletten gab – für einen Hofstaat von rund tausend Leuten zuzüglich ein paar hundert ständig wechselnder Gäste nicht gerade die Optimalausstattung, weshalb die meisten Schlossbewohner weiterhin mit ihren Nachttöpfen vorliebnehmen mussten. »Hättest du nicht einfach diesen Stuhl mit dem Deckel bei uns auf dem Zimmer benutzen können?«, fragte ich, diesmal deutlich leiser, für den Fall, dass aufmerksame Zuhörer in der Nähe waren. »Der war auf einmal nicht mehr da. Die Dienerschaft muss ihn weggeräumt haben. Also den Topf. Nicht den Stuhl, der stand noch da. Aber ohne Topf … Nun ja. Es war dringend, ich muss was Schlechtes gegessen oder getrunken haben. Außerdem wollte ich mir diese Wassertoiletten sowieso gerne mal ansehen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass mir beim Verlassen des Örtchens jemand eins überziehen würde.« »Du wurdest niedergeschlagen?«, rief ich entsetzt. »Pst, nicht so laut, wer weiß, was für Gestalten sich hier herumtreiben!« Sebastiano sah sich nach allen Seiten um, dann legte er den Arm um mich und zog mich in einen Arkadengang, der einen von Fackeln erleuchteten Hof umschloss. »Erzähl 84

mir erst mal rasch, wie es gelaufen ist. Seid ihr allein mit dem Attentäter fertiggeworden?« »Ja, zum Glück. Ich konnte ihm ein Bein stellen, als er auf Lord Wykes losgehen wollte. Er zündete dann zur Ablenkung eine Ladung Schwarzpulver und haute ab, aber wenigstens ist Lord Wykes nichts passiert.« Voller Sorge blickte ich ihn an. »Wer hat dich niedergeschlagen? Und warum?« »Keine Ahnung. Ich wünschte, ich wüsste es. Konntest du wenigstens sehen, wer der Attentäter war?« »Nein, er trug eine Maske.« Zögernd fuhr ich fort: »Es hört sich jetzt sicher total verrückt an, aber für eine Sekunde dachte ich, du wärst es.« Sebastiano sah mich erstaunt an, dann lachte er ungläubig. »Du meinst, der Kerl sah aus wie ich?« »Ich dachte nicht, dass er aussieht wie du. Sondern dass du es selbst wärst. Dabei war wirklich kaum was von dem Mann zu sehen. Es war nur … so ein Eindruck. Also eher so ein Gefühl.« Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Es war einfach nur ein Typ von deiner Größe und Statur. Anscheinend habe ich ein bisschen überkompensiert, weil ich mir so intensiv gewünscht hatte, dass du endlich auftauchst.« »Schöne Wunscherfüllung, wenn ich auf einmal in Gestalt des Attentäters erscheine«, meinte Sebastiano trocken. »Wobei nicht außer Acht gelassen werden sollte, dass ich die ganze Zeit über bewusstlos vor dem Großen Haus der Erleichterung auf dem Pflaster gelegen habe. Wo ich wahrscheinlich immer noch liegen würde, wenn mich nicht ein unfreundlicher Edelmann mit einem Tritt in die Seite geweckt hätte. Er dachte, ich hätte einen über den Durst getrunken. Jetzt weiß ich nicht, welche Prellung mir mehr wehtut. Die oder die hier.« Er rieb sich zuerst die Rippen und dann den Hinterkopf. Dabei verzog er erneut schmerzvoll das Gesicht. »Ich glaube, mein Schädel 85

gewinnt. Ob sie drüben im Küchentrakt ein bisschen Eis zum Kühlen haben?« In den Kellergewölben des Schlosses gab es sicher welches. Schon in frühen Jahrhunderten hatte man im Winter das Eis von Seen und Teichen gehackt und es dick mit Stroh umwickelt in kühlen Kellerräumen aufbewahrt, sogar bis in den Sommer hinein. »Ich könnte mich rasch erkundigen«, schlug ich vor. »Nein, das war nicht ernst gemeint.« Er grinste ein wenig kläglich. »Ich werd’s schon überstehen, ist ja nicht die erste Beule.« Damit hatte er leider recht. Bei unseren vorangegangenen Abenteuern hatte Sebastiano schon schlimme Verletzungen davongetragen. Vor nicht allzu langer Zeit war er während eines Einsatzes in London im Jahr 1813 während eines Duells angeschossen worden. Ich hatte ernstlich um sein Leben bangen müssen, weil Mr Fitzjohn – ein durchtriebener Erzschurke und ebenfalls einer von den Alten – sämtliche Zeitportale zerstört hatte und wir deswegen in der Vergangenheit festsaßen. Ohne Antibiotika und professionelle ärztliche Erstversorgung wurde in früheren Epochen unweigerlich aus jeder gefährlichen Wunde eine Angelegenheit auf Leben und Tod. Nicht mal José hatte uns in dieser Situation aus der Klemme helfen können. Sebastiano beugte sich zu mir herunter und küsste mich auf die Nasenspitze. »Einen Penny für deine Gedanken.« »Ich dachte gerade an José. Wusstest du, dass er hier ist?« »Nein«, sagte Sebastiano überrascht. »Seit wann denn?« »Keine Ahnung.« Verwundert hielt ich inne. »Oh, sieh nur, da ist er ja!« Ich blickte über Sebastianos Schulter hinweg. Am Ende des Arkadengangs stand José. Er nickte uns sorgenvoll zu, als wir näher kamen. »Mit dir haben wir hier ehrlich gesagt nicht gerechnet«, 86

meinte Sebastiano. »Ist irgendwas passiert?« »Ach, bloß ein paar unvorhersehbare Turbulenzen in der Zeit«, erwiderte José vage. »Ich habe aber alles im Griff.« Sein Gesicht mit der schwarzen Augenklappe wirkte im flackernden Schein der Fackeln beinahe dämonisch. Bei Tageslicht hätte ihn jeder einfach nur für einen einäugigen alten Mann gehalten, schmächtig und nicht besonders groß. Keiner wäre auf den Gedanken gekommen, dass er bereits länger lebte als jeder andere sterbliche Mensch. Zur Zeit der spanischen Inquisition hatte er sich einen klangvollen Namen zugelegt – er nannte sich José Marinero de la Embarcación. Er hatte so seine Geheimnisse und erzählte uns längst nicht alles, was er wusste oder plante. Nach und nach war ich dahintergekommen, dass er uns nicht aus Schikane über manche Dinge im Unklaren ließ, sondern weil er damit gewährleisten wollte, dass wir unsere Aufgaben als Zeitwächter besser erfüllen konnten. Jerry, unser Physik- und Mathe-Genie, hatte uns erklärt, dass es irgendwelche hochkomplizierten Algorithmen gebe, nach denen der Erfolg einer Mission in manchen Fällen wahrscheinlicher sei, wenn die damit betrauten Zeitwächter nicht alle Risiken kannten. Jerry hatte mir sogar seine Berechnungen dazu gezeigt. Nicht, dass ich sie verstanden hätte  – bei mir befand sich dort, wo andere Menschen ein natürliches Mindestmaß an mathematischem oder physikalischem Grundverständnis aufwiesen, nur so eine Art Schwarzes Loch. Es gibt sogar ein Fachwort dafür: Dyskalkulie. In meiner Schulzeit war es mir peinlich gewesen, ständig mit schlechten Mathenoten nach Hause zu kommen – kein Wunder, meine Mutter war eine ziemlich bekannte Physikprofessorin und der Ansicht, dass sämtliche Gesetze der Genetik in meinem Fall versagt haben mussten, mit der Ausnahme, dass ich ihre hellen Haare und ihre zierliche Gestalt geerbt hat87

te. Mein Vater hatte das oft tröstend zu relativieren versucht, etwa mit dem Argument, dass meine Begabungen halt woanders lägen – unter anderem hätte ich doch immer sehr schöne Deutschaufsätze geschrieben und außerdem eine rasche Auffassungsgabe beim Erlernen von Fremdsprachen. Davon abgesehen besaß ich noch andere Begabungen, von denen meine Eltern allerdings nie etwas erfahren würden. Dass ich ständig in die Vergangenheit reiste, um gefährliche Abweichungen im Kausalverlauf zu verhindern, konnte ich ihnen nicht erzählen – die Sperre verhinderte es ebenso zuverlässig, wie sie dafür sorgte, dass man uneingeweihten Menschen in der Vergangenheit nichts über die Zukunft verraten konnte. Und Sebastiano und ich konnten nicht etwa eigenmächtig bestimmen, wer zu den Eingeweihten gehörte, weil die Betreffenden dazu eine gewisse Veranlagung mitbringen mussten. Manche Menschen konnten durch die Zeit reisen oder die Zeitreisenden in den jeweiligen Epochen vor Ort unterstützen, doch wer sich für den Job als Zeitwächter oder Gehilfe eignete, blieb Josés Geheimnis. Er teilte uns lediglich mit, wen wir als Schüler für unsere Zeitreise-Akademie rekrutieren sollten, und er regelte auch, wer als Helfer an unseren jeweiligen Zielorten auf uns wartete und sich dort um Dinge wie Unterbringung, Begleitschutz und dergleichen kümmerte. Nur eine Sache war sonnenklar: Die gefährlichen Störungen im Zeitgefüge kamen nur selten von allein zustande. Meist beruhten sie auf absichtlichen Manipulationen der Alten. Ein versprengtes Häuflein dieses prähistorischen Volkes aus einer längst zu Sternenstaub zerfallenen Galaxie hatte sich vor vielen Jahrhunderten auf der Erde angesiedelt und trieb sein Spiel mit der Zeit. Das war durchaus wörtlich zu verstehen – diese Alten betrachteten einzelne Epochen als ihre Beute und bewegten sich durch die Zeit wie auf einem unendlich großen 88

Spielfeld. Immer wieder versuchte einer von ihnen, sich ein Stück der Zeit als Trophäe herauszuschneiden, ohne Rücksicht darauf, ob dabei das Große und Ganze in Gefahr geriet. Es war ihr Sport und ihr Hobby. Manche von ihnen wurden auch von unerbittlichen Feindschaften angetrieben, die sie untereinander hegten. Um ihre Fehden zu befeuern, scheuten sie sich nicht, rücksichtslos das Leben vieler Menschen sowie deren Zukunft aufs Spiel zu setzen – im wahrsten Sinne des Wortes. »Ich wurde hinterrücks niedergeschlagen«, erklärte Sebastiano ohne Umschweife. »Außerdem denke ich, dass mir jemand ein Abführmittel ins Essen oder in den Wein gemischt und vorsorglich in Annas und meinem Gemach den Nachttopf weggeräumt hat, damit ich das Große Haus der Erleichterung aufsuche, wo der Betreffende mir dann auflauerte. Jemand wollte wohl sicherstellen, dass ich das Attentat nicht verhindere.« José wirkte nicht sonderlich überrascht. »Ich sagte ja, es gab ein paar Turbulenzen in der Zeit«, sagte er. »Hättest du denn nicht verhindern können, dass Sebastiano niedergeschlagen wird?«, wollte ich wissen. »Ich tat das, was der Situation am angemessensten war«, meinte José nur lapidar. »Außerdem bin ich hier, um euch darüber zu informieren, dass es einen neuen Schüler gibt. Er heißt Walter, ist fünfzehn Jahre alt und der Enkel von Lord Wykes. Ihr habt bis morgen Vormittag Zeit, ihn auf seine neue Aufgabe vorzubereiten, dann geht es zurück in die Gegenwart. Gemeinsam mit Walter Wykes.« »Hat dieser Walter Wykes denn schon eine Ahnung, was ihn erwartet?«, erkundigte ich mich vorsorglich. »Du meinst, ob ich ihm gegenüber bereits angedeutet habe, dass er demnächst als Schüler einer Zeitreise-Akademie in der Zukunft leben wird?« José zwinkerte mit seinem gesunden 89

Auge, er wirkte leicht amüsiert. »Ich fürchte, das werdet ihr ihm erklären müssen. Leider muss ich kurzfristig weiter. Ich hole euch morgen um elf Uhr Ortszeit mit der Zeitmaschine ab. Wir treffen uns an der Stelle wieder, wo ich euch heute abgesetzt habe.« Und damit drehte er sich um und verschwand mit schnellen Schritten in den Schatten der Arkaden. »Wir sollten diesen Walter Wykes suchen«, sagte ich. »Wenn er schon morgen früh mit uns kommen soll, bleibt uns nicht mehr viel Zeit, ihm alles zu erklären. Und ich muss dringend nach Fatima und Ole sehen, bevor die beiden wieder irgendwelchen Unfug anstellen.« »Gleich«, sagte Sebastiano. »Vorher haben wir noch was Wichtiges zu erledigen.« Er fasste mich bei der Hand und zog mich tiefer in die Schatten hinein, dorthin, wo kein Fackellicht die dunklen Ecken des Hofs erhellte. »Hier«, sagte er. »Das ist genau die richtige Stelle.« »Wofür denn?«, fragte ich ein wenig verwirrt. »Für das hier«, meinte er. Und dann zog er mich in seine Arme und küsste mich.

Unser Gehilfe vor Ort hieß Archibald Cuthbert und war die rechte Hand des Hofmarschalls. Er war um die vierzig und sah aus wie eine Kreuzung aus Bestattungsunternehmer und Severus Snape beziehungsweise dem Schauspieler, der Snape spielte. Sein strähniges dunkles Haar umrahmte ein düsteres Gesicht mit einer vorspringenden Nase, und die meiste Zeit machte er eine Miene, als würde er lieber sterben, als aus Ver90

sehen zu lächeln. Trotz der ihn umgebenden Melancholie hatte er sich bisher als verlässlicher Helfer erwiesen. Er hatte uns als vermeintliche Adelsgäste bei Hofe eingeschleust und dafür gesorgt, dass wir strategisch günstig gelegene Gemächer erhielten. Ohne solche Gehilfen – wir nannten sie auch Boten – hätten wir es ziemlich schwer gehabt, in der Vergangenheit zurechtzukommen. Cuthbert war ein zuverlässiger und erfahrener Bote. Als Eingeweihter wusste er, dass wir Zeitreisende auf einer wichtigen Mission waren, auch wenn die Sperre verhinderte, dass wir ihm Details über die Zukunft verraten konnten. Wie fast alle unsere Gehilfen in früheren Epochen handelte er nicht nur aus reinem Idealismus, sondern verfolgte damit auch handfeste praktische Interessen – für seine loyale Unterstützung wurde er von José reichlich entlohnt, und sollten er oder seine Familie je in Not geraten, würde auch in diesem Fall für alles gesorgt. »Über Walter Wykes gibt es nicht viel zu sagen«, erklärte Cuthbert, als Sebastiano und ich ihn über den Jungen ausfragten, den wir als neuen Schüler rekrutieren sollten. »Es heißt, er liebt das Lesen. Bücher bedeuten ihm offenbar mehr als die Jagd.« »Das klingt doch schon mal positiv«, meinte ich. »Nun, in diesem Fall trifft diese Einschätzung zweifellos zu, denn auf der Jagd würde er gewiss vor Angst vom Pferd fallen und sich den Hals brechen. Walter gilt als ausgesprochener Hasenfuß.« Das klang schon weniger gut. Ein Hauch von Sorge machte sich in mir breit. Ängstlichkeit war nicht unbedingt eine wünschenswerte Eigenschaft, wenn es ums Zeitreisen ging. »Walters Großvater, Lord Arthur Wykes, ist einer der königlichen Berater«, fuhr Cuthbert fort. »Nicht der wichtigste, aber auch nicht so unwichtig wie manche andere. In der letzten Zeit 91

hält der König ihn jedoch auf Abstand. Es steht außer Frage, dass Lord Wykes’ Stern bei Hofe im Sinken begriffen ist, so ähnlich wie der von Cromwell. Ob und wann Wykes und Cromwell als Berater aber endgültig in Ungnade fallen, kann niemand sagen.« Er warf Sebastiano einen Blick zu. »Außer vielleicht Ihr, Mylord, da Ihr ja aus einer fernen Zukunft kommt und es wissen müsst.« Darauf ging Sebastiano nicht ein, denn die Sperre hätte es sowieso nicht zugelassen. Und Cuthbert schien es auch gar nicht zu erwarten, denn er blickte nur auf seine gewohnt düstere Weise vor sich hin. Als er den Namen Cromwell erwähnt hatte, war mir ein kleiner Gruselschauer über den Rücken gelaufen. Denn ich wusste ja, was besagtem Cromwell demnächst zustoßen würde – man würde dem armen Kerl, der dem König sein Leben lang treu gedient hatte, noch in diesem Sommer den Kopf abschlagen. Heinrich der Achte ließ nicht nur seine Ehefrauen köpfen, wenn er sauer auf sie war. Alle möglichen Leute, die sich bei ihm unbeliebt machten, fanden sich in Nullkommanichts auf dem Schafott wieder. Bis zum Ende seiner Regentschaft würde er es auf über siebzigtausend Hinrichtungen bringen. Seine blutrünstige und jähzornige Ader war auch ein Grund dafür, dass wir auf dieser Mission besonders gut auf uns aufpassen mussten. Heinrich war fast so cholerisch wie die Herzkönigin in Alice im Wunderland, die ständig »Kopf ab!« gerufen hatte, wenn ihr jemand nicht passte. »Master Cuthbert, könnt Ihr es bewerkstelligen, dass wir den jungen Walter Wykes so schnell wie möglich sprechen?«, erkundigte Sebastiano sich. »Ich weiß, dass es sehr spät ist, aber es ist unaufschiebbar.« »Selbstverständlich.« Cuthbert deutete eine Verbeugung an. »Ich werde ihn umgehend herholen.« Geräuschlos zog er sich 92

zurück und verließ den Raum. Es war schon nach Mitternacht. Das Feuer im Kamin unseres Gemachs war längst erloschen. Auf einem Wandbord brannte ein Leuchter mit acht Kerzen, die allerdings nicht besonders viel Licht spendeten und außerdem ziemlich penetrant qualmten und vor sich hin stanken. Im sechzehnten Jahrhundert war die Beleuchtung ein Kapitel für sich. Wenn man nicht ständig brennende Kerzen oder Fackeln dabeihatte, saß man schnell im Dunkeln. Cuthbert hatte uns zwei Kammern zugewiesen. In der kleineren übernachtete Fatima, in der anderen schliefen Sebastiano und ich. Ole nächtigte auf einem Strohsack im Stall, was auch der Grund dafür war, dass mein Versuch, seine Stellung ihm gegenüber ein bisschen aufzuwerten, nicht wirklich überzeugend rübergekommen war. Ob er sich nun Knappe oder Knecht nannte – unterm Strich machte es kaum einen Unterschied, denn es war in diesen alten Zeiten einfach üblich, dass die Diener, die sich um die Pferde kümmerten, in deren unmittelbarer Nähe ihr Nachtlager aufschlugen, damit sie nicht so weite Wege hatten. Dabei war es gar nicht die rustikale Umgebung, an der Ole sich störte; schließlich hatte er wie alle Wikinger im zehnten Jahrhundert in einem zugigen, dreckigen Langhaus zusammen mit Dutzenden ungewaschener Menschen auf einem Stapel flohverseuchter Felle geschlafen, nur durch ein paar Bretter von Kühen und sich im Schlamm suhlenden Schweinen getrennt. Ihm ging es bei der ganzen Sache eher darum, dass er auf keinen Fall irgendein sozialer Niemand sein wollte. Schließlich war er der Sohn eines Jarls, was hier bei Hofe so was wie ein Earl war, mindestens. Er fand daher, dass die Rolle, die er bei dieser Zeitreise innehatte, seinem Status nicht ausreichend gerecht wurde. Bevor wir uns vorhin eine gute Nacht 93

gewünscht hatten, hatte er Sebastiano noch einmal trotzig seine Meinung mitgeteilt. »Nicht genug, dass ich mir von einem Mädchen Befehle erteilen lassen muss, das mir kaum bis zur Schulter reicht und nur wenig älter ist als ich. Ich darf nicht einmal auf ehrenvolle Weise gegen einen Attentäter kämpfen.« Seine nächsten Worte hatten seine ganze Empörung zum Ausdruck gebracht. »Stattdessen muss ich zusehen, wie sie ihm ein Bein stellt und ihn damit vertreibt. Und anschließend muss ich wie hundert andere niedere Knechte im Heu nächtigen.« Nachdem er das losgeworden war, hatte er noch zusammenhanglos hinzugefügt: »Beim nächsten Einsatz will ich ein Ritter sein und meinen Bidenhänder tragen. Und eine Tapferkeitsmedaille an einem goldenen Band.« Was sollte man darauf noch sagen? Ich hegte die schwache Befürchtung, dass wir uns mit dem Enkel von Lord Wykes möglicherweise einen ähnlich schwierigen und launischen Kandidaten einhandelten. Sebastiano blätterte in einem der Folianten, die auf dem Wandbord standen – eine Rarität, die in diesen Jahren noch nicht häufig zu finden war: ein gedrucktes Buch. »Spannend?«, fragte ich. »Geht so. Ist ein Gedichtband. Stammt anscheinend vom König selber. Er hat ja früher viel gedichtet und komponiert.« Ich setzte mich auf den Rand unseres großen, mit Seidenvorhängen abgehängten Pfostenbettes und unterdrückte ein Gähnen. Wir hatten es am Hofe von Heinrich dem Achten ziemlich komfortabel. Der König hatte vor Jahren den Palast, der früher einem Erzbischof gehört hatte, aufwändig ausgebaut und saniert. Hier in Hampton Court war alles vom Feinsten, und das galt auch für den Service. Die Laken waren frisch gewaschen und geplättet, die Federbetten mit Daunen gefüllt, 94

und vor dem Fest hatten wir sogar ein Bad nehmen können, in einem funkelnagelneuen Holzzuber mit richtig heißem Wasser. Mehrere Hausknechte hatten in rascher Folge dutzendweise dampfende Eimer herangeschleppt, und die Zimmermädchen hatten für Handtücher und parfümierte Seife gesorgt. Personal gab es im Schloss in Hülle und Fülle. Hunderte von Dienstboten schwirrten ständig durch die Gänge und Gemächer und sorgten unermüdlich dafür, dass die Gäste und Höflinge des Königs es bequem hatten und nichts entbehren mussten. Meine Aufmachung war der Umgebung mehr als angemessen. Ich trug ein traumhaft schönes Samtkleid und eine dazu passende perlenbestickte kleine Haube im französischen Stil sowie anschmiegsame Pantöffelchen mit weichen Ledersohlen. Die Mode der Tudorzeit hatte wirklich was, man fühlte sich wie eine Prinzessin. Aber das Leben bei Hofe war auch gefährlich. Günstlingswirtschaft, Intrigen, Machtspiele – Heinrich war umgeben von ehrgeizigen, hinterhältigen Emporkömmlingen, die zu allem entschlossen waren, und er selbst war ein unberechenbarer Tyrann mit gefährlichen Stimmungsschwankungen. Kaum vorstellbar, dass dieser Fettkloß in seinen jüngeren Jahren ein attraktiver, sportlicher und vielseitig interessierter Mann gewesen war. Sebastiano unterbrach meine Gedanken. »Ob Cuthbert lange braucht, um diesen Walter herzubringen?« Er kam zum Bett, setzte sich neben mich und streichelte meinen Nacken. »Keine Ahnung.« Meine Stimme klang ein wenig atemlos, denn Sebastiano fing an, meinen Hals zu küssen. »Wir könnten die Wartezeit ja sinnvoll nutzen«, schlug er vor, während er mir die Haube abnahm und mit geschickten Fingern die Flechtfrisur auflöste, die Fatima mir vor dem Fest gemacht hatte. Das Flechten und Frisieren hatte sie im Ha95

rem gelernt, ebenso wie das kunstvolle Bemalen der Hände mit Henna. Mit solchen Verschönerungsmaßnahmen hatten sie und die anderen Haremsdamen sich in Ermangelung anderweitiger Abwechslung stundenlang die Zeit vertrieben. Das Leben einer Konkubine bestand laut Fatima zum größten Teil aus gähnender Langeweile. Da hatte ein Mädchen aus unserer Zeit es entschieden besser. Sebastiano schlang beide Arme um mich und zog mich an sich. Wie von allein gerieten wir in die Horizontale, und Sebastiano begann nach den Schnüren zu suchen, die mein Kleid zusammenhielten. Wir küssten uns voller Leidenschaft. Ich hatte das Gefühl, in seinen Armen zu Wachs zu zerfließen, und mein Herz fing an zu rasen. Obwohl wir nun schon so lange zusammen waren, konnte ich von seinen Zärtlichkeiten nie genug bekommen. Da klopfte es an der Tür. Mit einem frustrierten Stöhnen stand Sebastiano auf, um zu öffnen – und prallte erschrocken zurück, als er sah, wer draußen stand. Anscheinend war es jemand, den er nicht erwartet hatte.

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