(1) (PDF)

Engel gemalt! Blonde Locken umrahmten ein schmales eben- mäßiges Gesicht, lange dunkle Wimpern bogen sich über den geschlossenen Augen, der volle ...
89KB Größe 11 Downloads 1232 Ansichten
Cornelia Kuhnert

Tanz in den Tod

Cornelia Kuhnert

Tanz in den Tod Kriminalroman

zu Klampen!

Herausgegeben von Susanne Mischke

© 2009 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe [email protected] · www.zuklampen.de Umschlag: Angelika Konietzny (www.izwd.de) Satz: thielenVERLAGSBÜRO , Hannover Druck: CPI - Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-86674-052-5 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Vorwort Isernhagen und Burgdorf liegen im Nordosten Hannovers. Allerdings trennen diese beiden Orte zu meinem Bedauern mehr als nur ein, zwei Kilometer. Beide Orte sind mir jedoch besonders ans Herz gewachsen und die geografische Nähe im Roman entspricht meiner gefühlten. Den Isernhagenhof gibt es, genau wie das Kulturkaffee. Sie sind herzlich eingeladen, beide näher kennenzulernen. Die Personen und Charaktere sind jedoch frei erfunden und haben keine bewussten Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, wenn doch, dann ist das rein zufällig und ohne Absicht geschehen. Auch gab es nie eine Tote beim Tanz in den Mai, der seit Jahren von den Lions im Isernhagenhof veranstaltet wird und mit ungebrochener Begeisterung von den Bewohnern der umliegenden Orte angenommen wird – und denen ich an dieser Stelle für ihren ehrenamtlichen Einsatz danken möchte.

5

Todeswalzer »Lass mich los!«, zischte sie und fegte mit einer heftigen Handbewegung seinen Arm zur Seite, der sich besitzergreifend auf ihre Schulter gelegt hatte. Auf ihren hochhackigen Lackledersandaletten stolperte sie unsicher nach vorne. Sie kam nicht weit. Beim nächsten Schritt wurde sie ruckartig zurückgezogen, ohne dass sie begriff, was eigentlich passierte. Nur der stechende Schmerz, der ihr die Luft zum Atmen nahm, wurde immer stärker. Ärgerlich fasste sie sich an den Hals, drehte sich um und fauchte: »Hör auf, du …!« Der Seidenschal zog sich enger um ihren Hals und ein ersticktes Röcheln quälte sich aus ihrer Kehle. Sie schlug wild um sich, aber der Griff lockerte sich nicht. Im Gegenteil, die Schlinge zog sich fester zusammen. Panik machte sich in ihr breit. Für einen Moment meinte sie den kalten Schweiß, der sich unter ihren Nackenhaaren und auf der Stirn bildete, riechen zu können. Schlagartig war sie wieder nüchtern, doch die plötzliche Klarheit wurde augenblicklich von dem Schmerz in ihrer Kehle verdrängt, der wie eine Flutwelle anschwoll und sie mit bleierner Schwere überrollte. Aus jeder Faser ihres Körpers wich die Kraft, sogar ihre Gedanken erlahmten. Ungläubig stierte sie ihn an, fixierte seine starr auf ihr Gesicht gerichteten Augen und fühlte wie die glatte Oberfläche ihres Seidenschals sich immer tiefer in ihre Haut schnitt. Bevor der dumpfe Schmerz sie endgültig mit sich in einen schwarzen 7

Strudel hinabzog, entdeckte sie hinter der alten Linde einen Schatten. Da stand jemand. Verdammt, warum half der ihr nicht?

8

Freitag,1.Mai Das anschwellende Pfeifen des Telefons zerschnitt die nächtliche Stille. Blind tastete Max Beckmann nach dem winzigen Apparat auf dem Fußboden. »… tot? … ja … komme«, brummte er verschlafen in den Hörer und war im nächsten Moment mit einem Sprung aus dem Bett. »Wer war das?«, murmelte die Frau neben ihm und wickelte sich fester in ihre Decke ein. »Borgfeld. Eine Tote liegt auf dem Parkplatz in Isernhagen. Direkt hinter dem Isernhagenhof !« »Wieso ruft er dich an?« »Alte Anhänglichkeit! Ortsverbundenheit oder was weiß ich!« Zehn Minuten später saß Max Beckmann in der verbeulten Jeans vom Vortag, einem schwarzen Poloshirt, das eigentlich in die Wäsche gehört hätte, und der schnell übergeworfenen Lederjacke in seinem alten Volvo. Eine Tote in Isernhagen. Das würde den Leuten nicht gefallen. Wenig später bremste Beckmann und bog auf den Parkplatz des Isernhagenhofs ein, einer zum Kulturzentrum umgebauten Scheune. Die Blaulichter der Polizeifahrzeuge und des Krankenwagens zuckten grell im Dunkel. Kaum sah Borgfeld Beckmanns altersschwachen Volvo, stürzte er auf ihn zu. »Schön, dass Sie so schnell kommen konnten! Wir wussten nicht genau, was wir machen sollten, wollten keine Fehler machen, die aus Hannover … und Sie sind ja jetzt quasi einer 9

von uns«, stotterte er. Sein gewaltiger Bauch bebte bei jedem Wort unter seiner Uniformjacke, die um die Hüfte herum noch mehr spannte als im Herbst. Natürlich gab es Dienstwege, die man einhalten musste, das wussten sowohl Streuwald als auch Borgfeld. Aber anscheinend hatte die Erinnerung an die gute Zusammenarbeit seine Bedenken zur Seite gewischt. Und an Borgfelds ernstem Gesicht konnte Beckmann ablesen, dass er sich Sorgen machte. Große Sorgen. Was lag also näher, als ihn aus dem Bett zu klingeln, wenn eine Tote im Gebüsch lag? Dieser Logik seiner ehemaligen Kollegen Dieter Borgfeld und Walter Streuwald, mit denen er zusammen den Tod von Bürgermeister Leibelt vor ein paar Monaten aufgeklärt hatte, konnte er sich nicht entziehen. Dass er nach Aufhebung seiner Strafversetzung hier wohnen geblieben war, hatte ihm anscheinend ihren Respekt eingebracht. »Wo ist die …?« Beckmann hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Borgfeld ihn bereits hinter die eilig aufgehängten Absperrbänder schob und auf das Gebüsch deutete, aus dem zwei nackte Frauenbeine ragten, die in hochhackigen schwarzen Riemchensandaletten steckten. Der braun-weiß gemusterte Rock war bis zu den Oberschenkeln hochgeschoben, die Knie hatten braune Schmutzränder. Erde, vermutete Beckmann und ließ den Lichtkegel der Taschenlampe langsam weiter wandern. Die transparente weiße Bluse der Toten war verrutscht und erlaubte den Blick auf eine üppige weiße Brust in einem roten Spitzenbüstenhalter. Als der Strahl der Taschenlampe den Kopf erreichte, zuckte Beckmann zusam10

men. So hätten die alten Meister einen sanft schlummernden Engel gemalt! Blonde Locken umrahmten ein schmales ebenmäßiges Gesicht, lange dunkle Wimpern bogen sich über den geschlossenen Augen, der volle herzförmige Mund war leicht geöffnet, als wollte sie gleich im Schlaf seufzen. Ein friedliches Gesicht – nur der rotblaue ringförmige Abdruck an ihrem Hals störte. »Ein zufällig anwesender Arzt hat den Tod schon festgestellt, vermutlich ist sie erdrosselt worden. Die Unterhose fehlt, vielleicht wurde sie vergewaltigt. Die Mordbereitschaft und die Spurensicherung sind unterwegs, der Rechtsmediziner ebenfalls. Der Leichenwagen ist bestellt. Streuwald ist drinnen, er befragt alle!«, erklärte Borgfeld und starrte unentwegt auf Beckmanns Kopf. »Ist etwas?«, fragte dieser irritiert. »Ihre Haare …?« Beckmann strich sich über seinen Igelschnitt und fühlte an den Spitzen seiner zunehmend ergrauenden Haare kleine harte Klumpen, die er langsam abpulte. Sein rechter Mundwinkel zuckte, als er die weißen Sprenkel betrachtete. »Ich habe gestern Abend die Zimmerdecke bei …«, er zögerte einen kurzen Moment, »… einer Bekannten gestrichen!« Borgfeld verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Es stimmte also doch. Sein Kollege Walter Streuwald, mit dem er sich seit Jahren das Dienstzimmer teilte, hatte noch vor ein paar Tagen vehement bestritten, dass Beckmann und diese Journalistin von der Landkreisausgabe des Hannoverschen Anzeigers, Martha Landeck, etwas miteinander hatten. Borgfeld hatte gleich gewusst, dass an dem Gerücht etwas dran war. Kein Rauch ohne Feuer.

11

»Wer ist die schöne Tote mit dem Engelsgesicht?«, fragte Beckmann. »Äh?« Borgfeld setzte das gequälte Lächeln auf, mit dem er gerne Fehler jeder Art entschuldigte, auch mangelnde Aufmerksamkeit. »Wissen Sie, wer die Tote ist?« »Manuela Winter, wohnhaft in Hannover, 24 Jahre alt. Sie war den ganzen Abend hier. Zusammen mit fünfhundert anderen Gästen. Heute ist Tanz in den Mai. Sie wissen doch, diese Veranstaltung von den Lions.« Natürlich, seufzte Beckmann im Stillen, der Tanz in den Mai. Staunend hatte er zur Kenntnis genommen, dass der erste Mai hier seit Jahren ganz groß gefeiert wird, aber weder um den Tag der Arbeit zu ehren, noch um sich auf die kämpferischen Reden der Gewerkschaften am nächsten Tag einzustimmen. Genauso wenig hielt man nach auf Besen reitenden Hexen Ausschau und selbst auf das Aufstellen und den Raub des Maibaums verzichtete man hier. Hier traf man sich auf Einladung des Lions Clubs an diesem letzten Abend im April und feierte für einen guten Zweck. »Das ist ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem keiner fehlen möchte! Alle wollen dabei seien, sogar aus den umliegenden Ortschaften und aus Hannover kommen sie nach Isernhagen!«, hatte Martha Landeck dem verwunderten Beckmann vor ein paar Wochen erklärt und gleichzeitig den Kopf geschüttelt, als er sie fragte, ob sie mit ihm dorthin gehen wollte. Sie sei kein Freund solcher Tanzveranstaltungen, hatte sie gemurmelt und das Thema gewechselt, wie sie es häufiger machte, wenn sie über etwas nicht weiterreden wollte. Trotzdem musste Martha gestern Abend zum Fotografieren in den Isernhagenhof, um das Ereignis des Jahres in Wort und 12

Bild festzuhalten. Fast zwei Stunden hatte sie dafür gebraucht. In dieser Zeit hatte er sich damit abgequält, die Küchendecke mit einer an einem Teleskopstab befestigten Malerrolle zu weißen. Sie hatten das Instrument vor ein paar Tagen nach einer unglaublich einfach aussehenden Demonstration eines kleinen, gedrungenen Malermeisters im RTLShop bestellt. Von wegen einfach. Er war zum Schluss völlig mit Farbe bekleckert, genau wie der Fußboden. Martha hatte nur müde über sein Äußeres gelächelt, als sie kurz vor Mitternacht zurückgekommen war. Statt ihn zu bedauern, hatte sie sich ein Glas Wein eingeschenkt und gestöhnt: »Es ist nicht zu fassen, da lassen sich über 500 gestandene Menschen von einer Band zudröhnen, die nicht einmal selbst Musik macht. Diese sogenannten Musiker bedienen lediglich die Computer hinter ihren Instrumenten, während vorne zwei Mädchen die Texte singen. Das ist nichts anderes als Karaoke – aber die hier nennen sich Showband und verlangen dafür ein Heidengeld. Und erst die Lieder! Schlimmer als auf dem Schützenfest! Aber wehe, ich schreibe das, dann dreht mir mein Chefredakteur den Hals um, schließlich organisiert er die ganze Veranstaltung zusammen mit seinen Lions-Freunden. Wie immer war er völlig begeistert von der tollen Stimmung im Saal – und nichts anderes möchte er Montag in der Zeitung lesen, untermalt von einem stimmungsvollen Bild der gerammelt vollen Tanzfläche. Genau wie letztes Jahr und die Jahre vorher!« Damit würde es dieses Mal nichts. Die junge Frau mit dem engelsgleichen Gesicht im Gebüsch würde für andere Schlagzeilen sorgen. ❋

13

Die Tür öffnete sich langsam und durch den Luftzug wirbelten die aus der Zeitung ausgeschnittenen Buchstaben auf. »Verdammte Scheiße!«, rief der junge Mann mit den dunklen Locken und sein eher sanftmütiges Gesicht bekam einen ungewohnt wilden Gesichtsausdruck, »schließ die Tür!« »Tut mir leid, Jonas!«, murmelte Cora, die schnell in den von einer Schreibtischlampe erhellten Raum ihrer Parterrewohnung geschlüpft war. Sie hielt eine Thermoskanne in der Hand. »Es ist kalt hier, möchtest du einen Schluck Tee?« »Jetzt nicht!«, brummte er abweisend und drehte ihr weiter den Rücken zu, »vielleicht, wenn ich fertig bin!« Das kleine, zierliche Mädchen mit den hennaroten, strähnigen Haaren stand unschlüssig im Halbdunkel. Dann verließ sie den Raum mit hängenden Schultern. Jonas hörte ihre leisen Schritte auf dem knarrenden Dielenboden ihres Gemeinschaftsflures. Er atmete tief ein und strich sich die dunkle Locke, die in seine Stirn gerutscht war, zur Seite. Er hatte absolut keine Lust, Coras Fragen zu beantworten. Was hast du gemacht? Wo bist du gewesen? Warum hast du mich nicht abgeholt? Er hasste diese Ausfragerei. Das hatte er ihr erst letzten Monat ins Gesicht gesagt. »Wo bist du gewesen?«, hatte sie gefragt, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. Zweimal! Verdammte Scheiße! Was sollte das? Solche kleinbürgerlichen Verhältnisse hatte er nie gewollt! »Unter einer Wohngemeinschaft stelle ich mir etwas ganz anderes vor!«, hatte er sie angeraunzt – und sie hatte verlegen auf den Boden geschaut und leise »Entschuldigung« gemurmelt. Er seufzte und klebte vorsichtig den nächsten Buchsta14

ben auf. Das rote O machte sich gut zwischen dem schwarzen T und dem blauen D. ❋

»Gegen zwei Uhr nachts wurde die Tote auf dem Parkplatz gefunden. Hier.« Borgfeld zeigte auf den schwarzen Mercedes, der neben den Büschen stand. »Das Ehepaar Gerstenhuber wollte nach Hause und hat sie beim Einsteigen ins Auto entdeckt!« Max Beckmann zog die rechte Augenbraue hoch. Gerstenhuber. Ausgerechnet der! Er konnte sich gut an das verkniffene Gesicht dieses bärbeißigen Tiefbauunternehmers erinnern. Gerstenhuber hatte ihn bei der Aufklärung des Todes von Bürgermeister Leibelt an den Rand der Verzweiflung getrieben. Das würde sicher ein freudiges Wiedersehen! »Vielleicht hat Streuwald bereits etwas herausgefunden!«, seufzte Borgfeld und Beckmann war klar, dass sein Kollege darauf hoffte, dass es eine einfache Erklärung für alles gäbe. Am liebsten wäre es ihm, wenn Streuwald einen Zeugen gefunden hätte, der mit dem Zeigefinger auf den Täter zeigte. Das würde allen eine Menge Arbeit ersparen. Borgfeld blieb neben den rot-weiß gestreiften Absperrbändern stehen, um auf die Spurensicherung zu warten, während Beckmann sich nachdenklich auf den Weg nach drinnen machte. Nach ein paar Metern blieb er stehen, drehte sich um und ließ den Tatort aus der Distanz auf sich wirken. Was hatte sich unter diesen Linden und zwischen den parkenden Autos abgespielt? 15

Er fixierte die alte Linde am Rande des Parkplatzes und lauschte auf das Rascheln der Blätter. Langsam ließ er seinen Blick wandern. Der sonst spärlich beleuchtete Schotterparkplatz, der jetzt von eilig herbeigeholten Theaterstandleuchten hell ausgeleuchtet wurde, war in Form eines Karrees hinter der Scheune angelegt. Es gab nur eine Zufahrt, direkt neben dem ehemaligen Wohnhaus, die jedes Fahrzeug beim Verlassen passieren musste. Das machte die Sache nach vorne hinaus einfacher. Und hinten? Beckmann drehte sich um und kniff die Augen zusammen. Hinter den nicht mehr lückenlos parkenden Autos war der Rand der Parkfläche mit Buschwerk bepflanzt. Dort hätte sich gut jemand verstecken können. Genau wie am Teich und im Sumpf, der sich dahinter befand und im Dunkel kaum auszumachen war. Das Quaken der Frösche durchbrach das unterschwellige Ächzen und Heulen der selbst jetzt dicht befahrenen Autobahn. Keinen Kilometer entfernt schlängelten sich die Lichter der Fahrzeuge gleichmäßig wie ein riesiger Wurm nach Norden und Süden. Sie und die auf hohen Säulen stehenden, hell erleuchteten Reklameschilder im Industriegebiet Burgwedels waren die einzigen Lichtpunkte in dieser mondlosen Nacht. Beckmann betrat den roten Backsteinbau des frisch renovierten Kulturzentrums. Er wählte nicht die große Tür im gläsernen Eingangsfoyer auf der Vorderseite, sondern die Abkürzung durch den sonst verschlossenen Notausgang auf der Parkplatzseite. Davor hatte man ein quadratisches, weißes Zelt aufgebaut. Der Stoff der rechten Seitenwand war in Falten zusammengeschoben und gab den Blick auf eine transportable Küchenzeile frei. Berge schmutzigen Geschirrs, 16

wohin man sah. Doch niemand war da, um Teller und Besteck in die Plastikboxen des Partyservices zurückzustellen. Neben den Stapeln leerer Kisten standen zwei große, kräftige Männer der freiwilligen Feuerwehr in ihrer dunkelblauen Ausgehuniform, der sogenannten ersten Garnitur. Sie lüpften kurz die gleichfarbigen Schirmmützen mit den mittig aufgesetzten Emblemen, die Beckmann ohne Brille nicht genau erkennen konnte, und nickten ihm mit herausgestreckter Brust und ernstem Gesichtsausdruck zu. Offenbar erwarteten sie, dass er das Wort an sie richtete. Max Beckmann grüßte mit einer angedeuteten Kopfbewegung und verzichtete darauf, sie näher zu befragen. Das konnte warten. Erst einmal wollte er zu Walter Streuwald. Schließlich war das nicht sein Fall, es war nur eine freundschaftliche Unterstützung seiner beiden Kollegen. Er ging durch die geöffnete Noteingangstür und betrat die mit Birkengrün geschmückte ehemalige Scheune, an deren weißen Wänden lila-gelbe Banner der Lions aufgehängt waren. 200 Menschen, denen die Lust auf den Maitanz vergangen war, standen betreten schweigend zwischen den Balken des hell erleuchteten Raumes. Einige palaverten mit schwerer Zunge an der langen, eigens für diesen Abend aufgebauten Theke lauthals über das Geschehen, andere saßen an den in Reihen aufgestellten Bierzeltgarnituren und starrten in Beckmanns Richtung. Hochrote Köpfe wechselten sich mit leichenblassen ab, von verschmierter Wimperntusche umrandete Augen musterten ihn misstrauisch, grellrote Münder kräuselten ärgerlich die Lippen und formten leise Flüche, weil sie nach Hause wollten. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. 17

Nach bekannten Gesichtern suchend, entdeckte Beckmann als erstes Trixi, Marthas Kollegin, die ihm aufgeregt zuwinkte und ihm einen ihrer schmachtvollen Blicke zuwarf, mit dem sie ihn seit Beginn ihrer Bekanntschaft verfolgte. Beatrix Wacker, von allen Trixi genannt, kümmerte sich bei der Landkreisausgabe des Hannoverschen Anzeigers um die Anzeigen und durfte sich einmal in der Woche unter der Rubrik »Leute von heute und morgen« über den Klatsch und Tratsch von Burgdorf, Altwarmbüchen, Burgwedel, Isernhagen und den eingemeindeten Dörfern auslassen. Sie würde einiges von dem heutigen Abend zu berichten haben, war sich Beckmann sicher. Trixi hatte ihre Augen und Ohren immer überall. Max Beckmann nickte ihr zu, dann sah er sich weiter um. Hinter der Theke entdeckte er den kleinwüchsigen Dieter Blum in einer roten Trachtenjacke, die dem sonst stets im grauen Anzug gekleideten Sparkassendirektor eine ungewohnt sportliche Note geben sollte. Auf Beckmann wirkte dieser Aufzug eher befremdlich, zumal der fast kahlköpfige Blum wie immer seine Zähne fletschte, als wenn er gleich zubeißen wollte. Neben ihm stützte sich Berkhoff, zurzeit kommissarischer Bürgermeister von Burgdorf, müde ab. Sein Gesicht hatte eine fahle Blässe, die Beckmann schon aufgefallen war, als er ihn vor Monaten das erste Mal in seinem Amtszimmer im Rathaus besucht hatte. Ein paar Schritte weiter entdeckte er den bärtigen Anton Bierbaum, den verschlossenen Wirt des Dorfkrugs. Er hatte seinen Arm um eine junge rothaarige Frau gelegt, die Beckmann bekannt vorkam. Er musterte sie genauer, konnte sie aber trotzdem nicht einordnen.

18

An einem der Tische saß Marthas Chefredakteur Mittenwald, der nervös eine Zigarre in seinen Händen drehte. Der Wunsch, sie anzuzünden, stand ihm ins Gesicht geschrieben, aber die Selbstdisziplin war stärker. Oder die seiner Frau. Die kräftige Dame neben ihm, die ihm beruhigend die Hand auf den Arm legte, musste seine Gattin sein. Beckmann hatte sie bislang noch nicht kennengelernt, da er einen Bogen um die offiziellen Termine machte, die Martha beruflich wahrnehmen musste. Plötzlich polterte es laut auf der Bühne und alle drehten sich um. Drei verschwitzte Männer Anfang vierzig schoben zwei mannsgroße schwarze Verstärker zur Seite. Ihre lässig über den hautengen schwarzen Hosen getragenen roten Hemden waren mit riesigen Volants verziert, die bei jeder Bewegung auf und ab wippten, genau wie die langen Haare, die ihnen ins Gesicht fielen. Einer von ihnen hob den Lautsprecher an, der andere stand mit einer Sackkarre vor ihm. »Schieb das Ding …!« Weiter kam er nicht. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie alles stehen lassen sollen!«, brüllte im nächsten Moment ein aufgebrachter Streuwald mit hochrotem Kopf und stürzte in seiner Uniform, der entschieden die Eleganz der ersten Garnitur der Feuerwehrleute fehlte, zu den vier Männern auf die Bühne. »Halten Sie sich an meine Anweisungen, nichts darf hier verändert werden, bevor die Spurensicherung hier war und die Kollegen aus Hannover Ihnen Bescheid sagen, dass sie abräumen können. Haben Sie das jetzt endlich verstanden?« Ohne die drei Musiker der »Los Muchachos« eines weiteren Blickes zu würdigen, ging Streuwald mit straff nach hinten gedrückten Schultern schnellen Schrittes wieder die drei Stu19

fen von der Bühne herunter. In diesem Moment entdeckte er Beckmann zwischen den Fachwerkstützen. Während er auf ihn zueilte, erhellte sich seine bedrückte Miene. Mit dem rechten Handrücken wischte er sich erleichtert den Schweiß von der hochroten Stirn, die im Kontrast zu seinen hellen rotblonden Haaren stand. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind! Wir wollten keine Fehler machen und jede Minute zählt doch in so einem Fall!«, er atmete tief ein. »Das ist hier vielleicht ein Chaos, die Leute sind müde, manche ganz schön angetrunken, die wollen nach Hause. Ich habe gesagt, dass das nicht geht, doch die Herrschaften lassen sich von mir nichts sagen. Die …«, er machte eine verschwörerische Kopfbewegung in den Saal, »die glauben alle, dass sie etwas Besseres sind, dass sie eine Sonderbehandlung bekommen müssen. Alle sind unglaublich wichtig. Der kommissarische Bürgermeister aus Burgdorf ist da, der Leiter des Gymnasiums aus Burgwedel, mein Hausarzt, der Sparkassendirektor …« »Ich weiß, einige habe ich schon gesehen!« »Aber es sind noch mehr da!«, zischte Streuwald, auf dessen Stirn erneut Schweißperlen standen. »Der Präsident vom Hannoverschen Sportclub, ein paar Bundesligaspieler, der Landtagsabgeordnete Fleischer aus Hannover, sogar ein Politiker aus Brüssel. Der Sänger Peer Meer und …« »Dann wollen wir die Leute nicht unnötig hier festhalten. Was haben Sie bislang herausgefunden?« Walter Streuwald lächelte zum ersten Mal, sichtlich erfreut, Bericht erstatten zu können, statt Entscheidungen zu treffen. »Gerstenhuber und seine Frau wollten gegen zwei Uhr nachts mit dem Auto nach Hause fahren. Ich habe mit den beiden gesprochen, bevor es diesen Krach auf der Bühne gab. Sie sind 20

zusammen zu dem Parkplatz gegangen und haben in den Büschen neben ihrem Auto die Tote gefunden. Sie sind anschließend zurück in den Saal gelaufen und haben an der Theke Bescheid gesagt. Einer von denen hat uns angerufen. Wir sind sofort gekommen und haben großräumig abgesperrt. Das hat keine zehn Minuten gedauert. Als wir gesehen haben, wer alles auf dieser Feier ist, haben wir Alarm in Hannover geschlagen. Borgfeld hatte die Idee, dass wir außerdem Ihnen Bescheid sagen, schließlich sind Sie vor Ort und wer weiß, was alles passiert, bis die Mordbereitschaft da ist!« Streuwald holte tief Luft, und als wollte er zeigen, dass er aus dem letzten Fall viel gelernt hatte, ergänzte er: »Gerstenhubers haben draußen niemanden gesehen, auch sonst hat keiner das Verschwinden der jungen Frau bemerkt. Da habe ich schon nachgefragt!« Beckmann nickte ihm anerkennend zu, konnte seine Enttäuschung aber nicht verbergen. Das sah nicht nach einer schnellen Sache aus. Sein Blick glitt langsam über die Gesichter der Anwesenden. Da half wohl alles nichts, er musste sich jeden Einzelnen vornehmen. Nein, nicht er, man musste sich jeden Einzelnen vornehmen. Er war nur zur ersten Hilfe hier. ❋

Natürlich fuhr Martha zum Isernhagenhof, um zu sehen, was passiert war. Die Frage, ob es journalistisches Pflichtgefühl oder eher Neugierde war, die sie umtrieb, hätte sie nicht genau beantworten können. Wahrscheinlich lagen ihre Beweggründe irgendwo in der Mitte, schließlich hatte sie am frühen Abend alle wichtigen Leute des Ortes oder zumindest 21

die, die sich dafür hielten, in ausgesprochener Feierlaune trinken, essen und tanzen gesehen. Nach wenigen Minuten parkte sie direkt neben dem Kiosk vor dem Kulturzentrum und eilte mit schnellen Schritten durch das Bogentor der ehemaligen Hofzufahrt auf den Vorhof der Scheune, der hell erleuchtet war. Sie machte einen Schlenker nach links zum Parkplatz und sah schon von weitem Borgfeld an den Absperrbändern stehen. Martha erkannte die Tote sofort. Sie hatte die junge Frau mit dem zarten Gesicht, das von großen, strahlend blauen Augen beherrscht wurde, im letzten Herbst beim Auftaktfest des Oktobermarktes in der alten Rotation ihrer Zeitung in Burgdorf kennengelernt. Ihr stilvolles Auftreten im kleinen Schwarzen, ihre am Hinterkopf mit goldenen Nadeln festgesteckten blonden Locken waren ihr aufgefallen – und sie hatte sich gefragt, wen diese engelsgleiche Erscheinung mit dem üppigen Busen begleitete, wessen Geliebte oder Ehefrau sie war. Umso überraschter war Martha, als ihr die junge Frau als Sprecherin bei Radio 99 vorgestellt wurde, dem quotenstarken Radiosender, der an der Hauptstraße in Isernhagen seinen Sitz in einer alten Fabrikantenvilla hatte. Manuela Winter moderierte dort das Frühstücksradio. Martha hatte sie neugierig gemustert. Trixi meinte später, Martha hätte vor Staunen mit offenem Mund dagestanden, als Manuela ihr vorgestellt wurde. Es war eine doppelte Überraschung gewesen. Nicht nur, dass sie die Mischung von Grace Kelly und Pamela Anderson irritierte und zu Vorurteilen verleitete, sie hatte diese Manuela auch schon manches Mal in einer Radiosendung am frühen Morgen zusammen mit einem jungen Mann herumalbern gehört, sich jedoch einen ganz anderen 22

Menschen zu dieser Stimme vorgestellt: keinen eleganten, sondern eher einen jugendlich, flippigen Typ. Manuela Winter war ihr aufgefallen, zweifelsohne, und sie hatte sie als aufmerksame, zielstrebige Person in Erinnerung behalten. Bei den Gesprächen jenes Abends hatte sie sich stets in den Mittelpunkt geschoben, ohne dass die Männer um sie herum das überhaupt bemerkt hätten. Manuela Winter hatte mit ihren langen Wimpern geklimpert, ein strahlendes Lächeln zu ihrem Gesprächspartner geschickt und scheinbar verlegen die Augenlider gesenkt, aber nur, um im nächsten Moment mit einem Anliegen zu kommen. Undeutlich erinnerte Martha sich daran, dass ihr die junge Frau gestern ein paar Mal inmitten der Tanzenden aufgefallen war. Sie hatte sich gewundert, dass sie so geistesabwesend wirkte, sich aber nicht darum gekümmert, schließlich kannten sie sich nicht näher. Martha Landeck betrat die Scheune genau wie Max Beckmann von hinten durch das Küchenzelt und war für einen Moment von dem grellen Licht geblendet. Sie lehnte sich an die Wand und beobachtete die erstarrten Gesichter der Menschen, die vor ein paar Stunden fröhlich gefeiert hatten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes – beim Durchgang zum Glasfoyer – entdeckte sie den Mann, mit dem sie vor wenigen Minuten noch unter einer Bettdecke gelegen hatte. Zusammen mit Streuwald, Borgfeld und zwei Männern der Mordbereitschaft verhörte er die Anwesenden. Sie wollte ihn nicht stören und blieb neben dem Notausgang stehen. Neben ihr starrte eine verheulte junge Frau mit streichholzlangen braunen Haaren durch die zur Seite gezogenen Planen nach draußen. Die Tote wurde gerade vom Gerichtsmedizi23

ner untersucht. Martha reichte ihr wortlos ein Paket Papiertaschentücher. »Danke!«, murmelte die junge Frau und schnäuzte sich kräftig die Nase. »Kannten Sie die Tote näher?« Die mit Wimperntusche verschmierten Augen, die den gleichen kräftigen Braunton wie ihre Haare hatten, musterten Martha misstrauisch. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Martha, Martha Landeck«, murmelte die Journalistin mit einem freundlichen Lächeln, als wenn sie durch diese Vorstellung eine Berechtigung zum Fragen hätte. Die braunen Augen sahen sie skeptisch an, mehrere müde Wimpernschläge folgten, bevor sie den Mund öffnete. »Mein Name ist Verena Seiters«, flüsterte die junge Frau, die einen tiefen Seufzer ausstieß und sich erneut die Nase schnäuzte. Sie blickte Martha in die Augen, aber ihr Misstrauen schien verflogen zu sein. »Kennen ist gut! Wir waren seit dem Kindergarten befreundet und haben alles gemeinsam gemacht. Wir wohnen zusammen«, sie schluchzte auf, »wohnten!« Sie hielt sich die Hände vor die Augen und ihr zierlicher Körper bebte. »Ich kann es gar nicht glauben, sie war gerade noch da, lebhaft und lebendig wie immer und jetzt …, Sie können sich das nicht vorstellen, man muss sie gekannt haben, sie war …!« »Stimmt, sie war anders als die meisten Menschen!«, pflichtete ihr Martha bei und erzählte von ihrer kurzen Begegnung mit Manuela im letzten Herbst. Ein flüchtiges Lächeln glitt über das jungenhafte Gesicht der Freundin. »Manuela hat mir von diesem Abend erzählt. Sie kam ganz stolz nach Hause, weil sie endlich Peer Meer ken24

nengelernt und ihm sogar einen Interviewtermin aus dem Kreuz geleiert hatte. Das war für sie ganz wichtig, denn sie wollte sich um den frei werdenden Platz bei der Programmgestaltung bewerben. Redakteurin war ihr nächstes Ziel und ihre Aussichten stiegen und stiegen«, murmelte Verena. »Jetzt ist es aus mit dem Traum von der Programmdirektorin!« »Ist Ihnen heute etwas Besonderes aufgefallen?«, fragte Martha und streckte ihr erneut das Paket mit den Papiertaschentüchern entgegen. »Alles war wie immer, wenn sie ausging. Sie war überall und nirgends. An der Theke, auf der Tanzfläche, an der Cocktailbar. Auf einen Sack Flöhe aufzupassen, ist leichter, hat meine Mutter früher immer gesagt, wenn wir zusammen etwas unternommen haben.« Verena rieb mit dem Handrücken an ihrer Nasenspitze. »Heute Abend war sie ständig unterwegs – und kaum stellte sie sich zu einer Gruppe, hatte sie ein Glas in der Hand. Sie war so schön, so fröhlich, stand immer im Mittelpunkt!« Martha meinte, einen Anflug von Neid aus diesen Worten herauszuhören. Aber vielleicht war es auch Bewunderung. »Mit wem war sie heute Abend hier?« »Mit mir!« »Hatte sie keinen festen Freund?« Verena verzog das Gesicht und deutete mit dem Kopf zur Theke. »Doch«, kam es gedehnt aus ihrem Mund. »Klaus Peter, der da hinten mit den dunklen Haaren.« Martha musterte den auf jugendlich getrimmten Mann, der deutlich über fünfzig sein musste. »Ging das schon lange?« »Mehr als ein Jahr. Ungewöhnlich lange für Manuela, aber ich glaube, in letzter Zeit hat sie die Lust an ihm verloren.« 25

»Wieso?« Verena zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, sie tat geheimnisvoll und kicherte dauernd am Telefon. Außerdem fing sie wieder an, sich meine Sachen aus dem Kleiderschrank zu mopsen und nicht nur diese Kleider für ältere Damen zu tragen, die ihr Klaus Peter immer andrehte!« »Hat sie heute Abend mit jemandem besonders intensiv geredet oder getanzt?« »Sie stand mit vielen herum. Mit Freddy, Thomas, Victor, das sind ein paar Jungs vom Sender. Dann war da so ein junger Typ mit dunklen Locken, den kannte ich nicht. Wahrscheinlich ein Praktikant, die haben da ständig Neue. Mit Peer Meer hat sie lange getanzt und mit dem Fleck, aber mit dem nur kurz.« »Und mit diesem Klaus Peter?« Verena schüttelte den Kopf. Ihr linker Mundwinkel zuckte allerdings seltsam verzerrt, als wenn sie sich etwas verkniff. Aber vielleicht täuschte Martha sich. ❋

Jonas fegte die übrig gebliebenen Buchstaben mit der Hand in eine Papiertüte. Er würde sie verbrennen. Am besten gleich. Es durften später keine Beweise gefunden werden, Mario hatte es ihm immer wieder eingeschärft. Keine noch so kleine Nachlässigkeit durften sie sich erlauben, hatte er gemeint. Dieses Mal war alles perfekt vorbereitet. Alles würde ganz einfach sein. Aber das hatte Mario schon manches Mal gesagt – und dann war alles ganz anders gekommen. Jonas musste nur an die Aktion auf den Versuchsfeldern der gentechnisch manipulierten Zuckerrüben im letzten Frühjahr 26

denken. Alles ganz easy, hatte Mario getönt. Von wegen. Sie standen mit den Zelten und den Transparenten im Matsch der völlig verregneten Felder von Saatgut. Und nicht nur das! Plötzlich kam ein Sturm auf und riss die Transparente von den Latten, auf die sie genagelt waren. Wenn Manu nicht mit ihrem Team von Radio 99 gekommen wäre, hätte überhaupt niemand etwas von dieser Aktion erfahren. Alles wäre einfach im Dreck und Sumpf versunken. Manu. Zum Glück war sie gekommen. Wieder sah er ihre hellen Augen und die vollen Brüste, die sich unter ihrer engen Bluse abzeichneten, vor sich. Warum hatte sie ihn heute …? Nein, er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Stattdessen zündete er ein Streichholz an und hielt es an die Papiertüte. Sofort loderte eine gelbblaue Flamme auf. Bevor er sich die Finger verbrannte, stopfte er sie in den alten Kanonenofen, der unbenutzt in der Zimmerecke stand, und verriegelte die Tür. ❋

Marthas weißer Smart glitt mit Tempo 120 über die leere Moorautobahn Richtung Hannover. Am Weidetorkreisel verließ sie die Stadtautobahn und Verena Seiters, die wie ein Häufchen Unglück neben ihr saß, schnäuzte sich geräuschvoll die Nase und richtete sich das erste Mal, seit sie Marthas Angebot, sie nach Hause zu fahren, angenommen hatte, auf. »Kommen Sie mit mir rauf? Ich kann uns einen Kaffee kochen. Oder einen Tee!« Martha war sich nicht sicher, ob es nur Mitleid mit dieser zerbrechlich wirkenden Frau war oder eher die Erinnerung an jenen Abend, als die Polizisten an ihrer eigenen Tür gestanden 27

und sie über den tragischen Unfalltod von Paul, ihrem zweiten Ehemann, informiert hatten. Damals war alles um sie herum zusammengebrochen. Sie hatte das Gefühl gehabt, die Wände über ihr würden einstürzen und sie begraben. Aber nichts dergleichen war passiert. Es hat allerdings Monate gedauert, bis sich die bleierne Schwere, die sich wie eine Zange um sie gelegt hatte, langsam gelöst und sie ihre Umgebung wieder hatte wahrnehmen können. Der Umzug in ihre alte Heimat und die Arbeit bei der Lokalredaktion des Hannoverschen Anzeigers waren dazu ein wesentlicher Schritt gewesen. Die eigentliche Rückkehr ins Leben hatte jedoch erst nach der Begegnung mit Max Beckmann stattgefunden. Jetzt war sie bereit, wieder Pläne zu schmieden und an eine Zukunft zu glauben, sogar an eine mit ihm. Wenn es nach ihr ginge, würde er zu ihr in das alte Backhaus ihrer Großeltern in Isernhagen einziehen, das sie gerade renovierte. Wennschon – dennschon, war ihre Devise. Aber er zauderte – und irgendwie konnte sie das verstehen. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Martha hatte mittlerweile das Ende der Podbielskistraße erreicht, vor ihr lag der Lister Platz und sie bog rechts in die Ferdinand-Wallbrecht-Straße ein. »Bei der übernächsten Abzweigung links wohne ich, das Eckhaus dort!« Neben dem Müllcontainer vor dem Eingang war ausreichend Platz für einen quergestellten Smart. Verena schloss ein breites Tor auf. Sie schlängelten sich an links und rechts des Eingangs abgestellten Fahrrädern, einem Motorroller und zwei Kinderwagen vorbei und stiegen ein schmales Treppenhaus hinauf, dessen bis zur halben Höhe dunkelgrün gestrichene Wände Spuren von unsachgemäßen Möbeltransporten aufwiesen. 28

Außer Atem kam Martha in der fünften Etage an, während Verena keinerlei Schwäche zeigte. »Alles eine Frage der Übung!« Sie lächelte für einen kurzen Moment und schloss die Wohnungstür auf. »Das ist Manuelas Zimmer!« Verena deutete auf eine geöffnete Tür, die den Blick auf ein Zimmer freigab, in dem ein Chaos von herumliegenden Kleidungsstücken, Büchern, Heften und losen Blättern herrschte. Der Rest der Wohnung strahlte mit seinen ausgewählten Designermöbeln, von denen Martha einige vor kurzem in der Zeitschrift Schöner Wohnen bewundert hatte, eine gradlinige Wohnlichkeit aus, die durch kein herumliegendes Taschentuch gestört wurde. Verena registrierte Marthas erstaunten Blick. »Manuela ist – war in ihrer Arbeit sehr strukturiert, sehr zielorientiert, aber für die Dinge ihrer Umgebung hatte sie keinerlei Sinn. Da herrschte überall das reinste Chaos und das schien sie nicht einmal zu bemerken. Im Gegenteil, manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie es liebte, Dinge und Menschen um sich herum zu verstreuen und dann abzuwarten, was passieren würde! Ihr Zimmer räumte ich manchmal auf, bei den Menschen, die sie wie zusammengeknüllte Chipstüten liegen ließ, konnte ich ihr jedoch nicht helfen! Kaffee oder Tee?« »Ehrlich gesagt, ein Glas Wein wäre mir jetzt lieber!« »Mir auch, ich dachte nur, weil Sie fahren müssen.« »Ich war ja nicht auf der Feier, ich komme sozusagen direkt aus dem Tiefschlaf!« Verena holte eine angebrochene Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkte zwei Gläser ein. »Den hat Manuela geöffnet, bevor wir gegangen sind – um mit mir auf den Abend anzustoßen.« Tränen liefen aus ihren geröteten Augen, 29

aber sie redete trotzdem weiter. »Eigentlich wollte sie etwas früher losfahren, sie war mit irgendeinem Typen verabredet. Den Namen hat sie nicht genannt oder ich habe ihn vergessen. Sie hat …«, Verena überlegte einen Moment und runzelte dabei die Stirn, »… genau, sie hat etwas von einer Aktion gesagt. Der Typ gehört zu einer Umweltschutzgruppe. Die haben irgendetwas mit Tierversuchen zu tun und er wollte ihr etwas zeigen. Mehr weiß ich nicht. Manuela hat ein paar Andeutungen gemacht und ich habe nicht weiter nachgefragt. Auf jeden Fall hatte sie plötzlich keine Lust mehr auf dieses Treffen und sagte es kurzerhand ab. Per SMS. Sie wollte sich lieber mit mir auf den Abend einstimmen. Manuela meinte, dass das ein Abend für wichtige Entscheidungen sei, solche, die ihr Leben verändern würden. Da hätte sie keine Lust, sich vorher etwas über Tierfolter anzuhören!« Ein plötzlicher Weinkrampf schüttelte die junge Frau. Martha griff nach ihrer Hand und strich behutsam darüber, ohne etwas zu sagen. Nach einer Weile lächelte Verena sie müde an und hob ihr Glas. »Probieren Sie, der ist gut«, murmelte sie mit einem gequälten Lächeln. »Fleischer, der Landtagsabgeordnete, hat ihn vor ein paar Tagen vorbeigebracht. Persönlich!« Das fruchtige Aroma des Weins überraschte Martha und sie sah auf das Etikett. Wirsching. Vor Jahren war sie einmal mit Paul auf diesem Weingut gewesen, das unter Frankenweinkennern einen besonderen Ruf genießt. Ein edler Tropfen. Aber warum schleppte Fleischer diesen Wein bis in die fünfte Etage? Verena schien ihre Gedanken zu erraten. »Fleischer war Manuela einen Gefallen schuldig, deshalb kam er mit den Kisten vorbei.« 30